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Die Lektion meines Lebens

Illustrationen: Katharina Bitzl

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1. Niemals nachtreten

Es war eine Leistungskursklausur, während der ich beim Spicken erwischt wurde, und man könnte ja meinen, dass das damit dann auch gut ist. Weil: Das System bescheißen, erwischt werden und seinen Abi-Schnitt damit verschlechtern – für mich klingt das, als sei das kosmische Gleichgewicht wiederhergestellt. Für meinen damaligen Wirtschafts- und Rechtslehrer nicht.

Er hatte mir meinen Spickzettel mit viel Tamtam abgenommen. Er hatte, als er ein paar Tage später die korrigierten Klausuren austeilte, auch auf meine Arbeit noch mal geblickt, und zwar ungefähr so, wie man ein Kaninchen vor sich hält, das gerade auf den Teppich gepinkelt hat. Er sagte: „Sieht ja bis zum Abbruch eigentlich alles ganz gut aus.“ Und jetzt, noch mal ein paar Tage später, stand er vor dem Kurs – dunkelgraues Sakko, igeliger Haarschnitt, rahmenlose Brille, die Mundwinkel zu einem Lächeln gestemmt, das Kraft kostet – und versuchte, seinen Vortrag spontan klingen zu lassen. Er sprach von Chancengleichheit und Chancen, die man sich mit Betrug und Unterschleif verbaue, „schon hier, in der Schule“, Pause, langsamer Seitenblick zu mir, „erst recht aber im echten Leben“. Er meine das jetzt, sagte er auch, „ganz allgemein“ und also „überhaupt nicht auf Sie“ (also mich) bezogen. Er benutzte Wendungen wie „charakterlich schwach“, „unfair den anderen gegenüber“. Sogar von „Wettbewerbsverzerrung“ sprach er, offenbar eine Art Gaucho-Tanz für Volkswirtschafter.

Damals war das nur eine wirkmächtige Demütigung, weil ich nicht einschätzen konnte, was nun mein Anteil an all dem war – wie viel davon ich also verdiente. Erst viele Jahre später ging mir auf, was der Lehrer getan hatte. Als ich mich in seine Lage versetzte. Als ich versuchte, mich durch ihn zu sehen: Da hockt also dieser unfertige Haufen Mensch. Er hat jüngst einen formvollendeten Seemannshecht ins Fettnäpfchen hingelegt, hat seinen Eltern und den Eltern seiner Freundin, die in derselben Jahrgangsstufe ist, erklärt, warum er die letzte Stunde der Klausur im Pausenhof verbracht hat. Die Klassenkameraden haben ihm teils freundschaftlich, teils gönnerhaft auf die Schulter geklopft – diejenigen, die ihn nicht mochten, sehr viel fester als man müsste. Und ich, der Lehrer, der ich ihm schon eine Null aufs Blatt gemalt habe, führe ihn auch noch vor. Sehe, wie er daran scheitert, ein gleichgültiges Gesicht aufzusetzen. Sehe, wie die anderen sich immer wieder zu ihm umdrehen. Manche grinsend. Vielleicht sehe ich sogar, dass es in seinem Augenwinkel etwas glitzert. Und ich mache weiter: „Charakterlich schwach“, sage ich. „Echtes Leben“, sage ich, das kennt er ja nicht. Die kleine Wurst.

Und da merkte ich, also die Wurst, dass ich doch eine Lektion gelernt hatte von diesem Lehrer: Tritt niemals nach! Schon gar nicht, wenn du in der stärkeren Position bist. Aber auch nicht von unten. Auf unserer Abifeier stand ich nämlich das letzte Mal neben ihm – Grillbüfett, Rostbratwurst, Maiskolben, Senf. „Ich wollte Ihnen noch etwas sagen“, fing ich an. „Wenn ich Sie nicht gehabt hätte, wäre ich vermutlich gerne in die Schule gegangen.“ Manche Lektionen brauchen leider länger.

Von Jakob Biazza

2. Neugier macht unglücklich

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Vielleicht bin ich der neugierigste Mensch der Erde. Ich liebe es, wenn Menschen mir ihr Innerstes anvertrauen, und ich frage auch immer beharrlich nach, wenn ich irgendwo ein Geheimnis vermute. Trotzdem werde ich eines nie wieder tun: Die Geheimnisse anderer mit Gewalt aufspüren, indem ich in ihren Sachen wühle. Das hat sich dank einiger Fundstücke auf dem Werkzeugschrank meines Vaters für immer erledigt.

Vermutlich war ich damals elf Jahre alt, vielleicht auch schon älter. Mit dem Verdrängen und der Scham verschwimmen die Jahreszahlen. Auf jeden Fall war ich auf einer ganz naiven Mission: Ich suchte mein Geburtstagsgeschenk. Zumindest redete ich mir das ein, als ich an einem langweiligen Nachmittag sämtliche Schubladen und Schränke meiner Eltern öffnete. Das Bewusstsein, etwas Verbotenes zu tun, das sich gleichzeitig wie eine Schatzsuche anfühlte, kickte mich. Ich konnte nicht aufhören, obwohl ich längst Päckchen gefunden hatte. Also schleppte ich auch noch einen Stuhl in den Hobbykeller, um dort auf den Werkzeugschrank gucken zu können. Dort lag eine schwarze Tüte. Aufgeregt angelte ich sie vom Schrank, öffnete sie noch auf dem Stuhl und – presste sie angewidert sofort wieder zu. Aus der Tüte starrten mich Brüste an. Sie waren groß und auf die Hülle einer VHS-Kassette gedruckt. Neben den Brüsten und um die Brüste herum sah ich seltsame Körperteile. Ich hatte die Pornovideos meines Vaters gefunden.

Schnell packte ich das Bündel an seinen Ursprungsplatz, genau so, wie ich es vorgefunden hatte. Tränenüberströmt verbarrikadierte ich mich in meinem Zimmer. Die Sachlage war aus Sicht einer Elfjährigen eindeutig: Mein Vater war pervers. Ob meine Mutter davon wusste? Musste ich sie vor ihm warnen? Andererseits hatte ich Angst, mit der schockierenden Wahrheit die ganze Familie zu zerstören. Nachdem ich viele Tränen in meine Plüschrobbe gerieben hatte, entschied ich mich zum Wohle Aller zu schweigen. Das Verhältnis zu meinem Vater war natürlich trotzdem nachhaltig belastet. Ich ging ihm aus dem Weg und traute mich auch nicht, mit Freundinnen zu sprechen – nicht, dass sie denken würden, alle in meiner Familie, einschließlich mir, seien Schweine. Meine Eltern hatten sich von Papi und Mami zu lüsternen Ungeheuern verwandelt.

Einige Jahre später, mit dem ersten festen Freund, wurde mir dann bewusst, dass viele Männer Pornos gucken. Dass mein Vater ganz normal war und meine Reaktion albern. Die Lektion blieb trotzdem hängen: Ich habe nie wieder in anderer Leute Sachen gewühlt, ganz egal wie groß die Neugierde war. Das Risiko, tatsächlich etwas zu finden, das das eigene Weltbild nachhaltig zerdeppert, ist zu groß. Sogar, wenn ich in einer Beziehung vermute, hintergangen zu werden, stöbere ich nicht im Handy oder PC meines Partners. Damit fahre ich gut. Denn jedes Mal, wenn ein mir wichtiger Mensch vor mir Geheimnisse hatte, kam er irgendwann von selber auf mich zu, um darüber zu reden. Für alles andere gilt das Gleiche wie für die Brüste auf den Videos meines Vaters: Es geht mich nichts an.

Von Merle Kolber

3. Unpünktlichkeit ist Arroganz

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Um 20.23 Uhr kam ich am Eingang des Parks an. 23 Minuten zu spät, für meine Verhältnisse also ziemlich pünktlich. Keine Spur von Kathi, Linda und Susi, mit denen ich zum Joggen verabredet war. Waren sie schon losgelaufen? Unmöglich. Ich hatte noch keine Wo-Bleibst-Du-SMS bekommen, und außerdem war es mein Leben lang so: Ich kam zu spät, meine Freunde warteten.

Vielleicht sind meine russischen Eltern daran schuld. Für sie waren die pünktlichen Deutschen „Terminatoren“ – also übermenschliche Cyborgs, die Termin-Verpasser auslöschten. Meine Geschichtslehrerin, die mich für Unpünktlichkeit fast jeden Tag nachsitzen ließ – ein Terminator. Genauso der Schulhausmeister, der mir keinen Kaffee verkaufte, wenn ich mal wieder so spät zur ersten Stunde kam, dass ich sie lieber in der Cafeteria verbrachte.

Ich verpasste meinen Flug zum Austausch in die USA, mein erstes Date und um ein Haar meine mündliche Abitur-Prüfung. Und trotzdem: Pünktlichkeit blieb in meinen Augen die unattraktivste aller Tugenden. Ein Talent der Menschen, die sonst nichts Besseres zu tun hatten als auf die Uhr zu schauen. Ich hingegen hatte sehr viel zu tun: Auch wenn ich schon eine halbe Stunde zu spät war, gab es immer noch Zeit, einen vorbeigehenden Hund zu streichen. Inzwischen glaube ich auch: Ich kam immer zu spät, weil ich keine Lust hatte, auf andere zu warten.

„Schon auf dem Weg“, sagte Kathi, als ich sie anrief. Oh, wie gut ich diesen Satz kannte. Erst gestern hatte ich ihr „bin schon auf dem Weg“ geschrieben, bevor ich in die Dusche stieg. Ich rutschte auf der Parkbank hin und her. Ich hatte nichts dabei außer einem Handy ohne Internetfunktion. „Wird ein bisschen später“ hieß es um 21 Uhr. Natürlich konnte ich einfach nach Hause gehen. Aber wer schon so lange ausharrt, will erst Recht ein Ergebnis dafür haben. Wahrscheinlich ließ genau das alle anderen auf mich warten. Ich zählte Kopfsteine vor der Bank. Um 21.30 Uhr kam eine SMS: „Sorry, kam was dazwischen, sind gleich bei dir.“ Eine Rentnerin, die ihren Cockerspaniel im Park Gassi führte, fragte, ob alles in Ordnung sei. Zum ersten Mal wurde mir bewusst, was für einen armseligen Eindruck Wartende machten.

Als die drei kurz nach zehn da waren, zischte ich: „Ihr habt zwei Stunden meines Lebens verschwendet!“ Daraufhin rechneten meine Freundinnen mir vor, wie lange ich sie allein in dieser Woche hatte warten lassen: Susi 34 Minuten, Kathi 20 Minuten (und dann noch mal 30). Linda stand vorgestern eine Dreiviertelstunde meinetwegen vor dem Kino. „Wir haben dir so viel Zeit gestohlen, wie du uns“, sagte sie. Still liefen wir zwei Runden durch den inzwischen dunklen Park.

Ich kann leider nicht sagen, dass ich danach nie wieder zu spät kam. Aber ich habe zumindest verstanden, was der Hausmeister meinte, wenn er sagte: Zu spät kommen heißt, seine eigene Zeit für wertvoller zu halten als die der anderen. Seit ich kapiert habe, wie arrogant meine Unpünktlichkeit war, versuche ich mich zu bessern. Ich bin noch nicht ganz am Ziel. Aber ich bin schon auf dem Weg, versprochen.

Von Wlada Kolosowa

4. Frieden mit dem Finanzamt

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Ein Winter, früher Montagmorgen. Ich habe bei meinem Freund übernachtet und muss gleich zur Arbeit: Kellnern, 9-Uhr-Schicht, draußen schneit es leicht, eh schon schlechte Laune. Als ich mit ihm im Flur stehe und meine Schuhe anziehe, klingelt es. Ich öffne, weil ich am nächsten zur Türklinke stehe. „Guten Tag, mein Name ist Maier, ich bin Gerichtsvollzieher, ist der Herr Müller da?“ Herr Müller ist mein damaliger Freund, der natürlich in echt anders heißt. Er ist ein paar Jahre älter als ich, hat sich selbständig gemacht und – wie der graue Herr in der Tür gerade mir und ihm erklärt – seine Umsatzsteuervoranmeldung nicht geleistet und Mahnungen diesbezüglich ignoriert. Ich bin zu diesem Zeitpunkt Studentin, von etwas namens „Umsatzsteuervoranmeldung“ habe ich noch nie gehört. In meinem Kosmos gibt es Arbeitnehmer und Arbeitgeber und Mehrwertsteuer, wenn ich etwas im Supermarkt kaufe. Überhaupt ist mir die Selbständigkeit meines Freundes bumswurscht, er arbeitet halt was.

Was ich aber verstehe: Scheinbar hat er auf Mahnungen vom Finanzamt nicht reagiert und der Gerichtsvollzieher erklärt recht unverblümt, dass er jetzt zum Pfänden da ist. Geschäftig holt er eine Folie mit Aufklebern hervor: Der berühmte Kuckuck – der allerdings gar kein Kuckuck ist, sondern ein runder Sticker mit einem Adler. Den will er auf Wertvolles kleben, um die Steuerschuld einzutreiben. Was das genau sein könnte, ist mir schleierhaft, mein Freund besitzt nichts Luxuriöses in seinem kleinen Apartment. Die Situation ist höchst unangenehm, wir stehen zu dritt im Flur rum, mir ist heiß. Ich bin sicher rotfleckig, wie immer, wenn ich schlimm aufgeregt bin. Dabei betrifft es mich eigentlich gar nicht, ich habe ja nichts verbrochen. Ich fühle mich trotzdem schuldig.

Mein Freund lotst den Gerichtsvollzieher zur Tür raus und geht mit ihm zum nächsten Geldautomaten. Später erzählt er mir salopp, dass er da etwas verbummelt und den Gerichtsvollzieher fast vollständig ausgezahlt habe. In bar. Er könne gar nicht verstehen, warum die gleich so einen Aufstand machten – ginge doch nur um einen Pillepalle-Betrag. Irgendwie nehme ich ihm das nicht ab. Und jenes Intermezzo im Flur lässt mich lange nicht los. Der Gerichtsvollzieher machte mir Angst, noch heute erschaudere ich ein bisschen.

Ich schämte mich für meinen Freund, ich war selbst beschämt. Schulden hatte ich noch nie, bis heute, mit Geldsachen bin ich hyperkorrekt. Allerdings habe ich seit diesem Vorfall einen riesigen Respekt vor dem Finanzamt. Alles, was die wollen, mache ich sofort. Jeden Brief öffne ich mit zittrigen Händen. Ich habe mir direkt bei meiner ersten Steuererklärung eine Steuerberaterin gesucht. Zu groß war die Sorge, ich könnte einen Fehler machen und Beef mit dem Finanzamt bekommen. Heute bin ich ebenfalls selbständig, es ist ein ständiger Zettelkrieg. Aber bevor ich irgendeine andere Rechnung begleiche, bezahle ich zuerst das Finanzamt. Immer. Mein Steuerordner ist so ordentlich, dass sogar meine Steuerberaterin applaudiert. Was ich damals gelernt habe: Never fuck with the Finanzamt.

Von Michele Loetzner

5. Erwachsen werden ist Arbeit

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Nicht mal in die Augen schauen konnte er mir bei unserem Gespräch über den Gartenzaun, mein Nachbar. Der Mann im allerbesten Rentenalter war gekommen, um sich zu beschweren. Über die anderen Nachbarn, die immer im Gemeinschaftsgarten so viel saßen und lachten. Und ich sollte mich jetzt bitteschön gemeinsam mit ihm über diesen Umstand aufregen. Was ich beim besten Willen nicht fertig brachte. Das fünfminütige Gespräch war unglaublich anstrengend. Jeder einzelne Satz schrappte immer gerade so an offener Fremden- und Frauenfeindlichkeit vorbei und seine Versuche, witzig zu sein, waren allesamt auf dem verschwitzt pubertären Niveau eines 13-jährigen Pennälers.

Ein paar Monate ist sie her, diese Begegnung, und sie war von außen betrachtet wenig spektakulär, ein kurzer unangenehmer Plausch mit einem Nachbarn, den man weder gut kennt noch mögen muss. Und trotzdem war es genau diese kleine Begegnung, die mir die Augen öffnete für die ziemlich banale, aber für mich doch einigermaßen bahnbrechende Erkenntnis: Die „Erwachsenen“, also all die Menschen in und um die Generation meiner Eltern, haben ihr Leben gar nicht so im Griff, wie ich es immer gedacht hatte.

Ich war in meinem Kinderglauben immer davon ausgegangen, dass man ab einem bestimmte Alter, spätestens aber, wenn Kinder ins Spiel kommen, aufhört, Quatsch zu machen. Dass man sich nicht mehr von seinen Unsicherheiten behindern lässt. Dass man dann endlich existenzielle Lebensfertigkeiten drauf hat, automatisch kochen, aufräumen, Vorbild sein kann. Dass man im Umgang mit Ämtern und anderen staatlichen Autoritäten selbstbewusst bleiben, Widrigkeiten weglächeln, mit fremden Menschen am Gartenzaun vernünftige Gespräche führen kann und jedenfalls nie mehr das Bedürfnis hat, sich unter einer Bettdecke zu verkriechen und zu warten, bis der Sturm vorbei ist.

Nach der Begegnung mit dem Rentner sah ich auf einmal überall, wie falsch ich mit dieser Annahme gelegen hatte: Die Mutter meiner Schulfreundin war gar nicht nur ein bisschen speziell in ihrer Art, wie ich immer gedacht hatte, sondern bei Licht betrachtet eine knochenharte Egoistin, die ihre eigenen Bedürfnisse immer wichtiger nahm als die der anderen, einschließlich die ihrer Kinder. Die neue Bekannte war gar nicht erst gerade umgezogen, bei der sah es immer so vermüllt aus und ich würde auch nie mehr als ein Glas Leitungswasser von ihr bekommen, weil ihr alles andere zu viel Arbeit machte. Und ja, es gab Menschen, die auch als Rentner nicht in der Lage waren, mit anderen Menschen ein einfaches Gespräch zu führen.

Und mit dieser banalen Erkenntnis sank auch die Hoffnung für mich selbst. Schließlich hatte ich bis dahin immer gehofft, dass ich all diese Dinge, mit denen ich mich so herumquälte, eines Tages automatisch lernen würde: den Umgang mit Geld, Menschen, Behörden, ein gesundes Selbstbewusstsein, Fleisch anbraten. Erwachsen werden war von nun an also doch kein Automatismus, sondern bedeutete weiter viel Arbeit. Und die Möglichkeit, daran zu scheitern, war absolut real. 

Von Christina Waechter

6. Leben sticht Party

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Ich habe Disco geliebt. Aber an einem Januarabend war alles vorbei. Nach einem viel zu langem Neujahrsmorgen aus Kaviar, Kokain und Amy Winehouse – „They tried to make me go to rehab / I said no, no, no“. Rückblickend war dieses Ende ein wundervoller Moment. Denke ich zurück an meine Disco-Phase, stellen sich mir die Haare auf, der Puls steigt. Die Zeiten, die ich einmal unheimlich liebte: Bei mancher Erinnerung möchte ich den Blick abwenden. Doch gewisse Augenblicke sind für immer in die Hirnrinde gebrannt. Gute wie schlechte. Das Leben ist Reibung und Leid. Sonst ist es kein Leben, sagt Dr. Meyer, mein Psychoanalytiker.

Da saß ich nun an diesem Januarabend und sah fern. Einsam. Hübsch mit einer drogeninduzierten Depression. Erst kam eine Sendung über Island, bei deren Farben ich weinen musste. Etwas später ein Film über die Dukha, ein mongolisches Volk von Rentier-Hirten. Diese Schamanin, fast 100 Jahre alt, saß in ihrem Tipi – draußen die klirrend kalte Polarnacht. Ihre Wangen leuchteten rot, vom Wetter gegerbt. Sie rührte in einem Topf und erzählte von den vielen Männern, die sie überlebt hatte. Sie lachte, so ein freudiges, unbefangenes, fürchterlich glückliches Lachen. Danach ritt die Schamanin auf einem mächtigen Rentier durch die Polarnacht, fern jeglicher Stadt. Ich wurde noch trauriger.

Ich raffte mich auf zu meinem Analytiker Dr. Meyer. Erzählte ihm von den Farben von Island. Er horchte auf, zog eine Farbkarte aus dem Regal, ich musste darauf zeigen. Wir sprachen lange über Erdfarben. Und Wünsche. Er fragte: „Wollen Sie von der Discokugel erschlagen werden oder ein Haus im Grünen?“ Mir wurde schlagartig klar: Ich muss raus aus diesem Leben. Rave wird mich umbringen. Ich muss mich neu erfinden: spießig, zurückgezogen auf dem Land, völlig anders als bisher.

Es war die beste Entscheidung meines Lebens. Klar, jetzt scheint alles viel langweiliger. Ich nenne die Nachbarin liebevoll Christel Meth, weil sie so konsequent fröhlich und emsig Mutter eines Rudels Kinder ist. Ich lerne vom Gärtner, wie man Pferdejauche als Dünger für Tomaten mischt. Und ich versuche besser zu werden im Unkrautjäten. Es gibt nichts Schöneres, als an einem lauen Sonntagnachmittag die Katzen Tsunami, Schneewittchen und Humboldt im Garten laut beim Namen zu rufen. An diese Besonderheiten hat sich meine Nachbarschaft schon gewöhnt. Mein Aufputschmittel ist der wöchentliche Edeka-Prospekt am Samstagnachmittag (Zanderfilet! Im Angebot!). Kommt der Zeitungsjunge nicht, tigere ich spätestens um 16 Uhr ums Haus und mache mir Sorgen, ob ihm was passiert ist. Um 20.30 Uhr gehe ich ins Bett, und zwar gerne.

Neulich habe ich eine Kleinanzeige für ein Seegrundstück in Nova Scotia entdeckt. Da könnte ich zu meinen Inuit-Freunden an den Strand laufen und ihnen dabei zuschauen, wie sie einen Pottwal explodieren lassen. Dann hätte ich das, was mich glücklich macht. Ruhe und Natur. 

Von Rose Jakobs

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