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Jugendliebe

Text: bodo_heidelberger

Kapitel 1



 



Endlich Sommer! Die Sonne schickte ihre warmen Strahlen von einem azurblauen Himmel herab und lockte die Einsamen und Verliebten, die Verlierer und Gewinner vor die Haustür. Ich gehörte zu den Gewinnern, denn ich hatte das Abitur bestanden! „Abiii!“ Es kam mir vor als liege mir die Welt zu Füßen. Als ich in bester Laune das Kurfürst-Friedrich-Gymnasium verließ, tippte mir draußen vorm Schulgebäude jemand von hinten auf die Schulter. Es war Sarah! Sie war eines der hübschesten Mädchen auf der Schule! Eine megascharfe Braut, kann ich Euch sagen. Hellblonde hochgesteckte Haare, Augen so blau und tief wie das Meer und Beine bis zum Hals. Sie trug ein schneeweißes, knielanges Kleid. Manche bezeichneten sie hinter vorgehaltener Hand als unnahbare Bunsen-Zicke, weil sie im Bunsen-Gymnasium die Schulbank gedrückt hatte, bevor sie in meine Klasse kam. Da ich eher zu der schüchternen Sorte Jungs zählte, war mir das Risiko einer Abfuhr immer zu groß gewesen, und so hatte ich erst gar nicht versucht sie anzubaggern. Schon allein deshalb war ich ziemlich überrascht, dass sie mich ansprach. Sie strahlte mich mit ihren großen, blauen Augen an und drückte mir die Hand.



„Hallo Lukas. Herzlichen Glückwunsch zum bestandenen Abi.“



Vor lauter Aufregung rutschte mir beinahe das Herz in die Hosentasche. Glaubt mir, ich war ganz schön nervös. Nie im Traum hätte ich daran gedacht, dass mich Sarah ansprechen würde! Schließlich galt sie als unnahbar. Ich spürte wie mir die Röte ins Gesicht schoss.



„Hallo Sarah. Äh...danke. Naja, hätte besser laufen können.“



Sie blickte mich fragend an.



„Warum?“



Ich starrte auf den Boden und vergrub die Hände in den Hosentaschen.



„Dreikommanull ist kein Ruhmesblatt.“



Sie lächelte.



„Hauptsache du hast es geschafft.“



Ich nickte ihr zu und atmete tief durch.



„Und wie ist es bei dir so gelaufen?“



Sie lachte und zwinkerte mir zu.



„Ich kann nicht klagen. Für eine glatte Eins hat es leider nicht ganz hingehauen, aber Einskommavier ist ja auch nicht von schlechten Eltern, oder?“



Ich musste schlucken und bemühte mich mir meinen Neid nicht anmerken zu lassen. Sarah war nicht nur verdammt hübsch, sondern auch noch ziemlich helle im Kopf. 



„Gratuliere.“



Sie legte den Kopf schief und warf mir ein verführerisches Lächeln zu.



„Danke. Schon was vor heute?“



Puh! Sarahs Anmache verunsicherte mich total! Schon allein deshalb stellte ich mich wohl wie der letzte Depp an.



„Ich? Äh...nicht das ich wüsste.“



Sie lächelte und deutete auf ein titansilbernes BMW Einser Cabrio mit offenem, schwarzen Stoffverdeck und trendiger, zweifarbiger Lederausstattung in Savannabeige und Schwarz.



„Wie wär´s mit einer kleinen Spritztour?“



Ich wusste wirklich nicht, von was ich mehr beeindruckt war. Ob von ihrer strahlend blonden Schönheit oder von ihrem schicken Wagen? Keine Ahnung. Jedenfalls war ich noch klar genug im Kopf, um mir ihr reizvolles Angebot nicht durch die Lappen gehen zu lassen.



„Gern. Wohin soll die Reise denn gehen?“ fragte ich und riskierte einen kurzen Seitenblick auf ihre wohlgeformten, langen Beine, die ich mit einer glatten Eins bewertete.



„Wie wär´s mit dem Schwetzinger Schlossgarten?“ entgegnete sie und ging, ohne meine Antwort abzuwarten, in weitausholenden Schritten auf ihren Wagen zu und öffnete die Fahrertür und klemmte sich hinters Lenkrad.



Ich wollte nicht als Spielverderber des Tages ins Guinessbuch der Rekorde eingehen und nahm neben ihr auf dem Beifahrersitz Platz. Sie startete den Wagen per Knopfdruck, schob eine CD in den Player, drehte die Musik auf und fädelte sich in den Straßenverkehr ein. Wir hörten „Bist du am Leben interessiert“ - ein schneller und tanzbarer Song von Xavier Naidoo aus dem Live-Album „Alles kann besser werden“, während unsere Mitschüler mit ihren Autos immer im Kreis wie auf einem Kinderkarussell um den Bismarckplatz - dem Verkehrsknotenpunkt von Heidelberg - herum fuhren und dabei wie die Bekloppten aus den offenen Seitenscheiben hängend „Abiii!“ schrien. Sarah und ich seilten uns auf halber Strecke ab. Wir düsten über die Landstraße nach Schwetzingen. Sie thronte mit stolz erhobenem Haupt wie eine Königin am Steuer ihres nagelneuen BMW Einser Cabrios, dessen Fahrwerk ungewohnt komfortabel abgestimmt war. Wie sie mir erzählte, hatte sie den Wagen von ihren Eltern zum bestandenen Abitur geschenkt bekommen. Irgendwann hielt sie vor einer Kreuzung an und warf mir von der Seite aus einen verliebten Blick zu, den ich mit einem Lächeln erwiderte. Zu meinem Erstaunen schaltete sich vor der Ampel der Motor automatisch ab. Als es Grün wurde und Sarah zum Gangeinlegen das Kupplungspedal durchtrat, sprang der Vierzylinder automatisch wieder an und überraschte mich sehr positiv mit seiner hohen Drehfreudigkeit. Sarah beschleunigte den Wagen und konzentrierte sich aufs Fahren. Ich hörte neben ihr mein Herz laut wie einen Buntspecht klopfen und ließ den Blick über Felder und Wiesen schweifen. Wir fuhren mit neunzig Stundenkilometern die Landstraße entlang und ließen uns durch die heruntergelassenen Seitenscheiben den Fahrtwind um die Nasen wehen. Ich atmete tief durch und versuchte wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Vor dem Ortsschild von Schwetzingen, trat Sarah auf die Bremse und lenkte den Wagen mit fünfzig Stundenkilometern durch die Stadt. Schon bald kam das Schwetzinger Schloss in Sichtweite. Da ich im Geschichtsunterricht gut aufgepasst hatte, wusste ich, dass die Sommerresidenz des pfälzischen Kurfürsten Carl Theodor im achtzehnten Jahrhundert jedes Jahr den gesamten Mannheimer Hofstaat hierher lockte. Staatsmänner, Dichter und Gelehrte hörten Opern, genossen den Spargel und vertraten sich nach dem Lunch im weitläufigen Schlossgarten die Beine. Versailles und Vaux-le-Vicomte inspirierten den Intendanten der Garten- und Wasserkünste Nicolas Pigage zum Bau einer Orangerie und einer Gartenmoschee, einem Tempel und einem Badhaus. Unter der Federführung des Gartenarchitekten Ludwig Sckell, entstanden weitläufige Gartenlandschaften im englischen Stil mit kleinteiligen Rokokokabinetten. Sarah überprüfte mit einer geübten Handbewegung, ob bei ihren Rennfahrerinnenambitionen ihre Hochsteckfrisur auch keinen Schaden genommen hatte, aber sie konnte beruhigt sein, denn alles saß wie festgegossen. Die Sonne spiegelte sich in ihrem hellblonden Haar, und der Fahrtwind strich ihr zärtlich um ihre hochgereckte Stupsnase. Ihr schneeweißes, knielanges Kleid betonte ihre sportliche Figur und ihre schönen Beine. Während sie vor den Toren des Schwetzinger Schlosses links abbog und langsam über den knirschenden Kies eines Parkplatzes fuhr, drehte sie die Musik leiser und schenkte mir ein verführerisches Lächeln.



„Gefall ich dir?“



Ich fraß sie von Kopf bis Fuß mit Blicken auf und nickte.



„Ja. Sehr.“



Sie legte den Kopf schief und schlug die Augen nieder.



„Könntest du dir vorstellen mit mir zusammen zu sein?“



Uff! Sie wollte es wohl genau wissen. Als sich unsere Blicke begegneten, spürte ich wie sehr ich mich doch zu ihr hingezogen fühlte. Ich schmunzelte.



„Machst du Witze?“



„Nein, es ist mein voller Ernst“, sagte sie und beugte sich zu mir hinüber und drückte mir einen dicken Kuss auf die Backe.



Wow! Was für eine Frau!



„Und warum sagst du mir das erst jetzt? Du bist doch schon ein Jahr in unserer Klasse. Hat dich etwa dein Freund verlassen?“



Sie starrte verlegen auf den Boden.



„Ich habe bisher keinen Freund gehabt und war die ganze Zeit mit dem Büffeln für´s Abi beschäftigt.“



Nun, dafür hatte ich durchaus Verständnis. Die scheiß Lernerei für´s Abi sprengte einem fast die Schädeldecke weg. Besonders vor den schriftlichen Prüfungen. Sie musterte mich von oben bis unten und zog mich mit ihren Blicken aus. Ich wurde rot im Gesicht und war total verunsichert.



„Was schaust du mich denn so an?“ fragte ich.



Sie lächelte.



„Ach, ich stell mir gerade vor, wie es wär, wenn wir zusammen ein Kind hätten.“



Die Rädchen im Getriebe ihrer Zukunftsplanung liefen auf Hochtouren. Ich war alles andere als begeistert davon.



„Ein Kind? Aber wir kennen uns doch kaum, Sarah. Würdest du mir den Gefallen tun und bei deiner Zukunftsplanung bitte etwas auf die Bremse treten.“



Sarah verdrehte vielsagend die Augen.



„Es ist doch nur ein Spiel, Lukas. Du hast doch viel Phantasie, oder?“



„Ich hoffe es zumindestens.“



„Also. Dann stell dir halt mal vor, wir wären ungefähr ein Jahr lang zusammen und ich bekäme ein Mädchen von dir.“



„Nur ein Jahr zusammen und schon ein Kind? Und muss es denn ausgerechnet ein Mädchen sein?“ fragte ich mit einem ironischen Unterton in der Stimme und ging auf ihr Spiel ein.



„Ja. Weil ich es so will“, antwortete sie schnippisch.



Ich zuckte mit den Schultern.



„Also gut von mir aus. Soll sie nicht lieber deine süße Stupsnase haben?“



„Einverstanden. Sie muss natürlich meine Stupsnase haben, aber alles andere darf von dir sein“, entgegnete sie.



„Auch meine Ohren?“ fragte ich.



Sie musterte mich aufmerksam.



„Hm...na, dann lieber meine Ohren. Auf jeden Fall deine blaugrauen Augen und deine dunkelbraunen Naturlocken...und deine sinnlichen Lippen. Ansonsten lieber mein Gesicht.“



„Und wie wäre es mit deinen Beinen?“ fragte ich.



Sie lächelte.



„Ja, da hast du recht. Sie soll auf alle Fälle meine Beine haben.“



Ich blies die Luft zwischen den Lippen hindurch.



„Du hast zu viele Puzzleteile für unser Traumkind von deinem Abbild genommen. Das finde ich ungerecht.“



„Oh, das war reine Absicht“, sagte sie lachend



„Darf sie wenigstens meinen Hals haben?“ bedrängte ich sie und betrachtete mich mit prüfendem Blick im rechten Außenspiegel und fügte hinzu: „Du hast mir vorhin zugeflüstert, dass dir mein Hals gefällt, weil er genau zu meinem Kopf passt, und außerdem ist dein Hals zu schmal.“



„Ach, das stimmt doch gar nicht“, rief sie empört und wandte sich zum linken Außenspiegel und fügte hinzu: „Ich weiß nicht was du hast. Wo soll der denn zu schmal sein? Bei dir ist alles doppelt so dick wie bei mir.“



„Schau noch mal genau hin, er ist wirklich sehr schmal. Zu schmal für ein schönes Mädchen.“



Sie zog die Augenbrauen zusammen und legte die Stirn in Falten.



„Blödmann.“



Ich machte eine beschwichtigende Geste und zwinkerte ihr zu.



„Mach doch nicht so ein ernstes Gesicht!“



Mein Lausbubenlächeln verriet mich, als ich im beruhigenden Tonfall hinzufügte: „Bitte ärger dich doch nicht! Sieh mich an! Du hast natürlich den schönsten Hals der Welt.“



Sarah verdrehte vielsagend die Augen und drückte mit dem rechten Zeigefinger auf einen Knopf in der Mittelkonsole. Das schwarze Stoffverdeck ließ sich binnen weniger Sekunden per Knopfdruck elektrisch verschließen. Sie warf noch schnell einen Kontrollblick in den Schminkspiegel. Wir verließen den Wagen, überquerten die Straße und liefen in Richtung Schloss.



„Lass uns weiter von unserem Kind reden, neckte sie mich.“



Ich erwiderte wildgestikulierend wie ein verrückter Professor:



„Es wird zwei vollkommen unterschiedliche mit Schildchen beschriftete Babies geben.“



Sie lachte.



„Hilfe!“



Es fiel mir schwer nicht zu lachen, aber ich riss mich zusammen.



„Das erste Baby wird das Beste von uns beiden in sich vereinen - deinen Traumkörper, meine blaugrauen Augen, dein Einfühlungsvermögen und natürlich meine Intelligenz.“



Sie sah mich neugierig von der Seite an.



„Und das zweite Baby?“



Ich räusperte mich und sagte einen Moment lang nichts, um die Spannung zu erhöhen und antwortete:



„Das zweite Baby wird das Schlimmste von uns beiden in sich vereinen.“



Sie tat, als sei sie zu Tode erschrocken, ging in die Knie und hielt sich mit einer theatralischen Geste die Hände an die Wangen und sah mich mit großen Augen an.



„Und das wäre?“



Ich atmete tief durch.



„Mein Bäuchlein, meine Schüchternheit, dein Bunsen-Zickengehabe und deine Hochnäsigkeit.“



Sie wiegte den Kopf und schien zu überlegen.



„Mir gefällt das erste Baby eindeutig besser“, entgegnete sie schließlich.



Wir sahen uns einen Moment lang in die Augen. Dann prusteten wir laut los und lachten, bis uns die Kinnmuskeln weh taten. Eine bühnenreife Vorstellung. Als wir das Kassenhäuschen erreichten, bezahlte Sarah für zwei Personen den Eintritt. Wir gingen auf das Portal in der Schlossmitte zu. Aus dem Halbschatten traten zwei dunkelblaugekleidete Wachmänner mit dicken Bierbäuchen heraus und kontrollierten die Eintrittskarten. Dann schlenderten wir weiter und blieben einen Moment lang am Zirkel des Schlossgartens stehen, um die Aussicht auf die wunderschöne Blumen- und Pflanzenpracht zu genießen. Sarahs große, blaue Augen strahlten wie bei einem Kind an Weihnachten und Ostern zusammen. Sie ließ den Blick über ein Blumenbeet mit leuchtend roten Tulpen schweifen. Auf der Wiese daneben sprießten purpurviolette Krokusse und gelbe Narzissen. Meine Stiefmutter war eine begeisterte Hobbygärtnerin und hatte mich mal in einer stillen Stunde mit der Welt der Gärten, Pflanzen und Blumen vertraut gemacht. Es war wunderschön im Schwetzinger Schlossgarten und mit Worten kaum zu beschreiben. Wir spazierten Hand in Hand in Richtung des großen Bassins, einem kleinen See, ganz am Ende der breiten Längsachsen, die zum Bassin hin schmaler wurden und am Wegesrand mit Bäumen bepflanzt waren.



„Ach Lukas, ich bin so glücklich. Es ist so wunderschön hier. Findest du nicht auch?“



Ich blickte an den Bäumen vorbei, zurück auf das Schloss zu den spiralförmigen kleinen Hecken, den Broderieparterren, die sich wie Tintenfischfangarme um das Mittelbassin des Zirkels schlangen.



„Ja, es ist wunderschön hier, besonders mit dir“, erwiderte ich und legte meinen Arm um ihre Schultern und fügte hinzu: „Das nächste Mal fährst du aber bitte etwas vorsichtiger.“



„Warum, bin ich dir zu schnell gefahren?“ fragte sie und zwinkerte mir zu.



Ich zog die Augenbrauen zusammen.



„Allerdings. Wäre doch schade um dein neues Auto, oder?“



„Entschuldige, war reine Absicht.“



„Danke übrigens“, sagte ich.



„Danke für was?“



„Für den Eintritt.“



„Tu mir bitte einen Gefallen“, sagte sie.



„Und der wäre?“ fragte ich und sah sie von der Seite an.



„Lass uns nicht über Geld sprechen“, antwortete sie.



Ich kratzte mich am Hinterkopf und legte die Stirn in Falten.



„Einverstanden“, entgegnete ich, wobei ich mich etwas zurückfallen ließ und sie prüfend von der Seite aus betrachtete und hinzufügte: „Das Kleid steht dir wirklich gut. Es betont deine schönen Beine.“



„Danke. Ich hoffe nur, du magst auch noch etwas anderes an mir als meine Beine.“



Ich räusperte mich.



„Zum Beispiel deinen Mut.“



Sie sah mich erstaunt an.



„Meinen Mut?“



Ich nickte.



„Na, immerhin hast du ja den ersten Schritt gemacht.“



„Hm, stimmt. Eigentlich hättest du als Mann ja die Initiative ergreifen können, wenn du nicht so verdammt schüchtern wärst.“



Ich musste lachen, denn sie hatte ja so recht. Meine Schüchternheit war wohl eine meiner größten Schwächen.  



„Danke für das Kompliment.“



„Nichts zu danken. Sag, Lukas, liebst du mich?“ fragte sie und blickte mir tief in die Augen.



„Ich liebe dich von Herzen, Sarah. Und du? Liebst du mich denn?“



„Ach Lukas. Du müsstest doch langsam wissen, dass ich dich liebe, oder? Was willst du denn eigentlich mal werden?“



„Schriftsteller.“



Sie legte die Stirn in Falten.



„Schriftsteller?“



Ich nickte.



„Ja, Schriftsteller.“



„Und von was willst du leben?“ fragte sie.



„Vom Verkauf meiner Bücher“, antwortete ich.



„Aha“, erwiderte sie wenig begeistert und fügte hinzu: „Ich frage mich nur, warum ich mir ausgerechnet einen Freund ausgesucht habe, der unbedingt Schriftsteller werden will.“



„Besser Schriftsteller als Politiker“, konterte ich trocken.



Sie hob fragend die  Augenbrauen.



„Wie meinst Du das?“



Ich holte tief Luft. Ihr höheres-Töchterchen-Gehabe und ihre schöngeistige Neigung die hässlichen Dinge des Lebens auszublenden oder gar zu verdrängen, gingen mir auf den Wecker.



„Ach, Sarah! Mach doch endlich mal die Augen auf! Ich habe im Internet in der Online-Ausgabe der FAZ gelesen, dass mittlerweile fünf Millionen junge Europäer arbeitslos sind. In Griechenland und Spanien hat fast jeder Zweite zwischen fünfzehn und vierundzwanzig Jahren keine Zukunftsperspektive!“



„Mag sein, aber wer arbeiten will, der findet doch Arbeit, meinst du nicht?“ wandte sie ein.



Ich zuckte mit den Schultern.



„Und wenn keine Arbeit da ist? Die Euro-Krise ist bei genauerem Betrachten eine Staatsschuldenkrise. Rate mal wo zuerst gespart wird?“



„Bei den Sozialausgaben?“



„Richtig, aber leider auch an den Ausgaben für Bildung. Das trifft nicht nur die Unterschicht, sondern auch die Mittelschicht.“



Sie rümpfte die Nase und zog einen Schmollmund.



„Muss mich das interessieren?“



„Schaden wird es dir nicht, wenn du es weißt“, antwortete ich.



Sie legte den Kopf schief und machte eine bedeutungsvolle Pause.



„Also...ich habe in der Online-Ausgabe der Zeit gelesen, dass die Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland vergleichsweise gering ist. Bei uns liegt sie bei 9,1 Prozent. Das sind ungefähr 430 000 junge Menschen ohne Arbeit. Der Beschäftigungspakt und die verstärkten Ausbildungsbemühungen der deutschen Wirtschaft funktionieren meines Wissens nach ganz gut. Die duale Berufsausbildung hilft dabei, dass junge Leute Berufspraxis erwerben und die Arbeitgeber kennenlernen können. In anderen Ländern verläuft die Ausbildung an den Schulen oft nur theoretisch ab.“



Eins musste man Sarah lassen; sie war ein kluges Kind und las im Internet regelmäßig Zeitung.



„Okay. Zwei zu Eins für dich, Sarah. Nur zu deiner Information...rund die Hälfte aller Arbeitsverträge von jungen Leuten sind befristet“, gab ich zu Bedenken.



Sie lächelte.



„Gut. Ein Punkt für dich. Das bedeutet Gleichstand. Können wir vielleicht auch mal über etwas anderes reden?“ fragte sie leicht genervt. 



„Weißt du eigentlich schon, was du studieren willst?“ erwiderte ich und wechselte ihr zu Liebe das Thema.



„Zahnmedizin“, antwortete sie wie aus der Pistole geschossen.



Ich war nicht sonderlich überrascht. Ihre Eltern waren beide Zahnärzte und führten im noblen Heidelberger Stadtteil Neuenheim eine gutbesuchte Praxis.



„Sehr vernünftig. Du hast es halt gut.“



Sie verdrehte die Augen.



„Und warum habe ich es deiner Meinung nach gut?“



„Du brauchst nur fleißig Zahnmedizin zu studieren und kannst dich danach ins gemachte Nest setzen.“



Sie wirkte gereizt.



„Erspar mir bitte deinen Sozialneid, Lukas. In Krisenzeiten sollte man kein Risiko eingehen. Um vom Schreiben leben zu können, muss man den Nerv der Zeit treffen und einen Bestseller vorlegen oder man hat schon einiges an Büchern veröffentlicht“, sagte sie mit einem angriffslustigen Tonfall in der Stimme.



„Sehr vernünftig. Ich werde mich für Jura einschreiben“, erwiderte ich scheinbar beiläufig.



Sie überlegte einen Moment und strahlte mich an und schmiegte sich an mich.



„Genau so machen wir es! Ich werde Zahnärztin, und du wirst Rechtsanwalt!“



„Schön dass wir zur Abwechslung mal einer Meinung sind“, antwortete ich mit einem ironischen Unterton in der Stimme.



„Ach, Lukas“, seufzte sie.



Ich küsste sie und nahm sie in die Arme.



„Was ist?“ fragte ich.



„Mir kommt das alles wie ein schöner Traum vor“, erwiderte sie.



„Wie meinst du das?“



„Naja, das mit uns.“



Sie drehte sich um und schaute zum Barock-Schloss und ließ den Blick über die geschwungenen zurechtgestutzten Hecken wandern. Wir setzten unseren Spaziergang fort und flanierten die breite Allee weiter in Richtung des großen Bassins entlang und kamen an einem Beet mit samtig dunkelroten Rosen vorbei, deren starker Duft aus den großen gefüllten Blüten äußerst betörend wirkte.



Ich seufzte und fügte hinzu:



„Also, wenn ich mir überlege, was das für eine Mühe macht diesen riesigen Schlossgarten und die vielen Blumenbeete zu pflegen, dann gute Nacht.“



Wir hatten inzwischen das große Bassin erreicht und standen händchenhaltend im Halbschatten der Bäume und ließen die Blicke über den See gleiten, der still und friedlich zwischen den Bäumen eingebettet lag. Dann setzten wir uns auf eine steinerne Bank, umrahmt von hellvioletten Primeln, deren trichterförmige Blüten an den Enden straff aufrechter Stiele in kugelförmigen Köpfen endete. Ein Platz, wie geschaffen für ein verliebtes Pärchen. Sarah schlug die Beine übereinander. Am azurblauen Himmel zog ein Vogelschwarm seine Kreise. Es kam mir vor als ob ich eine Acht wie zwei nebeneinandergelegte Ringe gesehen hatte. Ich schluckte, denn auch wenn ich nicht abergläubisch war, so kam mir das Zeichen am Himmel doch wie eine Ermunterung vor. Was mich überraschte, war die starke Anziehungskraft, die Wärme und das Vertrauen, die Sarah mir gegenüber ausstrahlte. Mein Blick schweifte verträumt über den glänzenden dunkelgrünen See einem Schwan hinterher, der stolz und schön im großen Bassin seine Runden drehte. Sarahs Hand berührte meine Hand. Sie sah mich von der Seite aus an.



„An was denkst du?“ fragte sie.



„An uns“, antwortete ich.



Sie schenkte mir einen verführerischen Augenaufschlag.



„Ich fände es schön, wenn wir später nach Heidelberg zurückfahren und in der Kaffeerösterei Florian Steiner auf unser bestandenes Abitur anstoßen würden.“



Ich hob die Augenbrauen und blickte sie fragend an.



„Willst du bei dem schönen Wetter etwa drinnen sitzen?“



Sie schüttelte den Kopf.



„Nein, draußen natürlich.“



Ich nickte und konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen.



„Dein Wunsch sei mein Befehl...nur...ähm...wie soll ich später nach Hause kommen?“



Sie warf mir ein schelmisches Lächeln zu.



„Betrachte dich zum Übernachten eingeladen.“



„Und wo? Auf dem Sofa im Wohnzimmer oder bei dir im Bett deines Schlafzimmers?“



Sie lachte und entblößte dabei ihre perlweißen Zähne.



„Warte es doch einfach ab. Du kannst bleiben, solange du willst. Bis es dir zu viel wird und du mich nicht mehr ertragen kannst. Kannst du mich denn noch ertragen?“



„Bis jetzt schon“, antwortete ich mit einem sarkastischen Unterton in der Stimme.



„Na, da bin ich ja beruhigt“, sagte sie.



Ich musste grinsen.



„Ihr Frauen seid uns Männern in punkto Zukunftsplanung meilenweit voraus.“



Sarah lachte, und dann lagen wir uns auch schon in den Armen und küssten uns herzlich und innig. Ich flüsterte ihr ins Ohr, dass ich gerne mal das neue Gartenlabyrinth ausprobieren wollte. Sie war neugierig geworden und nahm meine rechte Hand und lief mit mir in Richtung des Labyrinths aus drei Meter hohen Gartenhecken. Sarah blieb neben mir stehen und blickte mit großen Augen bewundernd auf den kunstvoll gestalteten Torbogen des Eingangs.



„Ist das ein echtes Labyrinth, Lukas?“



Ich lächelte.



„Sieht so aus. Hm...sehr echt und sehr natürlich, würde ich sagen. Es ist einzig und allein aus Gartenhecken geformt. Wenn du willst, können wir ja mal einen Blick hinein werfen.“



Sie blickte mich fragend an.



„Ist das nicht ein wenig gefährlich, Lukas? Wir könnten uns verlaufen.“



Ich winkte ab.



„Vertrau mir. Ich kenn mich in dem Labyrinth wie in meiner Westentasche aus.“



Sie musterte mich mit skeptischer Miene von der Seite, überlegte einen Moment und nickte schließlich.



„Gut, von mir aus. Aber nur, wenn du voraus gehst.“



Ich nickte.



„Mach ich.“



Dann betrat ich vor ihr herlaufend das Labyrinth. Um uns herum herrschte plötzlich Totenstille. Kein Vogelzwitschern. Nichts als dunkelgrüne Gartenhecken, die wie Schallschutzmauern wirkten. Sarah machte einen erstaunten Eindruck.



„Hey, hier hört man ja keinen Mucks mehr.“



Ich grinste.



„Als wenn einem jemand Watte in die Ohren gestopft hätte.“



Sie schüttelte sich vor Unbehagen.



„Also ein wenig unheimlich ist es schon hier, findest du nicht, Lukas?“



Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen.



„Wie in einer Grabkammer.“



Sie warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu.



„Lukas, bitte.“



Ich zuckte mit den Schultern.



„Hast du etwa Angst?“



Sie wirkte verängstigt.



„Ein wenig schon. Bleib bitte bei mir.“



Ich bemühte mich sie zu besänftigen.



„Keine Angst, bis jetzt habe ich immer wieder den Ausgang gefunden.“



„Na, dann bin ich ja beruhigt“, erwiderte sie mit einem zynischen Unterton in der Stimme.



Aus der Vogelperspektive betrachtet, liefen wir hintereinander Slalom inmitten von drei Meter hohen Gartenhecken. Allerdings ohne Schnee und Skier. Ich hörte hinter mir den Atem von Sarah und begann zu rennen. Sie versuchte noch mir zu folgen, gab es aber schließlich auf, weil ich wesentlich schneller war. Als ich außer Sichtweite war, versteckte ich mich in einer Nische und wartete, bis sie an mir vorbeilief, ohne mich gesehen zu haben. Arme Sarah. Manchmal saß mir doch wirklich der Schalk im Nacken. Ich ließ ihr etwas Vorsprung und folgte ihr unbemerkt.



„LUKAS! LASS BITTE DIE WITZE! WO BIST DU?“ rief sie in die Leere.



Keine Antwort. Sarah blieb einen Moment lang stehen und drehte sich mit suchendem Blick im Kreis. Ich konnte mich gerade noch rechtzeitig verstecken. Ihre Augen weiteten sich vor Angst, und sie fügte mit weinerlicher Stimme hinzu: „WAS HAB ICH DIR NUR GETAN? LUKAS! KOMM SOFORT ZURÜCK UND HOL MICH HIER RAUS! BITTE!“



Dann ging sie weiter und begann zu schluchzen. Das hatte ich nicht gewollt. Meine arme Sarah! Ich hatte Mitleid mit ihr und beeilte mich und schlich mich auf leisen Sohlen wie ein Indianer von hinten an sie heran und tippte ihr auf die Schulter. Sie drehte sich blitzschnell mit angstverzerrter Miene um, und als sie mich sah, warf sie mir einen vorwurfsvollen Blick zu.



„Hab ich dir etwa Angst eingejagt?“ fragte ich grinsend.



Sie nickte und kam mit hochrotem Kopf und wütender Miene auf mich zu und holte mit der rechten Hand zu einer Ohrfeige aus. Ich konnte mich gerade noch rechtzeitig wegducken. Doch Sarah hatte mit ihrem ausgestreckten rechten Arm so viel Schwung drauf, dass sie ins Leere traf und sich wie ein Kreisel um ihre eigene Achse drehte. Beinahe hätte sie das Gleichgewicht verloren, wenn ich sie nicht in letzter Minute aufgefangen hätte. Sie atmete schwer. Ich nahm sie in die Arme, zog sie an mich und wollte sie küssen. Doch sie wich mir aus und löste sich mit einer behenden Bewegung aus meiner Umarmung.



„Mach das bitte nie wieder, ja?“



Ich spielte den Unschuldsengel und zuckte mit den Schultern.



„Was denn?“



Sie atmete tief durch und legte die Stirn in Falten und sah mich mit ernster Miene an.



„Einfach abzuhauen und mich allein zurück zu lassen.“



Ich spürte, dass ich offenbar zu weit gegangen war und räusperte mich und senkte den Blick und ging einen Schritt auf sie zu. Sarah stemmte die Hände in die Hüften und streckte mir wie ein kleines, böses Mädchen die Zunge heraus und fing an zu rennen und lief vor mir weg. Ich folgte ihr, aber diesmal war sie schneller als ich und schon bald außer Sichtweite. Was für ein Luder! Sie hatte den Spieß einfach umgedreht! Nun, anscheinend kannte sie sich in dem Labyrinth doch besser aus als ich dachte. Jetzt wurde zur Abwechslung mal ich nervös.



„SARAH! HE! WARTE BITTE!“  rief ich ihr hinterher.



Keine Antwort. Ich legte beim Rennen einen Zahn zu. Zum Glück erreichte ich schon bald den Ausgang und blickte mich um, aber von Sarah war weit und breit keine Spur zu sehen. Wo war sie nur? Ich atmete tief durch und war besorgt. Plötzlich tippte mir jemand von hinten auf die rechte Schulter. Ich zuckte vor Schreck zusammen.



„Hast du mich vermisst?“ fragte sie mit einem breiten Lächeln auf den Lippen.



Ich atmete tief durch und schüttelte lachend den Kopf, und in meinen Augen war Erleichterung zu sehen. Sarah lachte ebenfalls. Ich nahm sie in die Arme, zog sie an mich und küsste sie auf ihre warmen Lippen. Am Horizont tauchte die Sonne ab und wechselte die Farbe von Goldgelb auf Orange und Karminrot, während wir an einem Beet mit apricotfarbenen Dahlien mit seerosenförmigen Blüten vorbei in Richtung Ausgang spazierten.



 



Kapitel 2



 



Wir lauschten Xavier Naidoos wunderschönem Titelsong „Alles kann besser werden“ mit Gastsängerin Janet Grogan auf dem gleichnamigen Album und ließen uns den Fahrtwind um die Ohren wehen, als wir mit offenem Verdeck und heruntergelassenen Seitenscheiben auf der Landstraße von Schwetzingen nach Heidelberg fuhren. Sarah machte hinterm Lenkrad eine gute Figur. Sie hatte einen flotten aber sicheren Fahrstil drauf. Als wir das Ortsschild von Heidelberg vor uns sahen, nahm sie den Fuß vom Gas und lenkte den Wagen souverän durch die Stadt. Nachdem wir die Theodor-Heuss-Brücke überquert hatten, bog sie von der vielbefahrenen Brückenstraße in die Ladenburger Straße ein. Wir fuhren am Marktplatz vorbei und waren mittendrin im noblen Heidelberger Stadtteil Neuenheim. Man musste schon gut verdienen, um sich eine der Villen leisten zu können. Sarah parkte den Wagen vor der Kaffeerösterei Florian Steiner - ein schicker Laden zwischen Lutherstraße und Schröderstraße, der bekannt für seine erlesenen Kaffeespezialitäten war. Hier gaben sich die jungen Damen und Herren des Großbürgertums die Klinke in die Hand. Man war unter sich und hatte seine Ruhe von den Touristen in der Altstadt. Wir stiegen aus und hielten nach einem freien Plätzchen Ausschau. Draußen vor der  stilvoll eingerichteten Kaffeerösterei war noch ein kleiner runder Tisch für zwei Personen frei. Sarah setzte sich mir gegenüber und schlug die Beine übereinander.



„Und, wie gefällt dir der Laden?“ fragte sie.



Ich schaute mich um und wirkte ein wenig befangen, weil ich als Sohn eines Industriekaufmanns und einer Sozialpädagogin nicht wie Sarah in der Welt des Großbürgertums zu Hause war.



„Gut, aber an das Publikum muss ich mich erst gewöhnen.“



Sie lächelte und winkte die Bedienung heran.



„Zwei Havanna-Cola ohne Eis, bitte.“



Die Bedienung nahm Sarahs Bestellung auf und kam wenige Minuten später mit zwei Havanna-Cola ohne die lästigen Eiswürfel zurück. Ich legte die Stirn in Falten.



„Und wer soll dann bitteschön von uns den Wagen nach Hause fahren?“



„Den können wir stehen lassen. Wir müssen nur die Schröderstraße entlang laufen und dann rechts in die Werderstraße einbiegen und schon sind wir da.“



„Okay. Du bist hier zu Hause, nicht ich.“



Sarah lächelte mich an.



„Mach mal bitte die Augen zu. Erst öffnen, wenn ich es sage, ja?“



Ich zuckte mit den Schultern und schloss die Augen. Sie kramte in ihrer Handtasche.



„So, jetzt kannst du sie wieder aufmachen.“



Ich öffnete die Augen und staunte nicht schlecht als mein Blick auf zwei Einladungskarten fiel.



„Abifete im Pfälzer Garten am Heidelberger Schloss? Wie bist du denn daran gekommen?“



Sie legte ihre Hand auf die meine und sah mir tief in die Augen.



„Bitte frag nicht weiter. Lass uns einfach zusammen hingehen, ja?“



Ich sah sie mit einem Ausdruck von Verwunderung an und zuckte mit den Schultern.



„Hm...wusste gar nicht, dass du Geheimnisse vor mir hast.“



„Wie gefällt es dir denn hier in Neuenheim?“ fragte sie und versuchte abzulenken.



„Mit dir oder ohne dich?“ erwiderte ich mit einem breiten Grinsen auf den Lippen und spürte wie mir der hohe Alkoholgehalt vom Havanna-Cola ins Blut schoss. Sie reckte ihre Stupsnase in den Wind und sagte mit leicht schnippischem Tonfall:



„Sag bitte nicht, dass es dir in der Altstadt besser gefällt.“



„Na, sagen wir es so. Ohne dich halte ich es weder in deinem geliebten Neuenheim noch in der Altstadt aus.“



Wir lachten. Der Havanna-Cola entfaltete langsam aber sicher seine Wirkung. Sarah begann zu kichern. Beschwipst wie sie war, merkte sie nicht wie sich eine blonde Strähne über ihrer Stirn löste und ihr ins Gesicht fiel. Ich flüsterte ihr ins Ohr, dass sie verführerischer denn je aussah und verglichen mit den anderen jungen Damen draußen vor der Kaffeerösterei, mit Abstand die schönste Frau war. Sie rückte näher an mich heran. Ihre Hand suchte die meine. Ich spürte wie ihre Wärme durch meine Haut wanderte und von den Fingerspitzen bis in mein Herz strömte. Als sie mir unter halbgeöffneten Augenlidern den Blick zuwandte, kam es mir vor als ob ich von ihren strahlend blauen Augen in die Tiefe ihrer Seele gezogen wurde. Sarah hatte trotz ihrer konservativen Gesinnung ein großes Herz und wollte unbedingt kranken Menschen helfen. Vielleicht lag es an ihrer labilen Gesundheit, weil sie selbst oft auf die Hilfe ihrer Nächsten angewiesen war. Jedenfalls war ich mir sicher, dass aus ihr mal eine gute  Zahnärztin würde. In ihrer Freizeit verschlang sie die Bücher der großen Romanciers. Die Liebe zur Literatur war unser gemeinsamer Nenner. Sarah war meine Dichtermuse und inspirierte mich zu neuen Geschichten und konnte es kaum erwarten zu lesen was ich über uns schrieb. Sie war meine treueste Leserin, und ihre Meinung war mir sehr wichtig. Wir unterhielten uns angeregt über die lesenswerten Neuerscheinungen auf dem Buchmarkt. Sarah war ein glühender Fan von Charlotte Roche und schwärmte mir von ihrem neuen Bestseller vor, und ich empfahl ihr den neuen Roman von John Irving. Nach einer angeregten Diskussion und einem schönen lauen Sommerabend draußen vor der Kaffeerösterei Florian Steiner, machten wir uns schließlich auf den Heimweg. In der Werderstraße betraten wir einen sanierten Backsteinbau und fuhren mit dem Aufzug in das Dachgeschoss. Sarah wühlte kichernd in ihrer Handtasche, zog einen Schlüsselbund hervor und öffnete die Wohnungstür. Beschwingt vom Havanna-Cola taumelten wir über das versiegelte Parkett eines frischrenovierten, ungefähr einhundert Quadratmeter großen Penthouses. Als Sarah den Lichtschalter an der Wand neben der Tür berührte, machte sie ein Gesicht, als wenn sie von mehreren Halogenstrahlern gleichzeitig geblendet würde. Sie hatte Mühe sich auf den Beinen zu halten. Ich wollte ihr schon zu Hilfe kommen, aber sie lehnte dankend ab. Ihre Hände umklammerten den Türrahmen. Sie sah reichlich blass um die Nase aus. Gut, sie hatte zu tief ins Glas geschaut, aber das allein konnte es nicht sein. Doch sie schien sich wieder zu fangen und ging weiter als ob nichts gewesen wäre. Ich hatte eindeutig mehr mit dem Alkohol zu kämpfen und torkelte an den weißen Designermöbeln vorbei, ihr ins Schlafzimmer hinterher, wo über einem breiten Futon zwei große Dachfenster den Blick in den Himmel zum Sternchengucken freigaben. Wir fielen gleichzeitig wie zwei nasse Sandsäcke mit dem Rücken nebeneinander auf das Bett und schliefen in unseren Klamotten ein.



 



Kapitel 3



 



Unter einem klarer werdenden Sternenhimmel lag die Dämmerung wie ein blaugraues Seidentuch über dem Pfälzer Garten am beleuchteten Heidelberger Schloss und wurde von Minute zu Minute unsichtbarer. Die Veranstalter der Abifete hatten an nichts gespart. Zwischen den Bäumen waren Lichterketten mit hunderten bunten LED-Lämpchen gespannt, um den terrassenförmig angelegten Hortus Palatinus in ein frühlingshaftes Lichtermeer zu tauchen. Unter weißen Zeltdächern, warteten verschiedene Käse- und Wurstplatten auf hungrige Mägen. Eine Bar lud zum Verweilen ein. Hinter dem Tresen waren eifrige junge Männer damit beschäftigt, auch die ausgefallensten Getränkewünsche der Gäste zu erfüllen und servierten Bier, Wein, Sekt, Mix-Getränke, Longdrinks und Cocktails. Die Bar war im vollen Betrieb. Lässig gekleidete, junge Leute zwischen Siebzehn und Zwanzig schwärmten mit vollen Gläsern aus und fanden sich plaudernd und lachend in kleinen Grüppchen herumstehend im Schlossgarten wieder. Es wurde über Mitschüler, Lehrer, Prüfungsstress und Zukunftspläne geredet. Das Thema des Abends war jedoch die Randale von Jugendlichen in London. Meine Altersgenossen und ich, surften täglich mit unseren Smartphones, Tablet-PCs und i-Pads für ein paar Stunden im Internet, checkten die Nachrichten und Freundesanfragen auf unseren sozialen Netzwerken facebook.com und myspace.com und lasen uns die Online-Ausgaben diverser Tageszeitungen durch. Wir waren über das politische Geschehen in der Welt immer bestens informiert. Ungefähr die Hälfte meiner Mitschüler zeigte Verständnis und Bewunderung für die Randalierer, und die andere Hälfte (und dazu gehörte meine liebe Sarah) lehnte gewaltsame Krawalle mit Sachbeschädigung und Körperverletzung rigoros ab. Gegen friedliche Demonstrationen wie in Athen und Madrid hatte niemand etwas einzuwenden. Dank ihrer Blackberries, besaßen die jungen Engländer einen abhörsicheren SMS-Dienst und verabredeten sich in acht Stadtteilen, um nachts in großen Gruppen durch die Straßen von London zu ziehen. Dabei schlugen sie Schaufensterscheiben ein und nahmen sich mit was ihnen gefiel und zündeten Autos an. Der eigentliche Auslöser für die Krawalle, war nach Worten des Soziologen Paul Bagguleys, die Wut über das Fehlverhalten der Polizei im Zusammenhang mit der Erschießung von Mark Duggans. Ein weiterer Grund für die Proteste war wohl auch die einmalige Chance sich durch Plünderungen zu bereichern. Die Plünderer waren meist Arbeitslose und Geringverdiener. Unter der jetzigen Regierung besaßen sie deutlich weniger Geld als noch vor ein paar Jahren. Musste das sein? Warum wurden die Kürzungen nicht rückgängig gemacht? Manche meiner Mitschüler fragten sich, wie lange es wohl dauern würde, bis in den Straßen von Berlin die ersten Schaufenster zu Bruch gingen, aber wir waren uns alle einig, dass es den Jugendlichen in Deutschland einfach noch zu gut ging. Trotz dieser leidenschaftlich geführten politischen Debatte ließ sich niemand die Laune verderben. Die bunten LED-Lämpchen wetteiferten mit dem Strahlen auf den Gesichtern. Abiii! Feierlaune. Partymeile. Sarah und ich warfen uns verliebte Blick zu. Sie stand in ihrem schneeweißen, knielangen Kleid neben mir und nippte an einem Havanna-Cola. Ihr hochgestecktes, hellblondes Haar schimmerte wie eine Krone im Mondlicht. Zu meinem Leidwesen bemerkte ich, wie ihr ein paar ehemalige Mitschüler bewundernde Blicke hinterher warfen, doch sie gab mir das sichere Gefühl nur für mich geboren zu sein und schenkte mir ihre ganze Aufmerksamkeit. Als uns die Musik zu laut wurde, suchten wir uns ein ruhigeres Plätzchen. Wir schlenderten Hand in Hand die Scheffelterrasse entlang, vorbei an riesigen Mammutbäumen. Der Mond spendete nun seinen vollen Glanz dem Schlossgarten, der an ein Märchenland erinnerte, mit Sarah und mir als Prinzessin und Prinz. Zu unserer Freude entdeckten wir einen efeuumrankten Pavillon, in dem wir eine Zeit lang ungestört sein konnten, um uns mit ein paar Zärtlichkeiten den stimmungsvollen Abend zu versüßen. Von der Ferne schwappte in sanften Wellenbewegungen die Musik zu uns herüber. Der von Efeublättern umrankte Pavillon ließ nur wenig Licht ins Innere fallen.



„Hast du Streichhölzer dabei? Mach bitte eins an...ich möchte dich sehen“, flüsterte sie leise. 



Ich griff in die Sakkotasche, holte eine Streichholzschachtel hervor, entnahm ein Streichholz und streifte es mit einer geübten schnellen Handbewegung an der rauhen Schachtelseite entlang. Eine kleine Flamme erhellte unsere Gesichter. Sarah schien sich in meiner Gegenwart sichtbar wohl zu fühlen, denn ihre Augen schimmerten wässrig, und ihre Gesten waren von Zärtlichkeit erfüllt. Ich kam mir vor wie in einem Traum, so als wäre alles nur ein Hirngespinst meines Unterbewusstseins. Erst das Erlischen der Streichholzflamme und die Wärme von Sarahs Hand, und der Klang unserer Stimmen, die im Flüsterton verharrten, erinnerten mich daran, dass dies alles wirklich war.



Ich räusperte mich.



„Sag, liebst du mich?“



Sie schlug die Augen nieder und nickte mir zu.



„Ja, ich liebe dich.“



„Ich dich auch, Sarah“, antwortete ich und erhob mich und nahm sie an die Hand und zog sie aus dem efeuumrankten Pavillon heraus. Wir liefen bis zum Ende der Scheffelterrasse. Dort blieben wir stehen und genossen den wunderbaren Ausblick über die Dächer der Altstadt und die alte Brücke hinweg in die endlos weite Rheinebene hinein. Die Lichter der Stadt spiegelten sich auf der dunkelglänzenden Wasseroberfläche des Neckars. Aus einer übermütigen Laune heraus, kletterte ich auf die steinerne Brüstung der Scheffelterrasse. Dann breitete ich wie ein Hochseilartist die Arme aus und balancierte in kleinen vorsichtigen Schritten die Brüstung entlang. Mein halsbrecherisches Unterfangen stieß nicht unbedingt auf große Begeisterung. Sarah schlug die Hände über dem Kopf zusammen.



„LUKAS! SAG MAL SPINNST DU? KOMM SOFORT DA RUNTER!“



„Aber Sarah, jetzt hab dich doch nicht so. Hast du etwa Angst um mich?“



„NATÜRLICH HAB ICH ANGST UM DICH!“



„Und warum, wenn ich fragen darf?“



„Weil ich dich liebe, Lukas.“



„Von ganzem Herzen?“



Sie verdrehte die Augen.



„Ja. Lukas, bitte, tu mir den Gefallen und komm sofort da herunter“, sagte sie im flehenden Tonfall.



Ich machte nicht den geringsten Versuch ihren Wunsch zu erfüllen, sondern lief seelenruhig mit ausgebreiteten Armen weiter auf der steinernen Brüstung entlang und labte mich an meinem Mut.



„Liebst du mich mehr als dich selbst?“ fragte ich im ernsten Tonfall.



Sie lief neben mir her, überholte mich und blieb ein Stück weit vor mir stehen. Dann drehte sie sich um und blickte mich vorwurfsvoll an.



„Lukas! Was soll die Frage?“



Ich räusperte mich und blieb einen Moment lang stehen.



„Dann folge mir.“



„Wie meinst du das?“



„Steig auf die Brüstung, trete hinter mich und halte dich an meinen Schultern fest, aber tu mir bitte einen Gefallen.“



„Und der wäre?“



„Schau auf keinen Fall hinunter, sonst bist du verloren.“



„BIST DU JETZT TOTAL VERRÜCKT GEWORDEN?“ entgegnete sie und ihre Stimme überschlug sich. 



„Verrückt nicht, aber sehr verliebt.“



„In mich?“ fragte sie leise



Ich lachte.



„Siehst du hier sonst noch jemanden außer uns beiden?“



Sie schaute sich um und schüttelte den Kopf.



„Nein.“



Ich sah ihr tief in die Augen.



„Ich steige hier erst herunter, wenn du mit mir ein Stück des Weges zwischen Leben und Tod gegangen bist“, sagte ich mit ernstem Tonfall, und es hatte nicht den Anschein, dass ich es mir noch einmal anders überlegen würde.



„Ich hoffe du weißt was du tust, ja?“ erwiderte sie mit zitternder Stimme.



„Ach Sarah. Komm, jetzt hab dich doch nicht so.“



„Gut, wie du willst“, sagte sie und kletterte die Brüstung hoch und trat mir wackligen Knien hinter mich und hielt sich mit ausgestreckten Armen wie bei einer Polonaise an meinen Schultern fest.



„Schön festhalten, ja? Bei drei gehe ich langsam los. Auf keinen Fall nach unten sehen. Hast du mich verstanden?“



„Ja, du Spinner“, murmelte sie 



„Gut. Eins, zwei, drei“, sagte ich und setzte mich langsam in Bewegung.



Ein paar unserer ehemaligen Klassenkameraden wurden Zeugen von zwei unsterblich verliebten und wahnsinnig verrückten Turteltauben, die auf der steinernen Brüstung der Scheffelterrasse am Heidelberger Schloss wie auf einem Hochseil balancierten und mit ihrem Leben spielten. Unser Publikum hielt den Atem an und verfolgte unser waghalsiges Unterfangen mit schreckensbleichen Mienen. Während ich den Helden spielte und keine Miene verzog, war Sarah die Angst sprichwörtlich ins Gesicht geschrieben. Kleine Schweißperlen tropften von ihrer Stirn und vermischten sich mit dem Tränendelta auf ihren Wangen. Arme Sarah. Nein, das war nicht fair von mir. Wir hatten gerade die Schule hinter uns und das Abi in der Tasche und waren glücklich wie noch nie. Es ging uns gut. Vielleicht zu gut. Ihre Hände verkrampften sich in meinen Schultern. Sarah sagte hinter mir mit leiser Stimme und im weinerlichen Tonfall, dass sie ein nervenzermürbendes heftiges Stechen in der Stirn spürte, eine Welle aus Schmerz, die sich wie glühende Lava in ihrem Hirn ergoss und ihr die Sinne raubte. Ich drehte mich blitzschnell nach ihr um. Sarah kam ins Taumeln und schien einen Moment lang das Gleichgewicht zu verlieren. Unsere Klassenkameraden kamen schreiend herbeigeeilt. Ich wollte Sarah schon am Handgelenk packen, aber dann breitete sie reaktionsschnell wie eine Hochseilartistin die Arme aus, ging in die Knie und gewann dadurch wieder die Balance zurück. Uff! Sie hatte mich und unsere Klassenkameraden ganz schön erschreckt. Sarah umklammerte mit zitternden Händen und kreidebleich im Gesicht meine Hüften. Wir gingen langsam in kleinen Schritten weiter. Plötzlich rutschte sie mit dem rechten Schuh auf der glatten, steinernen Brüstung aus. Ihre Lippen formten einen Schrei, und ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen. Ich reagierte blitzschnell und packte sie in letzter Sekunde am Handgelenk und sprang mit ihr von der Brüstung auf den sicheren Boden der Scheffelterrasse. Das war gerade noch einmal gut gegangen! Wir lagen uns überglücklich in den Armen und konnten es kaum fassen, dass wir wieder sicheren Boden unter den Füßen hatten. Unsere ehemaligen Mitschüler wandten sich kopfschüttelnd von uns ab und liefen zur Bar, um den Schreck mit Alkohol zu betäuben. Zwei hübsche Brünette mit eifrig wippenden Pferdeschwänzen, informierten das versammelte Partyvolk darüber, dass die Party im Schlosskeller weiterging. Wie mir Sarah zuflüsterte, handelte es sich bei den beiden Brünetten um Anna und Lara, die Veranstalterinnen der Abifete. Sie waren in unsere Parallelklasse gegangen. Ihre Eltern waren Zahntechniker und besaßen ein Dentallabor, das für die Zahnarztpraxis von Sarahs Eltern tätig war. Auf den Steintreppen zum Schlosskeller flackerten an den Seiten hunderte Teelichter. Anna und Lara hatten sich mächtig ins Zeug gelegt und aus dem riesigen Gewölbekeller unterm Schloss eine chillige Clubdiscothek gezaubert. In der Mitte des Raumes lud eine mit fluoreszierender Farbe markierte Tanzfläche dazu ein das Tanzbein zu schwingen. Im Nu füllte sich die Tanzfläche mit Tanzwütigen. Am Bühnenrand rotierten auf einem Brauereitisch zwei Technics-Plattenspieler. Der DJ war ganz in seine Arbeit versunken. Aus den fetten Bose-Boxen an der Decke, dröhnten schnelle, tanzbare Jungle-Beats. In einem kleineren Keller nebenan, gab es Cola-Light für einen und Havanna-Cola für zwei Euro. Sarah und ich wurden von Anna und Lara persönlich begrüßt und bedient. An ihrem selbstzufriedenen Mienen, konnte ich ablesen, dass sie es sehr genossen im Mittelpunkt zu stehen und die Zeremonienmeisterinnen zu spielen. Sie wurden tatkräftig von drei Klassenkameradinnen hinterm Tresen unterstützt. Auf einem der vier Brauereitische standen Schalen mit Schokoriegeln für die hormonbedingten Gelüste der holden Weiblichkeit. Die jungen Frauen auf der Tanzfläche schienen allesamt einem Modekatalog entsprungen zu sein und wären mit Sicherheit geeignete Kandidatinnen für Heidi Klums Laufstegshow Germany´s Next Topmodel gewesen. Ob blond, schwarz, rot oder braun...jede von ihnen war ein Traum. Ich nahm einen kräftigen Schluck Havanna-Cola aus meinem Pappbecher. Sarah wollte unbedingt tanzen. Ich stellte mein Getränk ab. Wir schoben uns so gut es ging durch die Menge auf die Tanzfläche und bewegten unsere Körper wie unter Starkstrom zu „Holt die Seeleute heim“ - ein flotter Soul-Techno-Song auf der CD „Alles kann besser werden“. Sowohl die CD als auch die DVD wurden bei einem Liveauftritt von Xavier Naidoo und Band im Stadion von Oberhausen aufgenommen und spiegelten meiner Meinung nach auf wundersame Weise die ungebremste Spielfreude der Musiker und die begeisterte Stimmung des Publikums wieder. Ich wunderte mich ein wenig über unsere gute Kondition. Anscheinend hatte uns jemand was in die Getränke gemischt. Ansonsten hätten wir wohl kaum bis ins Morgengrauen hinein wie zwei aufgezogene Blechspielzeugpuppen durchtanzen können.



 



Kapitel 4



 



Wenn ich im Traum Flügel hätte, würde ich in der Nacht zum Himmel fliegen und für Sarah einen Stern vom Himmel holen und zurück zur Erde bringen, schön einpacken und ihn ihr schenken. In Gedanken verneigte ich mich vor ihrer Schönheit. Wenn ich in ihre großen, blauen Augen schaute, meinte ich in einem Ozean zu versinken. Wie von Geisterhand wurde ich dann in die Tiefen ihrer Seele gezogen, tiefer und tiefer, bis ich auf dem Meeresgrund, in der Arena ihres Herzens, einer Vielzahl von Stimmungen lauschte, die wie eine große Oper in meinen Ohren klangen. Ich war ein Teil von ihr und sie war ein Teil von mir. Nachdem wir miteinander geschlafen hatten, kam mir die Welt schöner vor als sie es vorher war, und aus mir war ein besserer Mensch geworden. Sarah verzauberte mich. Im Hotel meines Herzens würde immer die Prinzessinnensuite für sie reserviert bleiben. Durch ihr Verhalten gab sie mir deutlich zu verstehen, dass sie mich so nahm wie ich war, mit all meinen Ecken und Kanten. Sie hatte ein Herz für Schriftsteller. Doch das Schriftstellerdasein war kein Honigschlecken. Der junge, unbekannte Poet saß in Wirklichkeit Seite an Seite neben dem Stadtpenner im Garten der Hoffnung und träumte mit ihm gemeinsam von besseren Zeiten. Fleiß und Disziplin waren gefragt. Viele berühmte Schriftsteller verdienten ihre Brötchen vor dem großen Durchbruch mit anderen Jobs und saßen oft noch bis spät in die Nacht am Schreibtisch, um an ihrer Erzählkunst zu feilen. Manche von ihnen ließen sich von einer reichen Dame aus den besseren Kreisen aushalten. So ähnlich ging es mir ja auch. Dank Sarahs Verständnis und ihrer Großzügigkeit, konnte ich mir einen Lebensstil leisten, der mir ansonsten verwehrt gewesen wäre. Nun, ich war nicht arm, aber als Sohn eines Industriekaufmanns und einer Sozialpädagogin, musste ich im Gegensatz zu Sarah, aufs Geld achten. Naja, meine Idee, nach dem Abi Schriftsteller zu werden, fanden meine Eltern überhaupt nicht gut und naiv noch dazu. Erst als ich einlenkte und sagte, dass ich mich für Jura einschreiben wollte, regten sie sich wieder ab. Das Schreiben war für mich eine sehr persönliche Angelegenheit. Ohne ein Ventil, um den seelischen Überdruck loszuwerden und meine Gedanken und Gefühle in Worte zu kleiden, hätte ich das Leben nicht ertragen können. Ich war kein Freund von faulen Kompromissen, aber das Jurastudium hatte erst einmal Vorrang. Nebenbei konnte ich ja immer noch schreiben. Ohne ein abgeschlossenes Studium war man in Akademikerkreisen ein geistiger Dünnbrettbohrer. Ich konnte mich glücklich schätzen, dass meine Eltern beide arbeiteten und als leitende Angestellte genug Geld verdienten, um mir ein Studium zu ermöglichen.



 



Kapitel 5



 



Ein grippaler Infekt legte zu Beginn der neuen Woche mein Immunsystem lahm und zwang mich im Bett zu bleiben und meinem Körper die nötige Ruhe zu geben, die er brauchte, um sich zu erholen. Ich schlief tief und fest wie ein Murmeltier. Als ich in meiner karg möblierten Studentenbude inmitten der Heidelberger Altstadt in der Bussermergasse aufwachte, zeigte der Wecker vierzehn Uhr dreißig an. Zwölf Stunden hatte ich im Traumland verbracht und den geschwächten Körper ruhen lassen. Ich gähnte und stemmte mich mit einem grauen T-Shirt und einem schwarzen Slip bekleidet, aus den Federn und schwankte in Richtung Bad. In Gedanken war ich noch im Traumland. Nachdem ich mich im Zeitlupentempo geduscht, rasiert und angezogen hatte, warf ich auf meiner braunen Ledercouch sitzend, einen Blick durchs Fenster. Der Himmel war von dicken, grauen Regenwolken verdeckt. Ich beschmierte zwei Vollkornbrötchen mit Kräuterquark und dekorierte das ganze mit Gurkenscheiben. Anschließend löffelte ich einen Müslijoghurt aus und schälte mir eine Banane. Vitamine konnte ich jetzt jede Menge gebrauchen. Zur Stärkung meiner Abwehrkräfte, schenkte ich mir ein Glas Apfelschorle ein und gab zwei Esslöffel Apfelessig hinzu, denn Apfelessig stärkte das Immunsystem, förderte den Stoffwechsel und entschlackte den Körper. Eine gesunde Ernährung mit viel frischem Obst und Gemüse war jetzt genau das Richtige. Als ich zwischen dem Essen einen Blick auf das Display meines Smartphones warf, sah ich, dass ich eine SMS von Sarah bekommen hatte. Ich zerkaute langsam das letzte Stück Banane und las sie mir durch:



 



„Guten Morgen, Lukas, schläfst du noch? Wollte nur wissen, ob´s dir wieder besser geht? Ich war bei meiner Vermieterin und habe dir einen Zweitschlüssel für meine Wohnung besorgt. Ach, ich vermisse dich ganz arg. Hab dich lieb. Deine Sarah.“



 



Für gewöhnlich telefonierte ich regelmäßig morgens und abends mit Sarah, aber ich hatte mich dermaßen mies gefühlt, dass ich sie weder am gestrigen Abend noch am Morgen angerufen hatte. Ich wählte ihre Nummer, räusperte mich und sagte:



„Guten Morgen, Sarah. Danke für deine SMS. Tut mir leid, aber mir ging´s gestern Abend ziemlich dreckig. Ich hatte mich total schlapp und krank gefühlt und mich sofort ins Bett gelegt.“



In  ihrer Stimme lag eine große Portion Mitleid.



„Oje, hast du dir etwa eine Angina eingefangen? Wie lange hast du denn geschlafen?“



„Bis um halb Drei“, antwortete ich und gähnte laut und streckte mich.



„Und, geht´s dir wenigstens wieder besser?“ fragte sie.



Ich räusperte mich und neigte den Kopf zur Seite und sagte:



„Naja, geht so. So ganz fit bin ich noch nicht. Und wie geht es dir? Sarah, mein Schatz, du hast in der letzten Zeit öfters über Kopfschmerzen geklagt. Deine Eltern sind doch Mediziner. Hast du sie noch nicht um Rat gefragt?“



„Danke für den Hinweis. Mama hat schon ihren Senf dazu abgegeben.“



„Und?“



„Clusterkopfschmerzen, die zwischen  fünfzehn bis 180 Minuten dauern und bis zu achtmal täglich auftreten können.“



Mir rutschte beinahe das Herz in die Hosentasche. Sie tat mir unendlich leid. Warum ausgerechnet Sarah? Warum?



Ich musste ihr einfach helfen. 



„Kann man denn nichts dagegen tun?“



„Doch. Zum Beispiel Isoptin einnehmen. Du musst dir wirklich keine Sorgen machen.“



„Würde vielleicht eine Operation helfen?“



„Nur wenn es gar nicht anders geht. Dabei werden Neurostimulatoren in die Hinterhauptnerven oder ins Rückenmark oder in die Schmerzzentren implantiert.“



„Klingt nicht so toll.“



„Nicht unbedingt. Dann gehe ich lieber dreimal pro Woche Joggen oder fahre mit dem Rad. Außerdem mache ich schon die ganze Zeit Yoga und autogenes Training.



„Und das hilft?“ fragte ich ungläubig.



„Mir schon“, antwortete sie trocken.



„Hast du schon etwas vor, heute Nachmittag?“



Ihre Stimme klang wenig begeistert als sie antwortete:



„Ich hab mich schon mit Tina im Waggon verabredet. Wir wollten in Ruhe miteinander reden.“



Ich schneuzte mir die Nase und sagte mit verschnupfter Stimme:



„Ah, versteh, Frauengespräche.“



„Ja, Frauengespräche“, entgegnete sie zickig, wurde aber gleich darauf versöhnlicher als sie hinzufügte: „Kurier dich erst mal richtig aus, ehe wir uns wieder treffen.“



„Gut, viel Spaß mit deiner Freundin Tina“, antwortete ich und legte auf.



Daran hätte ich auch gleich denken können, denn der Dienstag war für gewöhnlich Tinas freier Tag, und dann traf sich Sarah meistens mit ihr im Waggon an der Montpellierbrücke - einem zum Restaurant umgebauten Eisenbahnwaggon - und die Frauen zogen bei reichlich Kaffee über die Männer her. Meines Wissen nach, wollte Tina am Wochenende mit ihrem alpinweißen, fünftürigen BMW Einser nach München fahren, um ein paar klärende Worte mit ihrem Freund Wolfgang zu wechseln, der ihr verboten hatte ihn besuchen zu kommen, weil er mit seinen Freunden einen draufmachen wollte. Wochenendbeziehungen hatten leider auch ihre Tücken. Ich konnte mir gut vorstellen, dass bei einer Beziehung auf Distanz, die Gefahr zehn mal größer war, dass man sich auseinanderlebte und sich nichts mehr zu sagen hatte oder sogar fremd ging. Doch bei Tina und Wolfgang mischte ich mich nicht ein. Wolfgang wollte in München bleiben und BWL studieren. Insofern lehnte er einen Umzug nach Heidelberg vehement ab. Vielleicht waren die beiden auch zu bodenständig und zu sehr mit ihrer Heimat verwurzelt, als dass einer von ihnen nachgegeben hätte. Da war es schon wichtig, dass sich Sarah mit ihrer besten Freundin Tina aussprechen konnte. Ich erhob mich, nahm meine dunkelgrüne Barbour-Steppjacke vom Kleiderständer und verließ die Wohnung. Draußen lachte mir die Sonne entgegen. Auf meiner hohen Denkerstirn bildeten sich Schweißperlen vom inneren Kampf des Körpers gegen die aggressiven Grippeviren. Der Erkältungstee zeigte seine Wirkung, machte aber auch müde. Nein, das war keine gute Idee, sich mit einer ausklingenden Grippe unter die Leute zu mischen. Was mich daraufhin erwartete, war ein über sieben Tage andauerndes Delirium aus Schnupfen, Husten, Schüttelfrost, Müdigkeit, Appetitlosigkeit und einer Bronchitis. Ich kraxelte, nicht wissend ob jetzt Dienstag oder Mittwoch war, wie ein alter Mann hustend und niesend die Leiter von meinem Hochbett herunter, um eine Kleinigkeit zu essen und für die Zeit bis der Körper wieder zu schwächeln begann, ein wenig fern zu sehen und legte mich danach wieder ins Bett. Erst Tage später kehrten meine Kräfte wieder langsam zurück. Meine Bewegungen waren langsam und träge wie die eines Zirkusbärs. Ich machte mich in aller Ruhe im Bad fertig, zog mich an und warf einen prüfenden Blick auf das Display meines Smartphones. Sarah hatte an mich gedacht und mir eine SMS geschickt:



 



„Lieber Lukas, die Zeit mit Dir ist wunderschön, und ich möchte sie nicht mehr missen. Ich liebe Dich, Deine Sarah.“



 



Meine Augen wurden von einem wässrigen Schleier verha

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