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Die Romantik der zufälligen ersten Begegnung.

Text: TextTrulla

Er wollte zwischen 13 und 15 Uhr vorbeikommen. Sie hatte staubgesaugt und aufgeräumt, sogar das Schuhregal im Flur neu sortiert: die Sandalen und Ballerinas waren in Schuhkartons unter dem Bett verschwunden, die Schnürschuhe und Stiefel standen nun ordentlich aufgereiht in drei Etagen übereinander. Einen Schuhtick hatte sie eigentlich nicht, aber es gibt nun mal nicht das eine Paar, das zu allem passt. Das müsste man mal erfinden, man würde reich werden. Oder auch nicht, weil ja jeder nur ein Paar davon kaufen würde. Wobei...wenn ganz Deutschland...also 80 Millionen mal – sagen wir 100 Euro? Sollen ja auch halten. Dann hätte man 8 Milliarden Euro Umsatz! Aber was wäre der Gewinn? Und überhaupt, man müsste natürlich die Kinder raus rechnen, deren Füße wachsen ja noch, da kauft man natürlich eher mal billige Schuhe oder welche vom Flohmarkt, wobei man da mit Schuhen aufpassen soll, weil die Füße sonst krumm wachsen oder so ähnlich. Genau wusste sie das nicht, sie hatte nämlich keine Kinder.

Um 12:50 Uhr setzte sie Kaffee auf. Sie wusste gar nicht, ob er Kaffee trank, aber sie wollte zumindest welchen anbieten können, alles andere wäre doch unhöflich. Auf dem Tisch standen Lebkuchen, die ersten dieses Jahr. Viele Menschen stört es ja, dass im September, oder manchmal sogar Ende August schon Weihnachtssüßigkeiten im Supermarkt stehen. Aber sie mochte Lebkuchen und es würde ihr auch nichts ausmachen, gäbe es sie das ganze Jahr über zu kaufen. Sie könnte sich sogar vorstellen, im Sommer welche mit ins Freibad zu nehmen, wenn es nicht gerade die mit Schokoladenüberzug waren. Allerdings, überlegte sie, war es natürlich möglich, dass Lebkuchen nur deshalb so gut schmeckten, weil man sie eben nicht immer bekam. Vielleicht würde sie sich dieses Jahr einfach mal einen Vorrat anlegen und ausprobieren, ob sie der Lebkuchen irgendwann überdrüssig würde. Die hielten sich doch, oder? Eigentlich hatte sie ja vorgehabt, für heute einen Kuchen zu backen. Aber dann hatte sie gedacht, dass das vielleicht etwas übertrieben sein könnte. Sie wollte ihn nicht verschrecken.



Um 13:15 Uhr war er immer noch nicht da. Sie stand am Fenster und hielt nach ihm Ausschau, aber es war überhaupt niemand zu sehen. Draußen war Mistwetter, der Regen klatschte an ihr Fenster und ließ sie zweifeln. Was, wenn er heute doch nicht kommen würde? Was, wenn er dem Aquaplaning zum Opfer gefallen war? Oder sein Fenster einen Spalt offen gelassen hatte und nun der Fahrersitz  durchweicht war? Was machte man denn in so einem Fall? Einfach trocknen lassen? Den Föhn rausholen? Aber das geht ja auch erst, wenn es nicht mehr regnet, sonst kriegt man einen Schlag. Es sei denn, man hat eine Garage. Ob er eine Garage hatte? Sie goss sich schon mal einen Becher Kaffee ein, die Kanne war sowieso viel zu voll. Sie trank ihn schwarz mit Zucker, weil sie mal gelesen hatte, dass richtiger Kaffee so gehört, zumindest da, wo Kaffee herkommt. Wo hatte das denn noch gestanden? Wahrscheinlich in einer dieser Frauenzeitschriften, die sie früher so viel gekauft hat, bis ihr mal aufgefallen ist, dass da immer nur das Gleiche drin steht. Außerdem führte sie damals eine Beziehung zu einem Mann, der sich sehr für Politik interessierte und irgendwann darüber beschwerte, dass man sich mit ihr über nichts Wichtiges unterhalten könne. Seitdem las sie Zeitung. Das ist schon ziemlich lange her und der Mann heute der Mann einer Anderen, aber sie ist dabei geblieben. Obwohl es ihr schon oft Angst macht, was da so drin steht.



Um viertel vor zwei musste sie aufs Klo. Das Problem war, dass er immer noch nicht da war und sie Angst hatte, er könnte klingeln, während sie auf der Toilette saß und wieder gehen, bevor sie öffnen konnte. Sie beschloss, zunächst anzuhalten. Weil das im Gehen leichter fällt, spazierte sie durch die Wohnung. Sie hatte eineinhalb Zimmer. Ein winziges Schlafzimmer, das  für sie allein aber reichte, und ein normalgroßes Wohnzimmer, sogar mit Balkon. Die Küche war gerade geräumig genug, um noch einen Tisch hineinzustellen und das Bad hatte eine Wanne. Sie konnte sich nicht beschweren. Es fehlte an nichts. Nachdem sie einmal um die Couch und den Flur entlang gelaufen war, blieb sie vor dem Schlafzimmerspiegel stehen. Sollte sie wirklich diese Bluse anbehalten? Es war dasjenige Kleidungsstück aus ihrem Besitz, das am ehesten als „sexy“ bezeichnet werden konnte. Der helle Stoff bestand zwar zu 100 % aus Baumwolle, aber der oberste Knopf spannte leicht über der Brust und man konnte ein bisschen hindurchsehen. Darunter trug sie einen roten BH, was ihr auf einmal schrecklich obszön vorkam. Außerdem musste sie an die unangenehme Situation gestern im Wäschegeschäft denken. Was die Verkäuferin wohl gedacht hatte? Schnell zog sie sich ihren grünen Pullover über – grün wie die Hoffnung, dachte sie – der hatte immerhin einen V-Ausschnitt, das musste erstmal reichen.



Eine halbe Stunde später hielt sie es nicht mehr aus. Während sie auf der Toilette saß, ließ sie die Badezimmertür offen, damit sie das Klingeln nicht überhören und im Notfall auch mit heruntergelassener Hose auf den Summer drücken konnte. Sie wohnte ganz oben, im dritten Stock, genug Zeit zum wieder Anziehen und Händewaschen würde ihr also wohl bleiben. Es sei denn, er war besonders schnell. Das konnte sie sich schon vorstellen bei ihm. Jemand wie er war doch sicher fit... Der Notfall trat nicht ein. Je näher die 15 Uhr rückten, desto aufgeregter wurde sie, denn desto wahrscheinlicher wurde es, dass er jeden Augenblick klingelte. Wann war das letzte Mal ein Mann in ihrer Wohnung gewesen? Sie konnte sich gar nicht mehr daran erinnern. Ein paar Mal hatte sie sich mit welchen getroffen, die sie über das Internet kennen gelernt hatte. Aber das war nie etwas gewesen. Entweder waren die Männer in echt ganz anders als in den Nachrichten, die sie mit ihnen getauscht hatte. Oder sie waren genauso, riefen aber nie mehr an. Jedenfalls hat sie keinen mehr als einmal gesehen und sich dann auch irgendwann von dieser Seite abgemeldet. Die war sowieso ein bisschen zu teuer gewesen. Außerdem glaubte sie an die Romantik der zufälligen ersten Begegnung. Vielleicht heute.



Er klingelte um viertel vor drei. Das war noch pünktlich und das gefiel ihr schon mal. Sie drückte den Summer, richtete noch einmal ihre Haare und zog im letzten Moment den grünen Pullover wieder aus. Es klopfte an der Wohnungstür, sie öffnete. Er trug eine graue Hose aus schwerem Stoff mit vielen Taschen. In einer steckte ein Kugelschreiber, in einer anderen eine halbleere Plastikflasche Multivitaminsaft. Sein weißes T-Shirt spannte über dem Bauch, seine rot-graue Jacke war aus dem gleichen Stoff wie die Hose, offen und an den Schultern nass. Auch seine wenigen Haare waren feucht und in seinem Schnurrbart hing etwas, das nach Remoulade aussah. Sie hatte sich nie viel aus Äußerlichkeiten gemacht. Wann immer sie verliebt war, sah das Objekt der Begierde vollkommen anders aus, als sein Vorgänger. Es kam doch hauptsächlich darauf an, worüber ein Mann sprach, fand sie. „Guten Tag, ich soll hier den Stromzähler ablesen.“, sagte dieser routiniert. Sie lächelte so, dass es ihr geheimnisvoll vorkam, und wies ihm mit der Hand, einzutreten. Der Stromzähler befand sich in der Küche. Er zog die Schuhe nicht aus, wofür sie Verständnis hatte. Ihr gefiel sogar, mit welcher Bestimmtheit er sich in die richtige Ecke des Raumes begab. Mit einem Becher in der einen und der Kaffeekanne in der anderen Hand, stellte sie sich hinter ihn und fragte: „Kaffee?“, weil sie „Kann ich Ihnen mit einem Kaffee etwas Gutes tun?“, was sie eigentlich zu sagen geplant hatte, nicht herausbrachte. Er drehte sich nicht um, notierte nur eine Zahl auf seinem Block, der kurz darauf in einer der vielen Taschen seiner Hose verschwand. „Ne danke, ich muss noch zu allen Nachbarn.“ Sie ließ sich ihre Enttäuschung nicht anmerken, nur die Bluse zog sie ein bisschen zu. Auf der Türschwelle drehte er sich nicht noch einmal um. „Wiedersehen“, nuschelte er, während er schon bei der Nachbarin klingelte. „Wiedersehen“, sagte sie leise, schloss die Tür und lehnte ihre Stirn dagegen. Sie lächelte. Wiedersehen.



 

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