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16 Jahre, radikal, 200.000 Follower

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Farah Baker

Die schrecklichste Nacht in Farah Bakers Leben sollte sie berühmt machen. Es war der 28. Juli. Geschosse aus Israel schlugen in ihrer Nachbarschaft ein. Die Decken in ihrem Haus zitterten. Farah hörte Menschen schreien. Eine Minute vor Mitternacht twitterte die 16-Jährige: „Das ist meine Nachbarschaft. Ich kann nicht aufhören zu weinen. Ich könnte heute Nacht sterben.“

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Knapp 17.000 mal wurde ihr Tweet geteilt. Seither ist @Farah_Gazan zu einem der meistgefolgten Twitter-Accounts des Gaza-Streifens geworden. Und Farah weltweit bekannt.  

Wer sie besucht, merkt das. Es ist ein sonniger Nachmittag und von der Angst der damaligen Nacht ist nichts mehr zu spüren. Farah sitzt im Garten ihres Hauses. Sie lächelt und ihre Augen lächeln mit. Sie wirkt gelöst. „Endlich kann ich mich wieder frei bewegen“, sagt sie.  

50 Tage hat der Krieg mit Israel gedauert. 50 Tage, in denen sie das Haus kaum verlassen hat. Aber auch 50 Tage, in denen Farahs Anhängerschaft von wenigen Hundert auf mehr als 200.000 angewachsen ist. Menschen aus aller Welt haben ihre Nachrichten verbreitet und ihr Mut zugesprochen. „Der plötzliche Erfolg hat mich selbst überrascht“, sagt sie.  

Das Twittern hat sie 2012 begonnen. Ihre ältere Schwester hatte über den damaligen Krieg mit Israel getwittert. Farah wurde neugierig und erstellte sich selbst ein Profil. Erst sporadisch, im Verlauf des Krieges im Juli 2014 manchmal dann sogar im Minutentakt. Meistens schrieb sie nachts, wenn sie während der israelischen Angriffe nicht schlafen konnte. Sie saß dann auf dem Sofa im Wohnzimmer. „In meinem Zimmer war es zu gefährlich, weil hinter meinem Bett ein großes Fenster ist“, sagt sie. Die Druckwelle der Bomben lässt geschlossene Fenster zerbersten.  

Weil sie auf Englisch schreibt, und nicht wie viele Menschen in Gaza auf Arabisch, erreichte sie Timelines auf der ganzen Welt. Ein Junge schrieb ihr, wie er auf einer Pro-Palästina-Demonstration in London ein Schild mit der Aufschrift „Free Farah!“ getragen hat. Ein anderer Follower hat sie als moderne Anne Frank bezeichnet. Farah gefällt der Vergleich, auch wenn er erkennbar hinkt. Sie hat das Tagebuch gelesen, während die Bomben auf Gaza fielen. „Aber im Gegensatz zu ihr habe ich das Glück, dass ich noch lebe.“  

Auf den ersten Blick wirkt sie wie ein ganz normaler Teenager, der davon träumt zu reisen, nach Spanien und nach Großbritannien. In ihrem Zimmer, zwischen rosafarbenem Bett und Schrank, hängt ein großes Poster vom Eiffelturm. Eines der ersten Dinge, die sie nach dem Waffenstillstand gemacht hat: Eis essen mit Freundinnen.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Und doch hat beides bereits Spuren hinterlassen – der Krieg und wohl auch die Berühmtheit: „Meine Freunde bitten mich jetzt, ihre Tweets zu teilen oder wollen Selfies mit mir machen“, sagt Farah und lacht. Ihre braunen Locken wehen leicht im Wind. Sie genießt die frische Luft, einmal nicht den ganzen Tag auf ihr Handy zu starren. Bis zum späten Nachmittag hat sie nur einen Tweet gesendet. Sie fragt sich, was ihre Follower jetzt interessieren würde. Jetzt, wo der Krieg vorbei ist. „Ich habe die ganze Zeit nur geschrieben, was ich denke und fühle“, sagt Farah.  

Was sie denkt und fühlt klingt oft auf beängstigende Weise radikal: „Ich unterstütze den bewaffneten Widerstand, auch wenn meine Waffe das Wort ist“, sagt sie beispielsweise. Bewaffneter Widerstand, das sind die Raketen der Hamas, die die Radikalislamisten tausendfach nach Israel feuern. Wie die Hamas erkennt sie das Existenzrecht Israels nicht an, und wie die meisten Jugendlichen in Gaza will sie keine Zwei-Staaten-Lösung.  

Farah kommt aus einer wohlhabenden Familie. Ihr Vater ist Arzt, ihre Schwester studiert an einer renommierten Universität in London, Farah geht auf eine Privatschule. Wahrscheinlich wird auch sie eines Tages in London studieren. Farah möchte Anwältin werden und für die Rechte der Palästinenser kämpfen.   Fragt man Farah, ob sie Hamas unterstütze, blickt sie mit starrem Blick geradeaus: „Ich bin ein 16 Jahre altes Mädchen, da kann ich doch noch keine Meinung zur Politik haben.“ Es ist eine Antwort, die zeigt, dass Farah es inzwischen gewohnt ist, mit Medien umzugehen.

Sie hat dutzende Interviews gegeben, in arabischen, türkischen und englischsprachigen Medien. Deshalb lässt sich Farah auf kein politisches Gespräch über Terrorakte palästinensischer Gruppen ein. Sie weiß, wie unpopulär die Hamas im Westen ist. Deshalb bezeichnet sie Israelis nie selbst als Terroristen. Sie retweeted Nachrichten anderer Nutzer, die das tun. Dass sie den Raketenbeschuss auf Israel unterstützt, bekundet sie im privaten Gespräch, aber nicht vor ihren 200 000 Followern.

Sie weiß aber auch, dass sie ihrer Generation eine Stimme verleiht. Einer Generation, die noch nicht volljährig ist, aber schon drei Kriege überlebt hat: 2008, 2012 und 2014. „Ich will das Land zurück, das Israel 1948 von uns gestohlen hat. Wenn die Israelis wollen, können sie mit uns in Palästina leben, aber es ist unser Land.“  

Vielleicht sind radikale Ansichten unvermeidbar, wenn 16-Jährige drei Kriege erlebt haben. Aber sie zeigen, dass eine Aussöhnung zwischen Gaza und Israel mit einer weiteren traumatisierten Generation immer unwahrscheinlicher wird. Farah sagt: "Nach drei Kriegen sehe ich kein Chance auf Versöhnung zwischen meinem Volk und dem sogenannten Israel."


Text: theresa-breuer - Foto: theresa-breuer

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