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Geschüttelt, nicht getrötet

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Der größte Unterschied zwischen WM-Zeit und nicht WM-Zeit besteht – mal abgesehen von der Rundum-Bewimpelung alles Bewimpelbaren  – ja vor allem in der Definition dessen, was für einen zivilisierten Menschen ein angemessenes Lautäußerungsverhalten ist. Während einer WM dürfen vom Kleinkind bis zum Hochschulprofessor alle Menschen ungefragt ein „Schlaaand“ durch die U-Bahn brüllen, ohne dass sie mehr als ein Augenrollen ihrer Mitmenschen zu erwarten haben. In Kneipen und Public-Viewing-Orten werden Spieler angeschrien, obwohl sie einen nicht hören können im fernen Brasilien, und selbst in herkömmlichen Wohnzimmern darf ein Spiel so laut kommentiert werden, dass das Nachbarsbaby aufwacht, dessen Eltern sonst sehr erpicht auf die Einhaltung der Zimmerlautstärke sind.  

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Caxirolas featuring Erfinder und Präsidentin: Carlinhos Brown und Dilma Roussef bei der Präsentation des offiziellen WM-Instruments im April 2013.

Seit dem letzten Turnier in Südafrika hat die WM-Akustik aber eine neue Komponente bekommen. Stimme und bewährte Schlaginstrumente genügen nicht mehr, ein ordentliches Turnier braucht seinen eigenen Soundtrack, sein ganz eigenes Lärmwerkzeug. In Südafrika war es die Vuvuzela. In Brasilien soll es nun die Caxirola sein (Ausprache in etwa: Kaschirola).  

Es handelt sich dabei um ein Percussion-Instrument aus Plastik, das optisch an eine unten abgeschnittene und mit Fingerschlaufen versehene Zitrone (oder Avocado, je nach Farbe) erinnert und klanglich einen Bereich zwischen Babyrassel und Hagel auf Wellblechdach abdecken kann. Die WM 2014 wird also anders serviert als die WM 2010: geschüttelt, nicht getrötet.  

Erfunden hat die Caxirola der brasilianische Komponist und Percussionist Carlinhos Brown, ganz hochoffiziell und in Abstimmung mit der Fifa und dem brasilianischen Ministerium für Sport. Die Präsidentin Dilma Rousseff war bei der Vorstellung des Instruments vor dem Confederations Cup 2013 dabei und gab sich begeistert – auch wenn weder sie noch der Erfinder bei dem Termin eine besonders ansprechende Performance hinlegten.  

Die Caxirola hat gegenüber der Vuvuzela einen entscheidenden Vorteil: Sie ist nicht so laut. Brasilianische Wissenschaftler haben herausgefunden, dass es 30.000 Caxirola-Schüttler gleichzeitig bräuchte, um den Lärmpegel von nur einer Vuvuzela zu erzeugen. Auch wenn für den durchschnittlichen Fußballfan sicher die Formel „mehr Krach = mehr Spaß“ ihre Gültigkeit hat, ist das schwache Dezibellevel für die Durchsetzungsfähigkeit der Caxirola wahrscheinlich eher hilfreich. Denn nachdem sich in Südafrika die Stadien anhörten wie Schwärme extraterrestischer Monster-Hornissen, TV-Sender bei ihren Übertragungen mit den Lärmpegeln kämpften und wahrscheinlich weltweit die Ohrenärzte-Wartezimmer vor Vuvuzela-geschädigten überquellten, geriet die Tröte in Verruf. Die UEFA sprach ein Vuvuzela-Verbot für EM-, Europacup- und Champions-League-Spiele aus, auch einzelne Bundesligavereine verbannten sie.  

Aber auch wenn Erfinder Carlinhos Brown bei seiner Erfindung offenbar Lehren aus Südafrika gezogen hat, hat er nicht alles bedacht. Die Caxirola ist in den Stadien trotzdem verboten. Ihr handgranatenartiges Äußeres inspirierte Fußballfans in Momenten großer Wut zu spontaner Zweckentfremdung: Bei einem Spiel zwischen E. C. Vitória and E. C. Bahia (zu dessen Fans übrigens Carlinhos Brown zählt) flogen Dutzende Caxirolas aufs Spielfeld, die Partie musste unterbrochen werden. Danach verbannte Brasiliens Justizminister das Instrument aus den WM-Stadien. Das offizielle WM-Instrument ist also offiziell verboten.  

Die WM in Brasilien wird bestimmt trotzdem eine klanglich eher ansprechende. Samba-Nation und so. Sorgen muss man sich vielleicht eher machen, welche Instrumente in den nächsten Jahren noch so auf uns zukommen. Die Weltmeisterschaften 2018 und 2022 sollen ja in Russland beziehungsweise in Katar stattfinden.

Text: christian-helten - Foto: afp

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