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7,2 Milliarden Briefe

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jetzt.de: Gemeinsam mit der britischen Künstlerin Lenka Clayton willst du jedem Menschen auf der Welt einen persönlichen Brief schicken. Warum?
Michael Crowe: Es ist schön zu wissen, dass man einen Brief bekommt – genau wie jeder andere Mensch, den man je treffen wird, in den man sich verlieben wird oder den man in einer Menge sehen wird.

Stimmt, klingt schön. Wie kamt ihr drauf?
Meine Freundin Lenka blätterte mein Notizbuch durch und sah, dass ich geschrieben hatte: „Was würde ich sagen, wenn ich an alle Menschen auf der Welt einen einzigen Brief schreiben könnte?“ Die Idee war eigentlich, eine einzige Nachricht an die Menschheit zu schicken. Aber dann haben wir sie zusammen verändert und beschlossen: Jeder soll seinen persönlichen Brief bekommen. Das Projekt heißt "Mysterious Letters".

Ein, äh, großes Projekt. Wie geht ihr dabei vor?
Wir wollen alle Orte auf der Welt bereisen. Die Briefe verschicken wir gleichzeitig an alle Bewohner eines Dorfes, eines Stadtviertels oder einer Straße. Durch das Reisen finden wir gemeinsame Interessen mit den Menschen: Wir laufen durch dieselben Straßen, kaufen in den selben Läden ein und haben dieselbe Aussicht. Wir werfen mehrere hundert Briefe in den Postkasten, damit sich der Briefträger und die Bewohner am nächsten Tag wundern.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

 Michael in seiner temporären Briefwerkstatt in Cushendall, Nord-Irland.

Es ist also eine Art Streich?
Die Idee dahinter ist, gemeinschaftliche Neugierde zu wecken und die Leute dazu zubringen, mit ihren Nachbarn zu sprechen. Einmal hat uns jemand per Mail geschrieben, dass er dank der Aktion das erste Mal seit 20 Jahren mit seinen Nachbarn geredet hat. 

Was schreibt ihr denn?
Den letzten Brief haben wir vor ungefähr sechs Monaten verschickt. Das war auf dem Tilburg-Festival in den Niederlanden. Ich glaube, es ging um einen außerirdischen Orangensaft oder so. Genau weiß ich das nicht mehr, weil wir ja so viele Briefe schreiben.

Wie viele waren's denn schon?
2700 in den letzten fünf Jahren. Wir waren erst in Cushendall, einem nord-irischen Dorf, später in Köln, Pittsburgh, St. Gallen, Paris und Tilburg. Genau genommen reicht es uns, an jeden Haushalt der Welt zu schreiben, so bekommt ja auch jeder Mensch einen Brief von uns.

Wie viele Haushalte gibt es denn auf der Welt?
Ein paar Milliarden werden es wohl sein, aber ich mach mir nichts aus Zahlen. Über uns Konzeptkünstler sagt man übrigens, dass wir eher Mystiker als Rationalisten sind. Wir nehmen uns auch Sachen vor, die wir gar nicht erreichen können.

Wie schreibt man 2700 persönliche Briefe an Fremde? 
Wir schreiben nur Dinge, die wir auch unseren Großmüttern sagen würden. Wenn wir jemandem schreiben, tun wir so, als würden wir ihn oder sie kennen. Es fühlt sich also an, als würden wir einem Freund schreiben – was ja auch logisch ist, da jeder Mensch Freundschaftspotenzial hat. Es gibt unendlich viele Dinge, über die man reden kann, die Ideen gehen also nie aus. Es gibt immer einen neuen Gedankentwist, über den man lachen kann. 

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Ein Brief von Michael und Lenka.

Wisst ihr, wie die Menschen auf eure Briefe reagieren? 
In Cushendall haben wir zum ersten Mal Briefe verschickt, etwa 400, haben dann unseren Flug zurück nach England genommen und Fotos von allen Briefen auf eine Homepage geladen. Am nächsten Tag bekam Lenka einen Anruf von der BBC.

Haben die über euch berichtet?
Ja, sie haben einen Reporter hingeschickt und wir konnten die Reaktionen in den Nachrichten sehen. Die Menschen fürchteten sich teilweise! In einer E-Mail an die Schule im Dorf haben wir übrigens geschrieben, dass es ein Post-Mysterium gibt und alle Bewohner als Mini-Detektive an diesem Fall arbeiten sollen.

Und?
Wir bekamen eine Morddrohung, aber auch gute Reaktionen – selbst süße Briefe können Unheil bringen. Als die Leute erfahren haben, was dahinter steckt, fanden sie die Aktion toll. Vielleicht aus Erleichterung. 

http://www.youtube.com/watch?feature=player_embedded&v=dQld1Kyqqg4 Der Bericht der BBC.

Auch in Köln habt ihr Briefe verschickt.
Stimmt, 2011 hatten wir dort eine Art Ausstellung. Wir haben jeden Brief mit Anweisungen in drei Sprachen geschickt: Die Leute sollen in die Galerie kommen, um die Briefe übersetzen zu lassen. In der Galerie warteten Übersetzer. Die Gruppe, der wir geschrieben haben, war hauptsächlich polnisch und russisch. Das Witzige war, dass sie zuerst dachten, es handele sich um einen bizarren Masterplan für ein Verbrechen: Erst die Leute aus dem Haus bekommen, dann ausrauben. Auch die Polizei wurde alarmiert. Später haben alle darüber gelacht.

Wie finanziert ihr die Reisen und Briefmarken? 
Wir haben via Crowdfunding Geld gesammelt, vor allem die New Yorker waren von Anfang an sehr großzügig. Lenka und ich haben viel Spaß daran, uns Belohnungen auszudenken. Zum Beispiel haben wir 0,0001 Prozent des Eiffelturms mit einem Kartoffelschäler abgeschabt und gemeinsam mit einem Liebesbrief verschickt. Oder betrunken Postkarten geschrieben. Außerdem haben uns auch schon Galerien unterstützt, in Zukunft werden wir aber wieder auf Kickstarter sammeln. Schießlich müssen wir noch an viele Orte der Welt Briefe verschicken. 

An vielen dieser Orte können die Menschen kein Englisch. Wie überwindet ihr Sprachbarrieren?
Nur auf Englisch zu schreiben fänden wir arrogant. Deswegen haben wir uns einige Dinge ausgedacht: In Paris haben wir Briefe mit französischer Übersetzung verschickt, in Tilburg mit holländischer. Wir haben schon ganz spezielle Pläne für Orte, an denen es mit der Übersetzung etwas komplizierter werden könnte, aber das ist streng geheim.

Also geht eure Reise weiter?
Ja, wir arbeiten fleißig an unserem Ziel und haben schon Pläne für ein paar nächste Stationen. Wer weiß, vielleicht sind wir morgen in eurer Nachbarschaft. München steht auf jeden Fall auf unserer Liste. 

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



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