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Wu Junlong wühlt mit der bloßen Hand in einer Tonne aus Essensresten. Eine Tomate ist gerade noch als solche erkennbar, der Rest ist vergorener Gemüsematsch. Es riecht nach altem Bier. „Wenn das fermentiert, ist es ein perfekter Dünger“, sagt er und zieht die glitschige Hand wieder heraus. „Pestizide brauchen wir nicht.“

Der kahl geschorene Brillenträger schraubt den radgroßen Deckel wieder auf das Fass. „Das gärt jetzt noch ein bisschen vor sich hin, später verteilen wir es auf die Pflanzen.“ Auch kranken Hühnern soll die faule Suppe helfen, versichert er. Neben der Biokompostanlage steht ein kleines Haus mit zwei Stockbetten. Dazwischen hängt ein Poster. Es zeigt den Diktator Mao Zedong.

Der 26-Jährige macht noch einen Abstecher zur Erdbeer-Arbeitsgruppe, die gerade Setzlinge ausbuddelt. Es ist ein warmer, smog-freier Septembertag, die Sonne sinkt langsam herab und taucht den Garten in ein rötliches Licht. Es wird Zeit für das Abendessen.

Man fühlt sich in dieser Ruhe weit weg 
vom 20-Millionen-Moloch Peking. Aber die „Farm des rechtschaffenen Pfades“ liegt nur eine Stunde davon entfernt. Seit Kurzem ist der Nachbarort Gaobeidian an das Hochgeschwindigkeitszugnetz angeschlossen. Jetzt braust ein futuristischer Zug mit 300 Stundenkilometern die Strecke entlang, hält an einem Bahnhof von der Größe eines Fußballstadions und spuckt ein paar Wanderarbeiter aus. Stolz tragen sie die Insignien ihres durch harte Arbeit in der Stadt erworbenen Wohlstands: knallrosa Turnschuhe, gefälschte Louis-Vuitton-Taschen und mit Strasssteinchen verzierte iPhones. Sie fahren zurück in ihre Heimatdörfer, in denen ihre Eltern oft noch ohne Kühlschränke und Toiletten leben. Vom Bahnhof braucht man noch eine halbe Stunde mit dem Auto, um zur chinesischen Kommune zu gelangen. Hier leben und arbeiten seit März 2013 rund 70 junge Menschen im Kollektiv – inspiriert vom Erzkommu-nisten, Diktator und Massenmörder Mao Zedong. Sie wollten weg aus der Welt, in der sich alles um iPhones, Autos und Louis-Vuitton-Taschen dreht. 

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Die Farm versorgt sich selbst. Das bedeutet viel Feldarbeit.

Wu Junlong ist so etwas wie der Vorarbeiter der Farm. Er kümmert sich um die Organisation, solange Han Deqiang, Meister Han, wie sie ihn hier nennen, nicht anwesend ist. Er wird bald kommen, zum Abendessen ist er meistens da. Junlong ist seit Gründung des Projekts im März 2013 dabei. Zurück will er nicht mehr. „Das hier ist keine Arbeit, sondern ein Lebensstil“, sagt er und führt durch die Farm: Ein Weg überschattet von Zucchini-, Wein- und Melonenpflanzen teilt die 
Beete, Felder und Gehege. Hühner und Gänse laufen frei herum, eine kleine Schafherde mäht und mampft. Es folgen Apfelbäume, Erdbeerfelder, Salatbeete, Bohnenstauden und Kürbispflanzen. Alle Lebensmittel werden hier biologisch, ohne Pestizide und chemischen Dünger angebaut.

Draußen drehe sich alles um Konsum und materielle Güter, glücklich werde so doch keiner, sagt Junlong. Er betritt das Büro des Anwesens. In einem Regal hinter ihm stapeln sich getrocknete Bohnen, eingelegte Tomaten, Chilis und das Pulver einer Pflanze, das als Seife bestens funktioniere, wie der Mao-Öko versichert. Viele der Lebensmittel verkaufen sie auf Taobao, einer chinesischen 
E-Commerce-Plattform, andere tauschen sie mit den Nachbarn.

Junlongs Eltern waren anfangs überhaupt nicht begeistert von seinen Plänen. Sie wollten, dass er nach seinem Wirtschaftsstudium einen guten Job ergattert, Geld verdient und eine Familie gründet. Dass junge Menschen sich zusammentun, um im Kollektiv zu leben, ist im Westen spätestens seit den Kibbuzim und der Hippie-Bewegung nichts Revolutionäres. In China von heute aber gehört das zu den verrücktesten Dingen, die man als Mittzwanziger so machen kann. Mittlerweile akzeptieren Junlongs Eltern seine Entscheidung. „Sie waren früher selbst Bauern und vermissen ihr altes Leben“, sagt er.

Wofür Europa mehr als ein Jahrhundert gebraucht hat, geschieht in China innerhalb weniger Jahre. Das Land wird im Hauruckverfahren modernisiert. Zugstrecken, Flughäfen und Straßen werden in die Landschaft gesetzt. Vor allem aber explodieren die Städte: Peking 20 Millionen, Shanghai 23 Millionen, Chongqing 30 Millionen Einwohner. Innerhalb von 20 Jahren wurden aus 300 Millionen Bauern Stadtbewohner. Seit vergangenem Jahr wohnen zum ersten Mal in der Geschichte des Landes mehr Menschen in Städten als auf dem Land. Möglich wird das, weil junge Leute in den Städten ein Vielfaches dessen verdienen, was sie als Bauern bekommen. Rund 3000 Yuan, keine 400 Euro, verdienen die neuen Stadtbewohner, viele von ihnen sind junge Leute mit Universitätsabschluss. Das ist wenig Geld in den teuren Städten der Ostküste, aber immer noch weit mehr als das, was man auf dem Land verdienen kann. Deswegen hält der Trend weiter an: Geht es nach Plänen der Regierung, sollen bis 2030 eine Milliarde Menschen in Städten leben – nochmals 350 Millionen mehr als heute. Zurück auf dem Land bleiben nur die Alten, die Kinder und die Kranken. „Meister Han hat erkannt, dass es so nicht weitergeht“, sagt Wu. „China hat seine Wurzeln vergessen. Wir wollen uns hier wieder mit Mutter Natur verbinden.“

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Ein Student häckselt Viehfutter für die Schafe.

Meister Han mietete 200 Mu an, das sind etwa 13 Hektar, und fragte seine Studenten, ob sie bereit seien, der Zivilisation den 
Rücken zu kehren, hart zu arbeiten und in 
einer Gemeinschaft zu leben. Er unterrichtet noch immer an der Uni in Peking, unter an-
derem eine MBA-Klasse. 20 Studenten sagten von Anfang an zu. Mehr folgten, als sich 
das Projekt herumsprach. 300.000 Yuan pro 
Jahr, rund 40.000 Euro Pacht, kostet das Land. Das Projekt aber finanziere sich 
komplett selbst, sagt Junlong.

„Wir bewundern Mao nicht für alles“, sagt er. „Was wir aber gut finden: Unter seiner Herrschaft zogen Millionen Jugendliche aufs Land, um das Landleben kennenzulernen.“ Dass Mao durch Fehlplanung eine Hungersnot verursachte, die mehrere Millionen Menschen das Leben kostete, dass er die Kulturrevolution anzettelte, in deren Verlauf das gesamte kulturelle Leben Chinas zum Erliegen kam und Millionen von Städtern sinnlos in Einöden verbannt wurden, davon spricht Junlong nicht.

Eine Aufarbeitung von Maos Verbrechen 
hat in China nie stattgefunden. Die Kom-munistische Partei löste das Problem 1981 arithmetisch, indem sie beschloss, Mao habe zu „30 Prozent falsch und zu 70 Prozent richtig gelegen.“

Auf der nächsten Seite: Warum junge Chinesen heutzutage unter enormem Erfolgsdruck stehen.



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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Meister Han beim Morgen-Chi-Gong

Die Chinesen waren in den vergangenen 
30 Jahren ohnehin mit nichts anderem beschäftigt, als reich zu werden. Um durchschnittlich zehn Prozent wuchs die Wirtschaft in dieser Zeit – pro Jahr. Circa 140 Mil
lionen Autos verstopfen heute die Straßen.

Doch der Preis für den Aufschwung ist hoch: Wasser, Luft und Boden sind verschmutzt. Nahezu jede Woche wird das Land von einem Lebensmittelskandal heimgesucht: Mal wird Öl aus dem Gulli abgeschöpft und wiederverwendet, mal Rattenfleisch als Lammfleisch verkauft. An manchen Tagen im Winter, wenn alle Heizungen in Peking laufen und die Kohlekraftwerke voll ausgelastet sind, sinkt die Sicht auf 50 Meter. Die Luft kratzt beim Atmen, besonders Kinder und Alte leiden unter Atembeschwerden.

Der Tag auf der „Farm des rechtschaffenen Pfades“ beginnt im Winter um 6 Uhr, im Sommer um 5.30 Uhr. Klassische Musik ertönt in einer Lautstärke, die Weiterschlafen im Gemeinschaftsschlafsaal unmöglich macht. Es folgt eine halbe Stunde Studieren des „Weißen Buches“, einer Sammlung von Liedern und Sinnsprüchen von Meister Han. In dem Werk von der Größe eines Notizbuches hat Han alte Mao-Lieder, Sinnsprüche und altchinesische Weisheiten kombiniert. Seine Mao-Bibel ist das ideologische Fundament der Farm. Anschließend beginnt die Feldarbeit. Um 7 Uhr gibt es Frühstück, um 12 Uhr Mittagessen, um 19 Uhr Abendessen. Dazwischen Feldarbeit. Ein hartes Programm. Aber hier stellt sich kein Hamsterrad-Feeling ein. Gegen harte Arbeit haben sie hier nichts. Es sind die Zwänge des modernen China, vor denen sie geflohen sind.

Wer heute jung ist in China, steht unter Druck. Da ist das Schulsystem, an dessen Ende das ultraharte Gaokao, das chinesische Abitur, steht. Danach folgt nahtlos ein Studium. Eltern und Gesellschaft verlangen nach dem Abschluss, dass möglichst schnell Geld verdient und eine Familie gegründet wird. Frauen, die mit 27 noch nicht verheiratet sind, gelten als „Sheng Nu“, als schwer vermittelbare „Restefrauen“. Männer sollten bei der Heirat möglichst eine Eigentumswohnung vorweisen können, sonst sinken die Chancen auf eine Ehefrau rapide. Wie man mit einem Gehalt von ein paar Hundert Euro im Monat zu einer kommen soll, ist vielen schleierhaft. Wer nicht durch Beziehungen an einen guten Job kommt, hat nur eine Möglichkeit: sich 
mit harter Arbeit irgendwie durchzubeißen. Rund 60 Prozent aller Erwerbstätigen in 
Peking leisten mehr als die gesetzlich festgeschriebenen zwei Überstunden am Tag. „Gulaosi“ nennt man in China diejenigen, 
die an Überarbeitung sterben.

Xiezang Zhang kommt aus der Provinz Guizhou im Südwesten von China. Der 23-Jährige hat Bergbau studiert, einen Job aber hat er nicht gefunden. Eigentlich wollte er in den USA studieren, aber dafür hätte er zu viel Geld gebraucht. „Jetzt bin ich glücklich hier“, sagt er. Huang Jiguan, 24, und Liu Guanke, 26, leben hier sogar mit ihrem neun Monate alten Baby. Die beiden haben ihr Studium vor 
Kurzem abgeschlossen. „Ich will hier nie 
wieder weg“, sagt Jiguan.

Ein Klavierstück von Mozart ist auch das Zeichen für das Abendessen. Von allen Seiten der Farm trudeln jetzt die Neo-Maoisten ein. Die Küchenbrigade bringt Schüsseln und Essstäbchen in zwei Wannen. Es folgt ein großer Bottich mit Baozi, Hefeteigtaschen mit Spinatfüllung, dazu Bohnengemüse und gekochte Auberginen. Alkohol oder Fleisch gibt es nicht.

Als Han Deqiang kurz vor dem Abendessen erscheint, trägt er einen grauen Jogging
anzug über einem Anzughemd. Der feingliedrige Mann ist mit dem Zug gekommen, ein Auto besitze er aus Prinzip nicht, sagt er. Er blickt sich um und lächelt zufrieden, wie jemand, der sein Werk bestaunt. Er hält sich im Hintergrund, seine Schüler grüßen ihn nicht einmal.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Jeden Abend ruft ein Klavierstück von Mozart zum Essen.

Der 47-Jährige schwärmt von seiner Kindheit. „Ich wuchs an einem spiegelklaren See auf. Jeden Tag arbeiteten wir draußen in der Natur.“ Die letzten 25 Jahre aber wohnte und arbeitete der Wirtschaftsprofessor in Peking. Seine alte Heimat erkennt er heute nicht wieder. „Es ist alles verschmutzt.“

Mit dem Gedanken, auszusteigen und sich auf die Vergangenheit rückzubesinnen, habe Han schon lange gespielt. Vor zwei Jahren traf er auf Geldgeber, die ihm und seinen Studenten das Projekt ermöglichten. Als ideologischen Überbau mischte sich Han Deqiang Maoismus, Konfuzianismus, Tai Chi und Vegetarismus zusammen und schrieb es zusammen mit alten Revolutionsliedern im „Weißen Buch“ nieder.

Han ist der Meinung, in China müsse sich so ziemlich alles ändern: die Menschen, das Wirtschaftssystem, die Verteilung des Reichtums. „Es ist absurd“, sagt Han leise. „Dabei sind wir formell ein kommunistisches Land.“ Wenn es noch lange so weitergehe, würden die Veränderungen irreversibel.

Der sanfte Guru der Kommune hat eine dunkle Seite: Er gilt als Ultranationalist, der im September 2012 einen alten Mann schlug, weil der Mao Zedong kritisierte und zum Boykott japanischer Produkte aufrief. Die USA sind für ihn der Hauptfeind Chinas. Er kritisierte Chinas Beitritt zur Welthandelsorganisation und verdammt marktwirtschaftliche Reformen.

Doch die „Farm des rechtschaffenen Pfades“ ist auch ein apolitisches Projekt, das den 
Nerv einer Generation trifft: Vor allem die neue Mittelschicht zählt Umweltverschmutzung und mangelnde Lebensmittelsicherheit zu den größten Problemen des Landes. 
Immer mehr stehen dem grenzenlosen Wirtschaftswachstum der letzten Jahre skeptisch gegenüber.

Vielleicht ist China heute an dem Punkt, an dem sich viele westliche Länder Mitte der Sechziger befanden: Nach Jahren des Aufschwungs und des materiellen Wohlstands stellen die Menschen fest: Wir haben Fernseher, Waschmaschinen und Autos, aber glücklicher sind wir nicht geworden. Jetzt 
beginnt ein Prozess des Suchens und Rück-besinnens, in der Hoffnung, dort das verlorene Glück wiederzufinden.

Am nächsten Morgen, kurz vor sechs Uhr, joggt schon eine Gruppe junger Männer durch die Farm. Eine andere rezitiert aus dem „Weißen Buch“. Die Studenten lassen sich wie Juden an der Klagemauer immer wieder mit dem Rücken gegen die Mauer des Erdbeerbeets fallen. Im Salatfeld kniet Wu Junlong mit ein paar Freunden, um Schädlinge mit der Hand zu töten.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Jeden Morgen lesen die Studenten in Hans "Weißem Buch"

Han Deqiang beginnt wie jeden Morgen mit seinen Tai-Chi-Übungen. Geschmeidig wie Wasser tanzt er durch die Allee dem Sonnenaufgang entgegen. Die Luft ist trüber als gestern. Nur mit Mühe dringen die Strahlen durch die feinen Partikel hindurch. Es ist Smog von den Kohlekraftwerken, die Strom für mehr als 20 Millionen Pekinger liefern. Den kann auch die „Farm des rechtschaffenen Pfades“ nicht aussperren.



Text: philipp-mattheis - Fotos: Jonathan Browning

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