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Bohrstopp

Foto: Fritz Beck

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Anlässlich des 30. Jubiläums von SZ Jetzt holen wir einige Texte, die uns besonders im Gedächtnis geblieben sind, noch einmal aus dem Archiv hervor. Dieser ist einer davon.

Ich schreibe diesen Text mit frisch gewaschenen Händen. Mein Therapeut hat mir dazu geraten. „Jedes Mal, wenn der Drang zum Popeln kommt“, sagte er mir in seinem netten Therapeuten-Tonfall, „gehen Sie aufs Klo und nehmen ein Papiertaschentuch zum Bohren. Bohren Sie richtig tief. Schauen Sie sich dabei im Spiegel an. Dann die Hände waschen.“

Ziel der Übung sind nicht etwa saubere Hände. Das Ziel ist die Schikane. Verhaltenstherapeuten nennen das „die Kosten erhöhen“. Vom Schreibtisch aufstehen, Tür öffnen, Gang runter, ins Herrenklo, um dann vor dem Spiegel ein Papiertuch in die Nase zu stopfen: Das erhöht die Kosten für einmal kurz Nasebohren schon erheblich. Es soll mich nerven, das ist die Idee. Mein Laster muss lästig werden, damit ich es loswerde. Und, was soll ich sagen: Ich gehe ziemlich oft aufs Herrenklo in letzter Zeit.

„Die Kosten erhöhen“ ist ein Punkt auf einer Acht-Punkte-Liste, die der Therapeut Martin Wolf in seinem hell eingerichteten Sprechzimmer in der Münchner Innenstadt auf ein Flipchart geschrieben hat. Ein knappes Dutzend Methoden, um lästige Verhaltensmuster zu durchbrechen. Normalerweise wendet Martin Wolf die Methoden an, um Störungen wie Ordnungszwang oder zwanghaftes Stehlen zu beheben. Mein Problem hier überhaupt als Problem zu bezeichnen, ist natürlich ein bisschen lächerlich, aber ich habe nun mal keine schlimmere Angewohnheit, und diese nervt mich wirklich.

Fast jeder trägt ja irgendeine lästige Marotte von Kindheit und Jugend rüber ins Erwachsenenalter: das Nägelkauen, das Ohrenpopeln, das Lippenknibbeln, das Rauchen. Das macht die Frage, deretwegen ich in Wolfs Sprechzimmer sitze, ein bisschen größer: Wie wird man so lang gelebte Laster wieder los? Kann man sich etwas abgewöhnen, das man täglich tut, seit man den Zeigefinger bewegen kann? Und was fehlt einem dann?

Nasebohren ist eine äußerst glanzlose Angewohnheit für jeden, der älter als acht ist und Wert darauf legt, im Leben ernst genommen zu werden. Es gibt kaum Gewohnheiten, die weniger mehrheitsfähig sind. Wer in der Öffentlichkeit popelt, kann sich dort auch gleich die Fußnägel schneiden.

Gleichzeitig ist es ein Massenphänomen. In den Neunzigern veröffentlichten Forscher in Madison, Wisconsin, zum ersten Mal eine Studie zur Verbreitung des Nasebohrens. Sie fragten sich, ob exzessives „nose picking“ eine psychische Störung sei oder nur eine verpönte Gewohnheit, über die wenig geredet wird. Von 1000 Befragten erklärten sich 91 Prozent zu „current nose pickers“. Exzessiv bohrte nur ein Bruchteil von 1,2 Prozent. Ich befürchte, dass ich zu dem gehöre.

91 Prozent der Erwachsenen tun es. Sogar der Bundestrainer. Warum ist Popeln trotzdem verpönt?

Martin Wolf ist ein Therapeut mit Lachfalten, grauem Fünftagebart und Turnschuhen. An einem Vormittag im August sitze ich also zum ersten Mal in seinem Sprechzimmer und rede über das Bohren. Ich will es endlich professionell angehen.

Seit ich mich erinnere, bin ich Nasenbohrer. Im Haus meiner Eltern hängt ein Urlaubsfoto, darauf sieht man mich als Sechsjährigen. Ich sitze am Rand des Grand Canyon und lese ein Kinderbuch. Der eine Zeigefinger steckt in einem Mullverband, weil ich mich am Tag zuvor beim Schnitzen geschnitten habe. Der andere Zeigefinger steckt: genau.

Ich meditiere nicht. Ich bohre stattdessen in der Nase. Es hilft, wenn ich gestresst bin, wenn ich auf einem Gedanken herumkaue, wenn ich unschlüssig oder gelangweilt bin. Ich bohre also vor allem am Schreibtisch, beim Nachdenken, beim Schreiben, im Nachmittagstief oder im Stress vor einer Abgabe. Bundestrainer Jogi Löw ist mittlerweile berühmt dafür, in nervenzerreißenden Momenten auf der Trainerbank den Finger durch die Nase zu pflügen (sein Assistent Hansi Flick kaut in diesen Momenten lieber Nägel). Ich kann Jogi Löw verstehen.

Um eine gewöhnliche Phobie loszuwerden, sind 25 Sitzungen veranschlagt. Für mich müssen zwei reichen, denn die Krankenkasse findet Nasebohren nicht therapiepflichtig, und außerdem: Ich bin ja stark. Das Rauchen habe ich mir mit Anfang 20 noch abgewöhnt, bevor ich es richtig angefangen hatte. Seither belächle ich Freunde, die zum siebten Mal verkünden, dass sie das Rauchen aufhören, und es kurz darauf zum achten Mal wieder anfangen. Erwachsensein heißt doch schließlich: endlich Kontrolle haben über sein Leben. Dachte ich. Nach zwei Monaten Popel-Therapie denke ich da anders.

Die Freundin lacht, die Kollegen lachen – der Druck von außen ist da

Die Analyse des Therapeuten: Ich habe keine Zwangsstörung. Ich habe auch keinen „Leidensdruck“, wie ihn etwa jemand verspürt, der zwei Stunden lang Herdplatten überprüfen und Lichtschalter umlegen muss, bevor er die Wohnung verlassen kann. Mir ist meine Angewohnheit unangenehm, aber ich leide nicht. Seine Anweisung: Zunächst den „Trigger“ ausschalten, also: die Nase freihalten, täglich Nasendusche und Spray, gerne auch Öle und Salben. Dann: den „Rubikon-Moment“ planen. Den Tag, an dem Schluss ist. Am besten alle Kollegen und Freunde einweihen. „Das erhöht den Druck von außen und hilft, den eigenen Entschluss zu festigen“, sagt er. Drittens: nachsichtig sein, wenn’s doch einen Rückfall gibt.

Ich stelle mir eine Schachtel Kleenex auf den Schreibtisch, besorge mir eine Nasendusche und Meerwasserspray. Ich erzähle Bürokollegen und Freunden von dem großen Tag. Meine Freundin lacht, meine Kollegen lachen, meine Schwester lacht. Der Druck von außen ist da.

Zweieinhalb Wochen läuft es gut. Ich reinige jeden Morgen meine Nase mit der Nasendusche, was den Bohrdrang tatsächlich abschwächt, aber leider dafür sorgt, dass die Nase sich noch zwei Stunden später in eine Gießkanne verwandelt, wenn ich mich zum Drucker bücke, um Papier nachzulegen. Das vorbeugende Schnäuzen, stelle ich außerdem fest, hat nicht den gleichen Effekt wie das händische Popeln. Ich bin nervöser, kitzliger als sonst. Ich rümpfe ständig die Nase.

Ich besuche Professor Alexander Berghaus, den Direktor der Hals-Nasen-Ohren-Abteilung der Münchner Universitätsklinik. Sein erster Satz : „Nasebohren ist doch was Vernünftiges!“ Uff. Er erklärt, was Popel genau sind: Staubpartikel vermischt mit getrocknetem Nasensekret. Er sagt, dass die Nase die „Klimaanlage“ des Menschen ist: Sie filtert, wärmt, kühlt und befeuchtet die Atemluft, die Schleimhaut hätte glattgebügelt die Fläche eines Fußballfelds. Er weiß auch, warum Nasepopeln glücklich macht: „Der Mensch ist sehr empfindlich, wenn etwas den Luftstrom in der Nase stört. Die Störung muss möglichst schnell behoben werden. Natürlich sieht das doof aus. Aber unser Finger ist nun mal das ideale Werkzeug, um Popel zu entfernen.“

Und spätestens da wird mir klar, dass ich das nicht schaffen werde: dauerhaft das Nasebohren sein zu lassen. Gar nicht schaffen kann! Und warum es ignorant von mir ist, meine Freunde für Schwächlinge zu halten, wenn sie zum achten und bestimmt auch noch zum vierzehnten Mal das Rauchen aufhören. Eine Gewohnheit dauerhaft zu ändern setzt voraus, dass das neue Verhalten so starke Vorteile hat, dass sie das alte locker überstrahlen. Den Schnuller legen Kinder weg, wenn sie merken, dass man ihnen dann zuhört. Das Rauchen hören Leute auf, wenn sie deshalb krank werden. Aber der Vorteil, seltener angeschaut zu werden wie ein Trottel, wiegt leider nichts gegen das Instant-Wellnessgefühl, das mir das Bohren verschafft. Vielleicht sprechen Herr Wolf und ich uns noch mal, wenn ich 40 bin.

Inzwischen gehe ich zweimal am Tag zum Schnäuzen. Mehr „Trigger ausschalten“ und „Kosten erhöhen“ will ich nicht. Ich halte es wie Jogi Löw. Dem ist es offensichtlich einfach wurscht, dass die Welt ihn beim Popeln beobachtet. Vermutlich ist er auch deshalb Weltmeister.

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