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Vakuum Kiew

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Für jetzt.de ist Charlotte eine Woche lang mit deutschen Studenten in Kiew unterwegs. Sie will sehen, was von den Protesten geblieben ist, wissen, wie der Staat vorhat, sich neu zu organisieren, und von den Menschen selbst erfahren, wie es ihnen geht. Die Antworten, die sie findet, schreibt sie täglich für euch auf. Die bisherigen Folgen könnt ihr hier nachlesen.

Tag 4
Vor der Fahrt nach Kiew haben mich eigentlich so ziemlich alle gefragt: Ist es dort auch sicher? Ich habe dann immer selbstbewusst abgewunken: Klar, das Auswärtige Amt warnt ja nur vor Reisen auf die Krim und in die östlichen Bezirke Donezk und Luhansk, alles kein Ding. Wenn ich ganz genau in mich hineinhorche, muss ich aber zugeben: Hunderprozentig überzeugt davon war ich nicht. Schließlich ist an den Grenzen dieses Landes Krieg, das muss man ja auch in der Hauptstadt merken, oder?

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Schöne Kuppeln, frittiertes Essen. Manchmal glaubt man in Kiew nicht, dass in diesem Land gekämpft wird.

Nun, nach knapp einer Woche in der Ukraine, weiß ich: Kiew ist eine Blase. Eine mit sehr schönen goldenen Kuppeln, beeindruckenden Sowjet-Denkmälern und ziemlich viel frittiertem Essen, aber eben auch ein Vakuum, das mit dem Lebensgefühl des Rests der Ukraine wohl nicht so viel zu tun hat. Das erzählen uns zumindest fast alle, die wir treffen. Kyryl Savin, Leiter des Kiewer Büros der Heinrich-Böll-Stiftung hat gestern zu uns gesagt: In Kiew beeinflusst der Konflikt das alltägliche Leben eigentlich nur in zwei Punkten: Man sieht mehr Flüchtlinge in der Stadt und alle sorgen sich, ob das Gas im Winter knapp wird. Das war's. Diese Einschätzung deckt sich sehr mit meinen Erlebnissen hier: Alle sprechen von der bald kommenden Kälte, von dem irrsinnig hohen Gasverbrauch der Ukrainer, weil das zentrale Heizungssystem einem keine Möglichkeit lässt, die Temperatur in der Wohnung selber zu regulieren. An den meisten Heizungen ist nicht einmal ein Knopf zum Ausschalten. Stattdessen wird über zentrale Kraftwerke aus Sowjet-Zeiten die Wärme an oder augestellt, das war's. In diesem Winter, in dem die Ukraine kein Gas mehr von Russland bekommt, wohl eher aus.

Kyryl Savin ist auch die erste Person, mit der wir über das sprechen können, was uns gerade alle beschäftigt: Die Eilmeldungen der Nachrichtenseiten, dass russische Truppen an der Grenze zur südöstlichen Stadt Mariupol stehen. Zahlen zwischen tausend und zwanzigtausend Soldaten schwirren umher, jemand sagt, vor dem Verteidigungsministerium würden Mütter dafür demonstrieren, dass die Regierung ihre Kinder aus der Region Donezk abzieht, in der auch Mariupol liegt. Ansonsten scheint draußen die Sonne, Menschen verkaufen Kaffee aus Autos und das Hotel Wlan zickt mal wieder. Alles wie immer. Kyryl Savin kann uns natürlich auch nicht sagen, wie es nach diesen Meldungen weitergehen wird woher auch? Er sagt aber, dass Kiew sicher sei und alles andere müsse man abwarten. Dann diskutieren wir, wie so oft. Ab wann jemand in diesen Konflikt eingreifen sollte, was das mit Russland machen würde und warum es in der Ukraine eigentlich keine grüne Partei gibt. Immer wieder piept und klingelt Savins Handy, die ersten Journalisten aus Deutschland rufen an. Mich beruhigt, dass er hier bei uns im Konferenzraum sitzt.

Nach dem Treffen fahren wir mit der U-Bahn zum ukrainischen Fernsehsender Hromadske.tv. Mir kommt es vor, als würden alle Fahrgäste auf ihre Handys starren und die Nachrichtenlage verfolgen, aber vielleicht checken sie auch einfach nur Facebook. Die Idee zu Hromadske, einem nach eigenen Angaben von Oligarchen und politischen Einflüssen unabhängigen Fernsehsender, entstand schon vor dem Euromaidan. Viele der Journalisten die hier arbeiten, waren vorher bei Oligarchen-Sendern und hatten davon die Schnauze voll. Jetzt produzieren sie Beiträge für einen Kanal, der momentan zwar nicht einmal über Kabel empfangbar ist, ihre Livestreams und Youtube-Videos werden dafür millionenfach geklickt. Nathalia, eine junge Journalistin bei Hromadske, nimmt sich ein paar Minuten Zeit für unsere Fragen, obwohl die Stimmung in der Redaktion spürbar angespannt ist. Ein Kollege in einem Fuck corruption T-Shirt schiebt uns unwirsch zur Seite, ständig klingeln Handys. Die Journalisten müssten Bilder aus den nun bedrohten Grenzgebieten auswerten, den Livestream befüllen. Nathalia erzählt, dass sie in der Ukraine eigentlich einigermaßen unbehelligt von der Politik arbeiten können, die Gesamtlage sei natürlich trotzdem furchtbar. Im Gegensatz zu vielen Orten, an denen wir bisher waren, ist in der Redaktion ein Aufwind zu spüren der Euromaidan hat hier etwas nachhaltig verändert, die Arbeit der Journalisten kommt bei der Bevölkerung an.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Nathalia vom Fernsehsender Hromadske

Nach dem Besuch von Hromadske machen wir noch einen Spaziergang zur Mutter-Heimat-Statue; einer riesigen Frauenstatur, die über die Stadt wacht. Neben ihr steht ein ziemlich brachiales Kriegsdenkmal, dass an den Sieg der roten Armee im zweiten Weltkrieg erinnert. Unter uns fließt der Dnepr. Der Ausblick ist bezaubernd. Trotzdem werden ihn in nächster Zeit wohl kaum mehr Touristen genießen können: Zwar gibt es keine offiziellen Zahlen, allerdings soll die Krise auch für den Kiew-Tourismus katastrophal sein. Danach gehen wir geschlossen essen. Platz für 30 Leute in einem Restaurant zu bekommen, ist momentan kein Problem.


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