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Nordlicht

Text: Roki
Die Nordlichter...
Ich starrte aus dem schwarzen Fenster. Schnee und Eis peitschten gegen das Glas und versperrten mir die Sicht auf die Welt dahinter.
Die Nordlichter...
Meine müden Knochen ächzten als ich mich wieder an meinen kleinen Tisch setzte. Mein letztes Geld hatte ich für diese letzte Reise ausgegeben, doch alles was ich bis jetzt sehen konnte war tosendes Schneegestöber und pechschwarze Nacht.
Der Wind pfiff und drückte unaufhörlich gegen das knackende Holz meiner Hütte, dem Gefängnis in das ich mich selbst eingesperrt hatte. Zu dem Pfeifen gesellte sich jede Nacht, wie auch diese Nacht, ein Heulen, das mir den Schlaf raubte. Elendig klagend drang es selbst durch dickste Kissen an mein Ohr. Manchmal erschien mir dieses grauenhafte Geräusch wie ein Raunen und Flüstern und es gab nicht wenige Stunden in der Nacht in denen ich kurz davor war den Verstand zu verlieren.
Meine schrumpfenden Vorräte verbesserten die Situation nicht. Essen, Wasser und Heizöl gingen zur Neige. Ich gab mir selbst nur noch wenige Tage.
Ein Krachen. Ich schreckte aus meinen immer gleich klingenden Gedanken. Es war weitaus lauter gewesen als das übliche Knacken und Ächzen des Holzes.
Brach das Haus zusammen? War es der Wind gewesen, der es endlich schaffte in das Haus einzudringen und mein Ende anstelle des Hungertodes zu besiegeln?
Aber nein, das war nicht der Wind gewesen, es war zu ruckartig, selbst für eine starke Böe... Gott wurde es plötzlich kalt hier Drinnen und... war nicht auch das Pfeifen lauter geworden?
Meine in Unruhe gebrachten Augen zuckten umher und erkannten schnell die Ursache für die hereinziehende Kälte. Dort wo die Eingangstür sein sollte klaffte ein großes Loch durch das weißer Schnee in die Hütte geweht wurde.
Mit einer Lampe in der Hand, die gespenstische Schatten an die Wände warf, eilte ich zur Tür... und hielt den Atem an. Meine Hand zitterte, mein Herz flatterte. Mitten auf der Tür prangte auf Augenhöhe im kräftigem Schwarz ein Handabdruck.
Wie vom Blitz getroffen stand ich da. Ich schluckte, dann fasste ich den Mut näher heran zu treten und wurde sogleich noch bleicher. Es war Ruß der Handabdruck war in das Holz hinein gebrannt.
Schnell knallte ich die Tür zu in der naiven Hoffnung, dass es nicht mehr da war sobald ich es nicht mehr sehen konnte. Aber natürlich wusste ich was da gewesen war und das Grauen hatte bereits einen festen Platz in meinen Kopf gefunden.
Kaum war die Tür geschlossen, da begann ein bekannter Laut wieder an mein Ohr zu dringen. Das Heulen, das verdammte Heulen tränkte die vom Lampenlicht flackernde Dunkelheit und ließ die Schatten erzittern.
Taumelnd schwankte ich Richtung Tisch und setzte mich, die Hände gegen den Kopf  gepresst, hin.
Gerade in dem Moment in dem ich den Stuhl berührte kam mir die Erleuchtung und der unerträgliche Lärm wurde augenblicklich leiser.
Ich begann zu lachen. Wie ein betrunkenes Kind begann ich in die Einsamkeit hinein zu kichern.
Natürlich, das war es! So offensichtlich! Der Tod, es ist der Tod! Er kommt, kommt um mich zu holen!
Wahnsinn, gekeimt in Hunger und Isolation zupfte mit hauch dünnen Fingern an den Kanten und Ecken meines Verstandes.
Aber... ich musste doch noch die Nordlichter sehen. Nein, der Tod darf mich noch nicht kriegen!
Ich stand auf.
„Verschwinde!“ rief ich in Richtung Tür. Das Heulen wurde leiser.
„Verschwinde!“ rief ich noch einmal und ich glaubte Schneegestapfe zu vernehmen.
„Geschafft.“ seufzte ich und entspannte. Also habe ich noch etwas Zeit. Dieser ließ meinen Blick auf das immer noch schwarze Fenster gleiten.
Aber ohne klaren Himmel...
„Wenn doch nur der Himmel aufklaren würde“ Ja das waren die letzten Worte, die ich auf den Zettel geschrieben hatte, der auf dem Tisch vor mir lag. Es waren meine Memoiren, meine letzten Worte, die ich dieser Welt hinterlassen wollte. Sie waren ebenso armselig wie die letzten Stunden die ich auf ihr verbrachte.
Wann es wohl wieder Morgen werden würde? Endlos lang kam mir diese Nacht mittlerweile vor. Wobei die Tage auch nicht viel besser waren. Durch den immer grauen Himmel drang kaum ein Sonnenstrahl auf das Antlitz der Welt und Schnee und Wind beschränkte die Sicht ebenso stark, wie die Finsternis in der Nacht. Nur ein einziges Mal hatte ich das Glück gehabt mein Gefängnis verlassen zu können. Zwar war auch an diesem Tag alles mit Wolken behangen, aber es hatte nicht geschneit und so hatte ich den Beschluss gefasst einen Spaziergang nach Draußen zu wagen. Allerdings brachte der Ausflug nur die erwartete Monotonie einer Einöde mit sich.
Kein Nordschneewunderland, keine Immerweißberge. Nur Hügel und Schnee, Schnee und noch mehr Schnee.
Welch furchtbaren Ort hatte ich mir da nur ausgesucht. Abgelegen sollte er sein und nördlich. Tja, beides hatte ich bekommen, was für eine Freude...
Während ich so meine Gedanken spann atmete der Wind Draußen mit immer tieferen Zügen. Das Holz knackte und knarzte und ich konnte beobachten wie die Schneeflocken vor dem Fenster langsam begannen zusammen zu pappen und es zu versperren.
Jetzt war es mir endgültig so, als würde ich in meinem Gefängnis begraben und verschüttet werde.
Plötzlich klopfte etwas an der Tür.
Schon wieder? Nein, es war ja ein Klopfen und die Tür blieb geschlossen. Aber ein verirrter Wanderer konnte es unmöglich sein, nicht hier, nicht in so einer Nacht.
Das Klopfen hörte nicht auf, selbst wenn ich es ignorierte, also beschloss ich nachzuschauen. Seltsamerweise stellte ich fest, dass ich gar keine Angst mehr hatte. Ja sogar schon länger war ich ganz ruhig geworden.
So fiel es mir nicht schwer auf die Tür zuzugehen. Was hätte mich auch erwarten können das schlimmer war als der Tod?
Ich öffnete die Tür und Schnee getränkte Dunkelheit begrüßte mich. Da war niemand nur der heulende Wind.
Ich starrte in die tanzenden Flocken die vor der Finsternis herumwirbelten. Gerade wollte ich die Tür wieder schließen, da hielt irgendetwas meinen Arm in einem eisig kaltem Griff gefangen. Entsetzt fixierte ich ihn mit meinem Blick, doch da war nichts zu sehen, also wieso konnte ich ihn nicht bewegen?
Ich zog kräftiger, aber er rührte sich nicht. Urplötzlich erklang ein lautes Heulen, dann befand sich mein Arm wieder in Freiheit. Zeitgleich schlug die Tür mit einem ohrenbetäubendem Knall in die Angeln.
Das konnte unmöglich real sein... Und doch... es geschah genau vor meinen Augen...
War dies ein letzter Streich den der Tod mir spielen wollte? Wollte er mich noch ein letztes Mal zum Narren  halten? Doch... wozu die Mühe?
Ich begann erbost über diese Schikanen zu werden. Soll er mich doch sofort holen, es hatte doch so oder so keinen Sinn noch länger in diesem hölzernen Gefängnis zu versauern.
Weißt du was Tod? Du kannst mich Mal! Bevor ich zu deiner dummen Marionette werde komme ich dir lieber zuvor!
Entschlossen riss ich die Tür auf und öffnete somit das Tor, das mich zu meinen letzten Weg geleiten sollte.
Vor Kälte triefende Nacht begrüßte mich herzlich und ohne Mantel und ohne Stiefel betrat ich die tobende und zitternde Welt.
Alles war schwarz. Ich ging einige Schritte und drehte mich um. Schon jetzt konnte ich kaum noch meine Hütte erkennen, aber ich ging weiter, wenn ich schon sterben sollte, dann nicht langsam und kläglich am Hungertod. Und wenn ich schon nicht die Nordlichter sehen konnte, dann wollte ich wenigstens unter dem Himmel dahinscheiden, der sie gebar.
Mit jedem Schritt knirschte der Schnee unter meinen Füßen.
Komm schon Tod, wo bist du? Zeig dich!
Meine Glieder wurden immer schwerer. Ich spürte wie der Schnee mich nach unten drückte. Ich kam dem Ende näher und näher.
Ja, so soll es enden...
Ich begann zu taumeln.
Das ist das Ende meiner Geschichte...
Ich schwankte.
Beenden wir es...
Ich fiel zu Boden. Und da lag ich nun, den eisigen Schnee unter und den pechschwarzen Himmel über mir.
Warum nur um alles in der Welt blieb es mir verwehrt vor meinem Tod ein einziges Mal die Nordlichter sehen zu können?
Vielleicht... Ein Gedanke, ähnlich einer Erkenntnis, schoss mir plötzlich durch den Kopf. Vielleicht war es so weil... Ich fing an leise zu kichern, doch bald schon war es ein voll ausgewachsenes Lachen.
Ich war ein Idiot. Natürlich durfte ich die Nordlichter noch nicht sehen! Deshalb spielte mir der Tod dieses Spiel mit mir!
ICH SOLLTE NOCH GAR NICHT STERBEN!
Kaum war der Gedanke gefasst erhellte ein helles Licht die Nacht. Es war grell und blendete und tauchte die Welt in weißes Leuchten.
Aber es waren nicht die Nordlichter. Oh nein, als ich die Augen öffnete blickte ich nicht in das Licht das mich ins Jenseits begleiten sollte, dafür war es viel zu kalt und herzlos.
Nein, ich schaute direkt in das abscheuliche Licht einer Krankenhauslampe und als ich mich zur Seite drehe war ich auch nicht allein, sondern ich schaute unmittelbar in die Tränen gefüllten Augen einer Frau.
Als sie meinen Blick bemerkte wurde sie Kreide bleich, dann begann sie noch viel stärker zu weinen und umarmte mich mit überwältigender Freude.
Sie schluchzte und wimmerte und ich verstand nur mit Mühe die Worte die sie mir ins Ohr flüsterte:
„Du... und wir dachten...“ Sie schnappte nach Luft, so stark das man glauben konnte sie hätte seit Wochen nicht geatmet. Ich spürte ihre warmen Tränen auf meiner Wange.
„Wir dachten, wir hätten dich...“ Aber bevor sie diesen Satz beenden konnte legte ich meine Arme um sie und drückte meine Frau so fest, das alle weiteren Worte überflüssig wurden. Es war nun offensichtlich und nicht mehr zu übersehen. Ich war nicht Tod, ich lebte!
Die Nordlichter... wie froh ich war ihnen noch nicht begegnet zu sein.

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