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Der Keller  

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert


Nach dem Abi dachte ich, einfach mal ein paar Monate auf dem Bau arbeiten, dass muss geil sein. Den ganzen Tag draußen, körperliche Arbeit, ehrliche Leute. Bis ich dann einen Job auf einer Düsseldorfer Großbaustelle hatte, war es Oktober, den ganzen Tag draußen war nicht mehr der Traum, der er im Juni gewesen war, und körperliche Arbeit hat nun mal auch seine Schattenseiten. Also brauchte ich irgendwann meine Pausen.  

Einfach so herumstehen, damit kommt man auf dem Bau nicht lange durch. Bevor ich durchatmen konnte, hatte einer einen Steinhaufen gefunden, der besser einen Meter weiter links liegen sollte und das war’s dann mit der Ruhepause. Irgendwann führte mich eine dieser Aufgaben in den Keller eines der unfertigen Gebäude. Das war perfekt: kein Licht, kein Regen – und nach einer Weile wird man einfach vergessen. Der Job war gerettet.

Immer wenn ich mal eine Pause brauchte oder mich aufwärmen wollte, ging ich in einen der Keller und setzte mich auf eine Kiste oder einen Stapel. Völlig ungestört.  

Und das Beste: Irgendwann gewinnt man in der Dunkelheit einen unschätzbaren Heimvorteil. Jeder, der neu in den Keller trat, brauchte einige Sekunden, um sich an die Lichtverhältnisse zu gewöhnen. Ich hingegen konnte die orientierungslos Herumirrenden messerscharf sehen. Die Zeit reichte in der Regel, um schnell noch einen beschäftigten Eindruck zu machen. Der Höhepunkt meiner Kellerzeit war sicher, als einer der Kollegen im Dunkeln über eine – für mich deutlich sichtbare – Kabeltrommel stolperte und auf dem frisch bestrichenen Boden landete. Herrliches Gefühl der Überlegenheit.  

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Die Stammkneipe

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert


Dienstagnacht im vorletzten Sommer. Ich bin seit zehn Stunden unterwegs, mit dem Auto aus Hamburg, wo ich ein paar Monate gearbeitet habe. Unterwegs habe ich eine lange Pause gemacht, und ich bin sowieso schon spät losgefahren. Darum ist es fast eins, als ich endlich in München ankomme. Ich bin müde und der Bauch tut mir weh vom langen Sitzen. Ich will nur noch ins Bett.

Als ich die Wohnungstür aufschließe, stehe ich im hell erleuchteten Flur. Aus dem Wohnzimmer kommt Musik, und in der Küche räumt ein fremdes Mädchen mit Putzhandschuhen den Kühlschrank aus. Sie bemerkt mich erst, als ich in der Tür stehe: “Hallo”, sage ich. Mein Untermieter kommt ins Zimmer, das Mädchen ist seine Freundin. Er fragt: “Hattest du nicht gesagt, du kommst morgen?” Hatte ich definitiv nicht. Das weiß ich sicher, weil ich ihm vor ein paar Tagen den Termin noch mal geschrieben habe. Er hatte geantwortet, das wäre in Ordnung. Er würde dann zu seiner Freundin ziehen. Ob einen Tag früher oder später, das wäre egal.

Eigentlich finde ich es scheiße, dass er noch da ist. Ich bin klebrig und staubig und muss dringend schlafen. Aber ich will auch nicht rumspießen. Außerdem bin ich zu müde, um mich jetzt mit diesen fremden Menschen auseinanderzusetzen. Darum sage ich bloß, dass ich in einer Stunde noch mal wiederkomme. Und dann stehe ich im Dunkeln vor meiner Haustür.

Mein Viertel ist nicht unbedingt die Gegend, in der man Dienstagsnachts problemlos noch eine offene Kneipe findet. Aber Glück gehabt: In der Bar gegenüber brennt noch Licht. Leider gehen die letzten Gäste gerade. Der Barmann (er heißt Soner, das weiß ich inzwischen) muss irgendwie gesehen haben, dass ich nirgendwo anders hin kann und winkt mich trotzdem hinein. So ähnlich muss es bei den Alpenvereinshütten sein, die weisen einen auch nicht ab, wenn man im Dunkeln an die Tür klopft. Ich erzähle kurz, was los ist, er stellt mir ein Bier hin und lässt mich am Tresen sitzen, während er den Laden aufräumt und die Tische zusammenschiebt. Eigentlich keine große Sache, und ich bin auch vor dieser Nacht manchmal in dieser Bar gewesen. Aber seitdem ist es meine Stammkneipe.  

Karoline Meta Beisel

Auf der nächsten Seite: Flucht vor dem Prügelproll in den Gitarrenladen



Der Gitarrenladen

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert


Ich war nie gut in der Tanzschule. Vielleicht ist das der Grund, wieso ich als 14-Jähriger an einem Sommertag über Julian herzog. „Blondi“, „Angeber“ – Vergleichbares werde ich meinem besten Freund Björn ins Ohr gefaucht haben, nachdem wir Julian zwanzig Meter von uns in der Hagener Einkaufspassage gesichtet hatten.

Julian konnte gut tanzen. Die Lästerei nahm kein Ende, Björn und ich waren kleine Punkte, die exponentiell hoch über der Rageskala flogen. Das Problem: ein Spitzel (guter Freund von Julian) stand hinter uns. Der Spitzel (größer als wir) petzte und stand im nächsten Moment mit Julian vor Björn und mir, den zwei kleinen Punkten.

Was in den nächsten Minuten passierte, weiß ich nicht mehr so genau. Eskalation. Flüche, Tritte, Schläge, Björn, der pragmatisch zum Bus flieht, ich, der rast- und ratlos in Schuhgeschäften, Handyshops und Pizzerien mögliche Fluchtpunkte sucht, Julian, der zwei Armlängen hinter mir herläuft. Der Spitzel hatte seinen Job getan, er ist wahrscheinlich ein Eis essen gegangen.

Julian und ich rennen also. Er tanzt nicht nur besser als ich, Julian läuft auch schneller. Kurzes Intermezzo der Gewalt: ein Tritt in die Kniekehle, ich gehe fast zu Boden, zum Glück nur fast, jetzt klebt Julian nicht mehr so nah an mir. Und da fällt es mir ein.

Als ich keuchend bei Carlo ankomme, ist Julian mindestens zwanzig Armlängen von mir entfernt. „Carlo, da kommt einer, der will mich verkloppen.“ Carlo kennt mich, ich war schon öfter da. „Kein Problem“, sagt er und schließt den Gitarrenladen von innen ab. Julian verflucht die Glastür, haut einmal drauf, lässt das aber gleich wieder sein, als Carlo (größer und breiter als Julian und ich zusammen) ihn böse anguckt. Julian beschließt, erst einmal aus Carlos Blickfeld zu weichen.

Carlo sitzt den ganzen Tag an der Glastür. Kommt ein Kunde, schließt er auf. Julian tigert immer wieder vor den Laden, nicht nur einmal, sondern in den nächsten sechs Stunden alle zehn Minuten einmal. In der Zeit teste ich gefühlt 47 Gitarren, fantastisch, diese Gretsch, nur leider so teuer, aber wie schlimm ist eigentlich die Ibanez, die mit einem soliden Zuschuss von Oma vielleicht finanzierbar wäre? Ich vergesse Julian. Irgendwann kommt Carlo, er sagt: „Der ist weg. Und wir machen zu.“ Aus Dankbarkeit investiere ich mein komplettes Taschengeld in Saiten.

Julian, den Tänzer, habe ich in der Tanzschule komischerweise nie wiedergesehen. Vielleicht hatte er schon alle Moves drauf? Ich wurde kein besserer Tänzer. Aber Gitarre spiele ich heute ganz gut.

jurek-skrobala      

Die Toilette

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert


Vier Minuten sind okay. Oder lieber nur dreieinhalb? Sonst denkt noch jemand, die Praktikantin hat das Reizdarmsyndrom.

Die Praktikantin bin ich. Ich sitze auf der Toilette. Vom Großraumbüro ist die Tür zum Toilettenraum gut einsehbar. Also besser nur dreieinhalb Minuten brauchen. Ich nehme mir noch zwei Blätter Klopapier und tupfe damit nochmal auf meine Augen. Ich gehe zum Waschbecken, lasse kaltes Wasser über meine Hände laufen und schaue in den Spiegel. Geht. Und ich trage ja Kontaktlinsen, die kneifen manchmal. Falls jemand wegen der roten Augen fragt. Ich verbrachte während dieses Praktikums viel Zeit auf dem Klo. Aber ohne diese anderthalb Fliesen und Einsamkeit hätte ich es nicht überstanden.  

Das Praktikum begann so, wie es – menschlich – zwei Monate lang weitergehen sollte. „Hallo, da ist dein Platz. Ich sag dir gleich, mittags musst du dir jemanden suchen, mit dem du essen gehst, Redakteure gehen nicht mit Praktikanten essen.“ Der Satz kam aus dem Mund der Ressortleiterin. Sie verhielt sich meist ruhig. Nur wenn der Chefredakteur ins Zimmer kam, begann sie, mich hysterisch anzukeifen. „Was hast du da wieder geschrieben? ‚Letztes Jahr‘. Es heißt nicht ‚letztes Jahr‘. Es ist ja nicht das letzte Jahr in der Menschheitsgeschichte! Sag mal, haben sie dir gar nichts beigebracht?“ Und immer, wenn sie merkte, dass sie die ungeteilte – klar, bei der Lautstärke – Aufmerksamkeit des Chefs hatte, setzte sie noch nach, dramatisch mit dem Kopf schüttelnd: „Wie dumm bist du eigentlich?“

Das stimmt schon mit dem „letzten Jahr“, das sehe ich ja ein. Und ich werde das auch nie wieder falsch machen. Nur hätte ich mir das auch ohne Demütigung gemerkt. Aber so ging das jeden Tag, manchmal nicht nur ein Mal. Die Ressortleiterin lachte über jeden Tippfehler und wenn ich ein Wort falsch aussprach. Sie schimpfte laut, wenn ihr ein Foto, das ich ausgesucht hatte, nicht gefiel. So laut, dass die anderen im Büro sich nach uns umdrehten. Und sie redete vor anderen schlecht über mich. Darauf bedacht, dass ich das auch mitbekam. Und ich: traute mich nicht zu widersprechen oder mich irgendwie zu wehren.

Die anderen Redakteure um uns herum waren eigentlich nett. Aber keiner von ihnen wagte es, mich in diesen Situationen zu verteidigen. Sie schauten dann auf ihre Tastaturen, als ob sie die Brösel zwischen den Tasten zählen würden. Heute macht mich das wütend. Damals machte es mich einfach nur traurig. So traurig, dass ich nicht anders konnte als weinen. Auf der Toilette.

Die Toilette war der einzige Ort, an dem ich meine Ruhe hatte. Da durften meine Lippen zittern, mein Kinn auch. Da durften die Tränen über meine Wange laufen, ich konnte sogar leise schluchzen. Es sah und hörte niemand. Diese Gewissheit machte die Schimpfanfälle ein bisschen weniger schlimm und sorgte dafür, dass ich vor der Ressortleiterin niemals glasige Augen bekommen habe. Ich hatte ja meine dreieinhalb Minuten.

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Auf der nächsten Seite: Flucht vor dem Atomkrieg in die Bademantelhöhle.


    

Die Bademantelhöhle

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert


Der sicherste Ort der Welt befindet sich im Badezimmer meiner russischen Großeltern – zwischen dem Heizkörper, der Waschmaschine und einer riesigen Blechkanne, in der mein Opa Obst für sein Selbstgebranntes gären ließ.

Egal ob ein “Mangelhaft” in Mathe oder der Atomkrieg, der mir mit acht viel Sorgen machte –  alle Probleme blieben hinter der Wand aus Bademänteln und Handtüchern, das meinen Zufluchtsort von der Außenwelt abschirmte, zurück.

Einmal schlug eine alte Nachbarin, die auf mich aufpasste und die ich gruselig fand, vor, Verstecken zu spielen. Daraufhin harrte ich vier Stunden in meinem Badezimmerversteck aus. Hätte die Dame meine Großeltern nicht alarmiert - ich hätte noch viel länger aushalten können. Hier gab es einen Vorrat an Büchern und Lutschbonbons (alle andere Süßigkeiten schmolzen in der Hitze), eine Taschenlampe, einen Taschenmesser und einen Karte der Umgebung – für den Fall, dass ich von meinem Zufluchtsort aus tatsächlich fliehen muss.

Die Zweizimmerwohnung in Russland, in der vier Generationen lebten – Uroma, Großeltern, Mama, ich – war immer zu eng. Es gab keinen Ort, an dem kein anderer war. Aber mein Badezimmer-Eck gehörte mir allein. Manchmal kam jemand vorbei und wusch sich die Hände. Manchmal holte Opa die Riesenblechkanne ab um in der Küche Schnaps zu destillieren, in einem komplizierten Röhrensystem, das aussah wie ein Physikexperiment. Ansonsten änderte sich in meinem Reich kaum etwas. Das Obst gärte vor sich hin. Die Waschmaschine brummte. Dieser Zufluchtsort war wie meine Familie selbst: Warm. Gemütlich. Manchmal ziemlich stickig.  

wlada-kolosowa 

Der Wald

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert


Vor ein paar Jahren machte ich ein Praktikum in einer Psychosomatischen Klinik. Das war okay. Der Wald daneben war göttlich. Es traf sich, dass die Praktikumszeit, es war im Sommer, auch Partyzeit war. Freunde waren in der Stadt, wir feierten das Ende der Klausuren, den Sommer und vor allem uns selbst – ich habe nachts nicht viel geschlafen. Also schlief ich tagsüber.  

Zwischen den verschiedenen Programmpunkten der Patienten hatte ich immer ein bisschen Freizeit. Mal 20 Minuten, mal 50. Zwar sollte ich im Schwesternzimmer Patientenakten lesen, doch ich wollte mich lieber selbst heilen. So habe ich mich alle 20 Minuten, die ich frei hatte, zum Schlafen davongestohlen. Weil es für Praktikanten kein Extra-Zimmer gab, mich niemand entdecken sollte und durch die ganze Klinik auch noch Baulärm dröhnte, schlich ich mich 200 Meter weiter  – in den Wald.  

Dort suchte ich eine moosige Stelle, stellte einen Handywecker, kuschelte mich auf die Seite, legte den Kopf in die Hände. Und schlief. Wenn ich aufwachte, war ich vollkommen verzückt: leichter Wind rauschte durch die Bäume, durch die Blätter fielen Sonnenstrahlen, trunken von der Hitze krabbelten ein paar Insekten umher. Alles war so grün, frisch und lebendig – außer ein paar Vögeln, die fröhlich zwitscherten, war alles still.  

Dann klopfte ich mir Stöckchen und Moos aus den Haaren, hüpfte zurück, und machte in der Turnhalle Entspannungsübungen mit Baulärm. 

anne-kratzer

Text: jetzt-redaktion - Illustrationen: Yinfinity

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