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Ein Tag im Leben eines Wikipedia-Wächters

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Die erste Löschung geschieht kurz nach Mitternacht: Der Eintrag des Sängers Nasri Atweh überlebt ganze 62 Sekunden, dann ist er weg. Begründung: „Seiteninhalt war Unsinn“. Kann man nachvollziehen, der Eintrag bestand aus drei Worten: „ER IST HEISS!“  

Mehr als 60 Artikelversuchen wird es im Verlaufe des Tages ähnlich ergehen. Sie werden diskussionslos gelöscht. Auch von mir.  

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Aus allen Löchern kommt die Irrelevanz. Und irgendjemand muss sie beseitigen.

Als Wikipedia-Administrator habe ich die Aufgabe, Unsinn aus dem Enzyklopädie-Projekt herauszuhalten. Auch 13 Jahre nach seinem Start scheint die Mitarbeit bei Wikipedia für viele da draußen immer noch eine mysteriöse Aufgabe zu sein. Vor etwa zwei Wochen hatte der jetzt.de-Autor Friedemann Karig mit einem übertrieben selbstbeweihräuchernden Wikipedia-Eintrag über sich selbst die „Selbstheilungskräfte“ des Enzyklopädie-Projekts getestet und einen Artikel darüber verfasst. Kurz nachdem seine Erkenntnisse auf jetzt.de und in der Süddeutschen Zeitung publiziert wurden, bekam er den Zorn der aufgebrachten Wikipedia-Administration zu spüren. Wenig später wurde sein Wikipedia-Eintrag gelöscht.  

Für Einsteiger und Außenstehende ist die Wikipedia also immer noch eine Black Box: Wenn man versucht, etwas beizutragen, reagiert das System auf eine schwer vorhersehbare Weise. Und das oft mit für den Neuling unbefriedigendem Ausgang: Die Kommentarspalten zu Wikipedia-Einträgen sind in der Regel voll von frustrierten Äußerungen, in denen über die Willkürherrschaft der dortigen Administratoren geklagt wird. Alles würde gelöscht, geblockt und gesperrt. Friedemann hatte die Eingangskontrolle der Wikipedia die „härteste Tür des Internets“ genannt. Grund genug, noch mal genauer zu erklären, was ich und die anderen Administratoren da eigentlich machen. Womit wir tagtäglich konfrontiert sind.  

Deshalb schaue ich mir an einem Montag im August genauer an, was alles in die Wikipedia gestellt wird und was damit passiert. Jeden Tag kommen rund 300 neue Artikel zu den mehr als 1.700.000 bestehenden hinzu, Dutzende werden gelöscht. Kurz nach dem Aufstehen schaue ich mir erstmal bei den Neuen Artikeln an, was die Nacht nach der Löschung des „heißen“ Sängers Nasri Atweh noch gebracht hat. Einige Benutzer waren ziemlich produktiv: Einer hat innerhalb weniger Minuten fünf Übersichtsseiten zu militärischen Einheiten verfasst. Ein anderer steuerte kurz darauf ähnlich schnell fünf Artikel zu Folgen der Filmreihe „Bloch“ mit dem verstorbenen Dieter Pfaff bei. Anschließend kamen einige Bürgermeister von New York und Washington dazu, deren politische Karrieren größtenteils im 19. Jahrhundert endeten. Beim Durchklicken kommt es mir so vor, als könne es jetzt wirklich nicht mehr lange dauern, bis wir fertig sind mit der Enzyklopädie.  

Zu Schulzeiten kommt etwa ab 8 Uhr für gewöhnlich ziemlich viel Unsinn rein. Heute ist es weniger, zum Glück sind gerade Sommerferien, sonst wäre es sicher mehr. Aber dennoch: Gegen 9 Uhr erfahre ich, dass eine gewisse Ellie W. 1788 geboren wurde und erste russische Präsidentin war. Obwohl ich sonst alles glaube, was in der Wikipedia steht, bin ich in dem Fall misstrauisch und konsultiere die Suchmaschine meines Vertrauens. Die weiß davon nichts. Als ich den Artikel löschen will, ist er von einem Kollegen schon entfernt worden, der im Gegensatz zu mir wohl schon seinen ersten Kaffee hatte.  

Es werden immer mehr Artikel eingestellt. Ich erfahre zum ersten Mal von den „Wetu Telu“, einer religiösen Gemeinschaft auf der indonesischen Insel Lombok, und von einem mauretanischen Fußballverein, der seine größten Erfolge in den späten Siebzigerjahren feierte. Dazwischen: Tastaturtests, teils nur zwei Zeichen lang, ausführliche Beleidigungen, das Wort „PENIS“ und Artikelversuche auf Englisch, Portugiesisch und Griechisch. Bei Letzteren handelt es sich um eindeutige Fälle, über eine Löschung muss nicht diskutiert werden. Kaum einer dieser Einträge bleibt länger als drei Minuten. Es erinnert ein bisschen an „Whac-A-Mole“, das Spiel, in dem Maulwürfe aus Löchern hervorkommen und mit einem Hammer zurück in die Löcher geprügelt werden müssen. Nur dass hier eben mehrere Leute mit einem Hammer in der Hand lauern: Sobald ich auf einen Unsinnseintrag aufmerksam geworden bin und das Lösch-Interface aufrufe, ist mir ein anderer Administrator schon zuvor gekommen und ich sehe die Meldung „Die Seite oder Datei konnte nicht gelöscht werden. Möglicherweise wurde sie bereits von jemand anderem gelöscht.“  

Im weiteren Verlauf des Vormittags werden immer mehr längere Texte eingestellt, die offensichtlich eine Firma, ein Produkt oder eine Person anpreisen. Der ungeschickteste davon beginnt mit den Worten „HERZLICH WILLKOMMEN AUF DER OFFIZIELEN SEITE DES WORLD SONG CONTESTES!“ Doch bei manchen ist das Eigenlob auch weniger eindeutig, ebenso die Relevanz. Da ist etwa das 2010 eröffnete Hotel im Frankfurter Bahnhofsviertel, ein Schweizer Hersteller von Wasserrutschen, ein Lets-Play-YouTube-Kanal mit insgesamt 400 Aufrufen und eine kürzlich gegründete Rockband aus Geretsried, die gerade einen Bassisten sucht. Dabei muss sie allerdings ohne die Hilfe der Wikipedia auskommen, der Eintrag ist schnell wieder weg. Bei den Wasserrutschen überlege ich noch. Doch während ich einen Löschantrag formulieren will, hat eine Kollegin bereits das Urteil gesprochen: Auch dieser Artikel ist schon gelöscht.  

Der normale Weg für eine Löschung bei Wikipedia geht eigentlich über eine Diskussion, die mehrere Tage oder manchmal auch Wochen läuft und an deren Ende entschieden wird, ob ein Artikel bleiben darf oder nicht. Nur in eindeutigen Fällen soll direkt gelöscht werden. In der entsprechenden Richtlinie heißt es, dass das beispielsweise bei „zweifelsfreier Irrelevanz“ gemacht werden darf. Ab wann man von zweifelsfreier Irrelevanz sprechen kann, ist dabei umstritten. Die Grenze hat sich in den vergangenen Jahren aber immer weiter verschoben. Bei der Kontrolle neuer Artikel trifft in diesem System außerdem niemals der behutsamste Kontrolleur die Entscheidungen – sondern der schnellste. Das Löschen eines Artikels braucht keine zwei Sekunden, das Formulieren eines Löschantrags dafür deutlich mehr. Und diesem folgt dann auch noch eine lange, oft anstrengende Debatte. Die Versuchung ist also groß, den Prozess abzukürzen. Bei dem Wasserrutschen-Hersteller sollte ich jetzt eigentlich Einspruch erheben. Ich kann mir schwer vorstellen, dass der so eindeutig irrelevant ist, dass man noch nicht mal drüber reden braucht.  

Andererseits: Will ich mich wirklich für einen Text einsetzen, den mit hoher Wahrscheinlichkeit der Marketingreferent oder die PR-Managerin geschrieben hat, um das Unternehmen bekannter zu machen? Alle werbenden Formulierungen müssten erstmal von ehrenamtlichen Mitarbeitern rausgejätet, die Richtigkeit der Angaben überprüft werden. Das Recherchieren seriöser Informationen, die nicht direkt aus der Pressestelle des Unternehmens stammen, dürfte sich schwierig gestalten.

Die Wikipedia ist in der öffentlichen Wahrnehmung die zentrale Wissensressource geworden. Diese Bedeutung macht sie zum willkommenen Ziel für Marketing- und PR-Leute. Kein Wunder, dass die Eingangskontrolleure neuen Autoren mittlerweile mit einem Selbstverständnis entgegen treten, das an die Nachtwache aus „Game of Thrones“ erinnert. Sie reagieren gereizt, wenn sie den Eindruck haben, auf ihrem Rücken würden sich andere profilieren. Entsprechend böse wurde Friedemann Karig von einigen Benutzern angegangen, die sich als „Versuchskaninchen“ missbraucht fühlten.  

Das Ganze ist eine Art Teufelskreis: Mit der Zunahme von mehr oder weniger PR-getriebenen Artikeln  wurde die Geduld der Administratoren zunehmend auf die Probe gestellt. Einer ganzen Reihe von Benutzern, die früher extrem aktiv mitarbeiteten und neue Artikel entweder verbesserten oder zur Löschung vorschlugen, ist darüber die Lust vergangen: Sie haben sich neue Hobbys gesucht. So gibt es seit einiger Zeit mehr ehemalige als aktive Administratoren in der Wikipedia – obwohl dieses „Amt“ eigentlich auf Lebenszeit verliehen wird. Durch diesen Trend steigt wiederum die Arbeitsbelastung der Übriggebliebenen, was sicherlich nicht zu einem entspannteren Klima führt, weder für Neulinge noch für alteingesessene Benutzer.  

Mir selber ist das Kontrollieren neuer Artikel mittlerweile meistens auch zu anstrengend – zumal andere Benutzer, teils von Computer-Scripten unterstützt, das eh schneller erledigen. Allerdings gibt es auch genug anderes zu tun. Nach wie vor existieren riesige Lücken zu Artikelgegenständen, die eindeutig fehlen. Ob bei Kolibri-Arten, bulgarischen Kabinettsmitgliedern oder NFL-Profis - in all diesen Bereichen wird niemand dazwischenfunken, wenn man einen halbwegs seriös verfassten Beitrag einstellt.

Text: kilian-froitzhuber - Illustration: Katharina Bitzl

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