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Sechs Uhr

Text: SofiaKorksenzieher

Die Luft in dem kleinen Wartezimmer ist stickig, durch das geöffnete Fenster dringt Straßenlärm herein. Abgase mischen sich mit dem sterilen Geruch der Praxis und einem Hauch von Angst, als sie, nervös mit den Beinen wippend und mit dem Klemmbrett auf dem Schoß, hier sitzt und wartet. Darauf wartet, aufgerufen zu werden.
Sie hat sich noch nie testen lassen, für heute hat sie es sich fest vorgenommen, zu lange zieht sie sich schon beschämt zurück und wird stumm, wenn man darauf zu sprechen kommt.



Sie ist sexuell aktiv, das ist wohl die gängige Bezeichnung. Was es eigentlich bedeutet ist, dass sie sich ficken lässt, von oben und unten, von der Seite oder von hinten, dass sie bläst und schluckt. Oft sind es Männer, die sie kaum kennt, die sie aus dem Club oder der Kneipe mit nach Hause nimmt. Sie ist Single und seit drei Jahren saugt sie das Reservoir der sexuellen Freiheit regelrecht aus, nimmt fast jede Gelegenheit wahr, die sich ihr bietet und vergisst die Männer oft so schnell wieder, wie sie gekommen sind. Mit zitternden Fingern kreuzt sie die Kästchen an. Es sind viele, zu viele, die zutreffen.
Eigentlich ist sie verantwortungsvoll, zumindest was das angeht, eigentlich nimmt sie fast immer ein Kondom. Aber manchmal, ganz selten, wenn der Alkohol sich mit der Begierde mischt, gibt sie auf bei dem Versuch, das Gummi über seinen halb erigierten Penis zu streifen und lässt ihn so gewähren. Die Angst vor Krankheiten verschwindet dabei meist so schnell wie der Kerl am nächsten Morgen, aber die Scham bleibt. Die Scham der Verantwortungslosigkeit. Die Scham, als aufgeklärte Mitteleuropäerin wider besseren Wissens und gegen jede Moral gedankenlos und zerstörerisch gehandelt zu haben.



Als sie jetzt im Wartezimmer sitzt, bereit endlich die Konsequenzen zu tragen und erwachsen zu werden, packt die Angst sie mit eiskalter Klaue im Nacken. Sie macht gerade ein Kreuz neben der Frage, ob sie beim Oralverkehr mit Sperma in Berührung gekommen sei, als die Tür aufgeht und ein bekanntes Gesicht den Raum betritt.
Der Mann mit der Uhr. Oder eigentlich der Mann ohne Uhr, denkt sie. Der Mann, dessen Uhr sie zerschlagen hat, brachial, im Hof vor ihrer Wohnung, weil er sie nie angerufen hat.



Das Leben ist ein alberner Geselle und erlaubt sich bisweilen einen Scherz. Wie sollte es anders von statten gehen, dass sich hier, in dem kargen Wartezimmer der kleinen Arztpraxis, genau zur selben Zeit und aus genau dem gleichen Grund diese beiden wieder begegnen?
Der Groll ist mittlerweile verraucht, sie hat ihn mit jedem Hammerschlag in seine Uhr graviert. An seine Stelle ist das Gefühl getreten, ein wenig peinlich berührt zu sein, denn schließlich hatte er vor nicht allzu langer Zeit seine Finger, die jetzt den Fragebogen halten, noch bis zum Anschlag in ihr.



Es wohnt ihm schon ein seltsamer Zauber inne, dem Rausch einer Nacht voller anonymem Sex mit einem eigentlich Fremden. Eine Magie, verschwitzt, kalt, knochenhart und leidenschaftlich. Wie oft geht sie doch mit dem Vorsatz in den Abend, nicht alleine wieder zurückzukehren, manchmal aus den richtigen Gründen und manchmal aus den falschen. Und wenn sie dann einen findet, nachdem sie sich ein paar Stunden unauffällig umgesehen, die Männer und ihre Chancen ausgelotet hat, verläuft der Abend in routinierten Bewegungen, die sich doch nie gleichen: Der erste Kuss, Kompassnadel für Erfolg oder Misserfolg, lässt sie ihre Lust spüren, während ihr Herz jedoch stumm bleibt. Kein Schmetterling startet zaghaft seine ersten Flugversuche, es ist nur ihre Haut, ihre Brüste, ihre Muschi, die alle Poren weit öffnet, um jedes Detail in sich aufzusagen. Hände, die schnell und ohne Umschweife zum Punkt kommen. Und schließlich liegen sie nackt und bloß nebeneinander, zwei Menschen, die sich am Tag zuvor noch nicht kannten und weder erwartet noch gehofft hatten, einander je zu treffen und auch nicht das Bedürfnis verspüren, sich danach wiederzusehen. Die Männer sind ihr fremd, sie haben sich noch nie berührt und doch trennt sie kaum ein Millimeter, wenn er mit der Zunge zwischen ihre Beine geht und ihr Mund trocken wird vom Stöhnen. Und wenn auch sie dann ihn mit ihren Lippen umschließt, fühlt es sich nicht merkwürdig an, nicht unpassend, es ist die logische Konsequenz, es ist vollkommen natürlich, das Spiel nur zwischen ihnen beiden, heute Nacht. Morgen wird es ein anderer sein, der sich auf sie legt und sie fickt. Danach raucht sie immer eine Zigarette, der Schweiß auf ihrem Körper ist noch feucht. Sie stellt sich den kühlen Aschenbecher auf den nackten Bauch und beobachtet die Rauchfahnen, die über ihr aufsteigen.



Doch wenn man sich zufällig noch einmal begegnet, ist die scheinbare Intimität verflogen. Ein Nicken im Anschlag geht man aneinander vorbei, man ist sich wieder fremd. Auch den Mann mit der Uhr und sie verbindet nichts mehr als die bloße Erinnerung, die mittlerweile, überschattet und überlagert von neuen Begegnungen, immer transparenter wird. Nur ein müdes Hallo tropft aus ihrem Mund, aus dem vorher erregtes Atmen sich seinen Weg durch ihre Lippen presste. Und die Erkenntnis, dass auch er nur eine weitere Kerbe im Bettpfosten war, wie es so viele vor ihm waren.
Ihre Nummer wird aufgerufen.



 



Dreißig Minuten später ist das Ergebnis ihres Schnelltests besiegelt. Und der Mann mit der Uhr, der Mann ohne Uhr, die Geschichte um ihn ist es auch. Die Tür der Praxis fällt hinter ihr zu, sie tritt ins gleißende Sonnenlicht, hält sich eine Hand schützend vor die Augen und lächelt. Lächelt über die Tragikomödie, die sich Leben nennt. Über Konsequenzen. Und über das Glück, HIV-negativ zu sein. Das Glücksgefühl, das sie scheinbar draußen vor dem Gebäude abgegeben hat, fließt langsam in ihren Körper zurück und pumpt Blut in ihr Herz. Nur der kleine rote Punkt an ihrem rechten Zeigefinger, wo der Arzt sie gepiekst hat, erinnert sie noch an ihre Angst und an den Mann mit ohne Uhr. Und auch dieser beginnt schon jetzt, langsam zu verblassen.

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