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Meine Theorie: Internetlügen machen klüger

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Mit 12 Jahren habe ich eine ganz schlimme Mail bekommen: Ein Mädchen namens Nathalie war schwer an Leukämie erkrankt und suchte ganz dringend einen Blutspender. AB-negativ sollte der sein, eine seltene Blutgruppe, die in meiner Familie aber zufällig jemand hat. Ich war völlig durch den Wind, zeigte die Mail meiner Mutter und machte mir nächtelang Gedanken über die arme Nathalie. Irgendwann gab meine damals ebenfalls noch internetunerfahrene Mutter nach und wir schrieben dem Mädchen zurück. Direkt darauf kam eine automatisierte Antwort: sie schrieb, sie sei Opfer eines üblen Scherzes geworden, habe überhaupt keine Leukämie und man solle sie bitte in Ruhe lassen. Mein erster Hoax.

Jetzt also „Wubbing“. Vergangene Woche wurde das Video bereits auf viralfördernden Seiten wie Schlecky Silberstein oder Eye said it before geteilt, dabei soll es sich um einen Tanz handeln, bei dem man eine Radlerhose mit Phallusartigem Schlegel anzieht. In dem sehr professionellen Filmchen erzählen junge Schwarze, wie sie deshalb verhaftet wurden und eine Pseudo-Managerin erklärt, man könne damit auch in Europa durchstarten.

Das Gute an dem Video: Niemand kommt mehr auf die Idee zu fragen "Ist das echt?" Die Frage lautet nur noch: "Wer steckt dahinter?" Da auf der Webseite alle Links zu McDonald's führen, wird ein Unternehmenssprecher angerufen, der sagt, er wisse von nix. "Lüge" unken die ersten bereits, denn: Das kennen wir ja von Opel. Die hatten auch ganz Deutschland mit ihrer komischen "Umparken im Kopf" Kampagne vollgepflastert und auf Nachfrage erstmal geschwiegen. Am Ende sagten sie dann aber doch stolz: Jep, das war von uns. Habt ihr nicht gedacht, hm? Reingefallen.

Glaube keinem Video, das du nicht selbst gefälscht hast

Wenn ich mir Videos oder kleine Geschichtchen im Internet angucke (und das passiert sehr oft, schließlich arbeite ich bei jetzt.de und wir verlinken das Zeug ja auch fleißig im Tagesblog), ist es mir gar nicht mehr möglich zu denken "Ach nett / lustig / traurig / furchtbar." Ich frage mich nur noch, was die Absicht dieser viralen Geschichte ist. Ein bisschen wie bei den Statistiken, die man ja auch nur glauben soll, wenn man sie selber gefälscht hat - jeder, wirklich jeder, der etwas im Netz hochlädt, verfolgt damit ein Ziel.

Das war so lange okay, wie es ersichtlich war. Wenn Friedrich Liechtenstein für Edeka "Supergeil" singt, finde ich das transparent, weil am Ende eben "Edeka" steht. Bei vielen anderen Filmchen wünscht man sich mittlerweile allerdings oft eine Bundesprüfstelle wie die der ARD, die Youtube Videos aus Kriegsgebieten auf Echtheit überprüft. Jemand der einem sagt: "Diese total lustige Selfie von Ellen deGeneres auf der Oscar-Verleihung war von Samsung gesponsert – du machst dich zum werbegesteuerten Trottel, wenn du es teilst". Der einen davor warnt, der Familie eines kleinen entstellten Mädchens Geld zu spenden, das nach einer Hundeattacke angeblich bei Kentucky Fried Chicken rausflog. Weil die Familie die Geschichte vermutlich erfunden hat (die Hundeattacke leider nicht).

Ich will gar nicht behaupten, dass das Internet je ein Ort der Unschuld war. Aber je mehr die Werbung Internetnutzer als Zielgruppe erkennt und Klickzahlen die Erfolgsmarke sind, umso mehr werden wir auch mit Geschichten geflutet, die vor allem eins sind: Nicht wahr. 
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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert
In Anbetracht der täglichen neuen Filmchen und Geschichten im Internet fällt es schwer, nicht auf einen Hoax reinzufallen 
Nun könnte man virale Geschichten einfach boykottieren. Faktisch bringt das nichts. Zum einen, weil die Menschheit auch ohne mich auf sie stoßen wird, zum anderen, weil diese Geschichten, ob wahr oder erfunden, nun einmal doch oft sehr unterhaltsam sind. Das Meme von Ryan Gosling, der ein T-Shirt trägt auf dem Malcaulay Culkin ein T-Shirt mit Ryan Gosling trägt, war gephotoshopt. Das macht’s natürlich weniger lustig, sieht aber immer noch gut aus.   Da eine Hoax-Bundesprüfstelle momentan nicht realistisch ist (die haben ja nicht mal ein Internetministerium), bleibt nur eins zu hoffen: Dass wir tatsächlich lernfähig sind. Youtube-Videos und Memes als eine Art Kunst betrachten, die beim Zuschauer eine Reaktion provoziert, aber nicht automatisch aus dem echten Leben stammt. Wenn dieses Denken so sehr auf die Spitze getrieben wird, wie bei den vom „Zentrum für politische Schönheit“ angeblich organisierten„Kindertransporten des Bundes“ für syrische Flüchtlinge, kann es sogar wieder umgekehrt funktionieren: Da war eine Aktion von Anfang an ein offensichtlicher Hoax, der aber zum Nachdenken über eine wichtige Sache geführt hat.   Die „Wubbing“-Geschichte war übrigens tatsächlich keine Aktion von McDonald's, sondern von dem US-Komiker Jimmy Kimmel. „Damn you, Jimmy Kimmel“ war einer der häufigsten Kommentare von Leuten, die darauf reingefallen waren. Wenn Leute wie er, die uns nur eine Sendung und zumindest kein Produkt verkaufen wollen, so etwas noch ein paar Mal öfter machen, bleibt die Hoffnung, dass es irgendwann auch der letzte kapiert hat: Das Internet lügt verdammt oft. 
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