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Blau und gelb - wie Europa?

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Für jetzt.de ist Charlotte eine Woche lang mit deutschen Studenten in Kiew unterwegs. Sie will sehen, was von den Protesten geblieben ist, wissen, wie der Staat vorhat, sich neu zu organisieren, und von den Menschen selbst erfahren, wie es ihnen geht. Die Antworten, die sie findet, schreibt sie täglich für euch auf. Die bisherigen Folgen könnt ihr hier nachlesen.

Tag 2
Blaue Jeans, gelbes T-Shirt. Ich hatte dieses Outift ganz zufällig gewählt, ich schwörs. Trotzdem kam natürlich von allen der Spruch „Hast du das jetzt extra für Kiew mitgenommen?“ Blau und gelb sind nämlich die Farben der ukrainischen Flagge – und die Stadt ist voll mit ihr. Blau für den Himmel, gelb für die Kornfelder. Die Flagge hat in Kiew seit diesem Jahr mit seinen vielen Kämpfen und Protesten eine neue Bedeutung bekommen. Wer sie zeigt, bekennt sich zur Ukraine als souveräner, unabhängiger Staat, der mehr ist als ein verlängerter Arm Russlands. Viele Menschen in Kiew sagen, sie hätten noch nie so viele ukrainische Flaggen am Nationalfeiertag gesehen wie vergangenen Sonntag.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Viktoriias Fliege

Viktoriia trägt ihre kleine blau-gelbe Fliege unentwegt seit dem Wochenende. „Ich setze damit ein Zeichen“ sagt die Studentin in sehr sicherem Deutsch. Gemeinsam mit einigen Kommilitonen zeigt sie uns heute die staatliche Taras-Schewtschenko-Universität, spricht über ihren Studiengang „Internationale Beziehungen“ und die Perspektiven von jungen Leuten in der Ukraine. Was direkt auffällt: Alle Studenten hier sind pro Europa. „Auch von den Professoren hat sich bei uns keiner pro Russland geäußert, wenn überhaupt waren einige neutral“, erzählt ihr Kommilitone Vasyl, ebenfalls in perfektem Deutsch, und lässt dabei seine Zahnspange blitzen. Weil es gefährlich wäre? „Nein, wir haben ja Meinungsfreiheit. Aber Europa bietet uns viel mehr Möglichkeiten“, sagt Vasyl. Er selbst hat bereits viele europäische Länder bereist, träumt von einem Masterstudium in Leipzig. Aber das ist, wie so ziemlich alles was mit der Ukraine und der EU zu tun hat, sehr kompliziert: Die Ukraine hat als Nicht-EU-Land kein Erasmusabkommen. Wer ins Ausland will, braucht ein Visum, das nicht immer oder für weniger als ein Semester erteilt wird. „Internationale Beziehungen“ ohne internationales Studium, sozusagen. Dabei ist die Schewtschenko-Universität nach Aussage der Studenten die renommierteste des Landes und der Studiengang „Internationale Beziehungen“ nur den besten Schülern vorbehalten. Das Studium gilt als Grundstein für eine Karriere im Auswärtigen Dienst, viele Absolventen würden aber auch bei internationalen Unternehmen oder in der Landesverwaltung arbeiten, erzählt Viktoriia.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Während wir in dem holzvertäfelten Hörsaal sitzen und uns Powerpoint-Präsentationen angucken, treffen sich in Minsk der ukrainische Präsident Petro Poroschenko und Wladimir Putin. Erst am Dienstag hat Poroschenko das ukrainische Parlament aufgelöst und damit, wie bei seinem Amtsantritt versprochen, den Weg für Neuwahlen freigemacht. Vasyl zeigt uns eine Folie des Sicherheitsrats über die Veränderungen des Frontenverlaufs in der Ost-Ukraine, die Botschaft ist eindeutig: Wir haben das Problem mit unserer Armee im Griff. Parallel kursieren allerdings Meldungen über einen zweiten russischen Hilfskonvoi, in der südöstlichen Küstenstadt Nowoasowsk soll es Hunderte Tote nach Kämpfen zwischen ukrainischen Soldaten und russischen Separatisten gegeben haben und ein russischer Panzer hat „aus Versehen“ die ukrainische Grenze überquert. Während wir in Kiew in einer holzvertäfelten Blase sitzen, ist im Ostteil des Landes Krieg. Ich beginne mich zu fragen, wie viel die zukünftigen Jobs der Kiewer Studenten noch mit unserer romantischen Vorstellung eines „Diplomaten“ zu tun haben werden.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Trotzdem wirken Vasyl, Viktoriia und ihre Mitstudenten hoffnungsvoll. Eine Kommilitonin zeigt Bilder von einer studentischen Menschenkette bei den Maidan-Protesten, eine andere sagt mit viel Pathos auf Deutsch: „Wir Studenten haben den Euromaidan vorangetrieben und werden gemeinsam einen neuen demokratischen Staat aufbauen!“. Nur deshalb habe sie sich für den Studiengang „Internationale Beziehungen“ entschieden – weil sie etwas verändern möchte. Nach dem Vortrag erzählen viele Studenten von ihren Erlebnissen beim Euromaidan anlässlich Janukowitschs Weigerung, ein Assoziierungsabkommen mit der EU zu unterschreiben. Manche waren als Helfer dort, haben Lebensmittel und Medikamente organisiert, andere haben dort campiert. In der Uni habe man dann statt „Guten Morgen“ auf einmal „Freiheit für die Ukraine“ als Begrüßung gerufen.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Auf dem Weg zum Ukraine Crisis Media Center, das direkt am Maidan liegt und aus seiner Sicht versucht, Journalisten neutrale Informationen zu dem Konflikt bereitzustellen, unterhalte ich mich weiter mit Viktoriia. Sie erzählt, dass sie für ihren Master nach München kommen möchte, einen Zulassungsbescheid hat sie bereits erhalten. „Allerdings für den Bachelor, ich verstehe nicht warum!“, sagt sie. Bei der Beratungshotline der LMU ginge niemand ans Telefon, auch auf ihre Mails würde niemand reagieren. Wir tauschen Adressen aus, ich biete ihr an, die Post für sie mitzunehmen und persönlich nochmal nachzufragen. Vielleicht ist das die einzige Möglichkeit, wie wir den Ukrainern wirklich helfen können – in dem wir ihnen ein Stückchen des Weges entgegenkommen.


Text: charlotte-haunhorst - Fotos: o.H.

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