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Humanismus

Text: Jahre

Die Aufmerksamkeit der Medien wurde erst kurz vor Prozessbeginn geweckt, als Martin Stefans der illegalen Schleuserei bezichtigt worden ist. Bei diesem handelte es sich um einen ehemals beim Lebensmittelhersteller „Fleisch für die Bürger“ angestellten Koch, der die Abteilung „Innereien, Organe und sonstige Spezialitäten, die zum Brechreiz anregen, wenn man zu viel über selbige sinniert“ leitete. Nachbarn und Verwandte gaben an, dass es sich bei Herrn Stefans um eine besonders introvertierte und einsame Person gehandelt haben soll, die eine permanente Melancholie ausstrahlte und damit manche seiner Mitmenschen durch seinen bloßen Anblick bereits zum Weinen gebracht, wenn nicht gar in den Suizid getrieben haben soll; vor mehreren Jahren ist selbst eine Anklage wegen „Anstiftung zum Freitod“ angestrengt worden, die jedoch vom zuständigen Staatsanwalt wieder fallengelassen wurde, nachdem sich Herr Stefans als „Melancholiker der nicht-böswilligen Art“ erwiesen hatte.



Seine einzige Freude im Leben soll ein luxuriöser Sportwagen in feuerroter Lackierung der Marke Schnupsi gewesen sein, mit dem er seine Freizeit beständig verbracht haben soll, sei es um mit ihm ziellos durch die wildromantische Waldlandschaft bei Abenddämmerung und leiser Musik zu fahren oder um ihn nach der Kollision mit einem Baum wieder in Gang zu setzen. Besonderes Vergnügen sollen ihm dabei das Anhalten bei roten Ampeln und das Einparken rückwärts bereitet haben; nach besonders vertraulichen Informationen hielt er es für die größte Herausforderung im Leben, die gängigen Verkehrsregeln zu beachten und sorgsam umzusetzen. Seinen übrigen Hobbys soll er nicht mit der gleichen Leidenschaft angegangen sein. Wer vermag denn auch abzustreiten, dass ein Leben als Koch, Autofahrer, Briefmarkensammler, Pferdereiter, Kühlschranköffner, Fallschirmspringer, Maler expressionistischer Gemälde, Saxophonist, Anrufbeantworter, Hobby-Astronom, Abfalleimer oder Kommunalpolitiker einen nicht gänzlich zu erfüllen vermag?



Letzten Endes soll er allein ein einsames Leben geführt haben, bis zu dem Augenblick, als er an seinem Arbeitsplatz mit Elisabeth Räumer bekannt wurde, genauer: mit ihrem Gehirn. Wie erwähnt, war er in seiner Firma für Organe und Innereien zuständig. Dabei war es seine Hauptaufgabe, diese zu verkochen und zu pulverisieren, um damit Suppen und diverse Eissorten zu würzen, wobei unter der Kundschaft die größte Nachfrage nach Schokoladeneis mit Blinddarmwürzung bestand. Dass ihm dabei das Gehirn einer Dame in die Finger kommen sollte, war mitnichten ein Zufall. Ein bedeutendes Problem der Politik stellte in den vergangenen Jahren nämlich die Asylantenfrage und ihre verbraucherfreundliche Lösung dar, da die Aufnahmebereitschaft der Bevölkerung aus nicht näher eruierbaren Gründen überstrapaziert worden war. Der ursprüngliche Vorschlag, die Asylanten in ihre nördliche Heimat, einer der ärmsten Regionen auf dem Planeten, abzuschieben, war auf Widerspruch des Verkehrsministers gestoßen, der betonte, die hierfür notwendigen Verkehrsverbindungen in den Norden stünden nur freiwillig einfahrenden und mautzahlenden Ausländern zur Verfügung, während der Staat kein Anrecht hätte, von Personen, die zwangsabgeschoben werden, eine Maut zu verlangen; der Schaden, der durch solche Asylantentransporte für die Straßen entstünde, könnte durch die Mautzahlungen nicht gedeckt werden und würde schließlich dem Staat zur Last fallen. Soweit die Argumentation des Verkehrsministers.



Der Verzehrminister wiederum gab mit Verweis auf die gängige Volksmeinung, Asylanten stünden den Tieren näher als den Menschen, öffentlich bekannt, es sei daher ethisch vertretbar, sie gleichermaßen zu verspeisen. Auch wenn die Bevölkerung hiervon nicht im Bilde war, wurden Asylanten reihenweise aufgegriffen und in Kantinen und Restaurants verfrachtet – oder in Nahrungsmittelfabriken. Bei Frau Räumer handelte es sich zufällig um eine Immigrantin, die aufgrund politischer Verfolgung im Norden, die auf die Veröffentlichung einer selbstverfassten Kurzgeschichte über den Umgang ihrer Heimat mit Asylanten zurückzuführen war, ihre Familie in Richtung unserer Republik verlassen musste, wo sie schließlich verhaftet wurde und der Würzung eines Erdbeer-Vanille-Eises hätte dienen sollen. Letztlich landete ihr Gehirn in den Händen von Herrn Stefans, der aufgrund einer Laune der Übernatur telepathischen Kontakt zu ihr aufzunehmen vermochte.



Nach seiner eigenen Aussage vor Gericht soll es sich um Liebe auf den ersten Blick gehandelt haben. Jenseits jeder körperlichen Anziehung, da es sich ja nur um ein widerwärtiges Gehirn handelte, bildete sich ein unsichtbares Band zwischen den beiden Persönlichkeiten, ihren Gedanken wie auch ihren Gefühlen. Ihre Wellenlänge entdeckten beide in ihrer gemeinsamen Leidenschaft für das Kochen, Autofahren, Briefmarkensammeln, Pferdereiten, Kühlschranköffnen, Fallschirmspringen, Malen expressionistischer Gemälde, Saxophonspielen, Anrufebeantworten oder auch für das Engagement als Hobby-Astronom, Abfalleimer oder Kommunalpolitiker. Vor Gericht betonte Herr Stefans, nie zuvor einem Menschen begegnet zu sein, mit dem er auch nur eines dieser Interessen geteilt hätte. Da er es jedoch nicht lange ertragen konnte, ein regungsloses Gehirn vor sich haben, fasste er den Plan, es in den Körper einer wunderschönen jungen Frau mit einer besonders großen Oberweite zu transplantieren; in der Abteilung „Körperwelten“ seiner Firma wären ja auch genügend Außenhüllen zur Verfügung gestanden. Weil jedoch Frau Räumer den mangelnden Realismus einer solchen Transplantation beanstandet haben soll, wurde ihr Gehirn in seinen Sportwagen eingebaut.



Vor Gericht bezeichnete Herr Stefans gemäß der Boulevardzeitung BILLIG die nun folgende Zeit als die wundervollste seines Lebens. Gemeinsam mit seiner Geliebten genoss er es, ziellos durch die wildromantische Waldlandschaft bei Abenddämmerung und leiser Musik zu fahren, aber auch seine Herzallerliebste wieder in Gang zu setzen, wenn er sie gegen einen Baum gefahren hat, was unter Eheleuten bekanntlich keine Seltenheit ist. Auch wechselte er aufgrund gesteigerter Sensibilisierung für diskriminierte Minderheiten seinen Arbeitsplatz und nahm eine Stelle bei einer anderen Abteilung an, in der das Fleisch von Pädophilen verarbeitet wurde, womit er sich die Sympathien der meisten Leser beziehungsweise Hörer dieser Geschichte sicher sein dürfte, so fragwürdig dies auch sein mag. Allein der Geschlechtsverkehr soll ausgeblieben sein, da das Fortpflanzungsorgan von Herrn Stefans sich für den Auspuff von Frau Räumer als zu groß erwies. Aber wahre Liebe lebt bekanntlich auch nicht von der Häufigkeit oder der Qualität von Kopulationen - sondern vom abwechslungsreichen und kreativen Umgang mit den Geschlechtsorganen. Beispielsweise lässt sich leicht ausmalen, wie Herr Stefans den Auspuff von Frau Räumer in den Mund nahm und leidenschaftlich lutschte. Oder wie Frau Räumer den Phallus von Herrn Stefans zärtlich überfuhr. Die Möglichkeiten sexueller Spiele zwischen Mensch und Maschine sind grenzenlos.



Lange währte diese Zeit der Harmonie und Eintracht jedoch nicht, da das Gehirn im Auto einen gesteigerten Benzinverzehr erforderte, der bald astronomische Ausmaße annahm, so dass selbst die aus Kostengründen auf eine Mondkolonie exilierte Bundesregierung hiervon in Kenntnis geriet. Die Folge der Gefräßigkeit des Autos war, dass der staatliche Vorrat an Treibstoffen zur Neige ging, die Kosten für selbige dementsprechend explodierten, was eine nationale Krise mit sich brachte, da weite Bevölkerungskreise sich nicht mehr dazu imstande sahen, ihren Trieb nach Freiheit durch Besitz und Gebrauch von Autos (bevorzugt der Marke „Schubbus“) zu stillen. Es dauerte nicht lange, bis die Regierung dank den Hinweisen von Nachbarn und Verwandten und der permanenten Überwachung von Herrn Stefans auf seinen Wagen als Ursache der Wirtschaftskrise aufmerksam wurde.



Die logische Konsequenz war die spannendste und nervenaufreibendste Verfolgungsjagd in der Geschichte der Massenmedien: Verfolgt von einhundertneunundfünfzig Fernsehhelikoptern fuhr Herr Stefans mit Frau Räumer kreuz und quer durch sein Viertel, ohne der Polizei jedoch langfristig entkommen zu können. An diesem Punkt der Geschichte begann der Gerichtsprozess, von dem einleitend die Rede war. Dabei geriet auch der staatliche Umgang mit Asylanten an die Öffentlichkeit, die jedoch an spannenden Verfolgungsjagden eher interessiert gewesen zu sein schien. Schließlich endete der Prozess mit einer Verurteilung von Martin Stefans, der sich vom Wirtschaftsminister verspeisen lassen musste (auf Zitronen-Ingwer-Eis). Elisabeth Räumer sollte zunächst in der Schrottpresse landen, wurde jedoch aufgrund öffentlichen Drucks schließlich per Luftverkehr in den Norden abgeschoben, wo sie in den Kreis ihrer Familie zurückkehrte - die sich besonders über den unverhofften Besitz eines luxuriösen Sportwagens freute, weil ihr das ewigen Reichtum und Wohlstand bescherte.



 






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