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10 Gründe, warum Überwachung gar nicht so schlimm ist

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 1. Überwachung gab´s schon immer

 Die Geschichte der Überwachung beginnt ja streng genommen mit Maria und Josef, die wegen einer repressiven staatlichen Überwachungsmaßnahme (aka Volkszählung) nach Betlehem mussten. Seitdem haben viele Staaten ihre Bürger oder die Bürger anderer Staaten überwacht. Im kalten Krieg war das demokratische Deutschland dann als Frontland „das am meisten überwachte Land der Welt“, so der Historiker Josef Foschepoth. Aber hat uns Überwachung jemals geschadet?

Nein! Gar nicht! Kein bisschen! Zumindest nicht, wenn man mal alle Diktaturen der Geschichte außen vor lässt, die oft als arglose Demokratien anfingen. Jüngere Beispiele in unserer Geschichte: die Unterdrückung durch die Stasi sowie das dritte Reich, das nur mit Hilfe weitreichender Überwachung existieren konnte. Und dessen Genozid an den Juden von einer niederländischen Volkszählung Anfang der 1930er profitierte, bei der die gesamte Bevölkerung mitsamt ihrer Konfession erfasst wurde. Weil dieses Register den Nazis in die Hände fiel, war die Todesrate unter niederländischen Juden mit 73% die höchste in ganz Europa.[1] Warum soll staatliche Datensammelei jetzt auf einmal schlecht sein?

2. Unser Geheimdienst macht so etwas nicht

Die meisten Enthüllungen betreffen die Überwachungspraktiken der NSA sowie ihrer Verbündeten in Großbritannien. Unsere Geheimdienste hingegen sind brav. Die halten sich an die Regeln, die sind keine Datenkraken.  

Ja, unser Geheimdienst macht so was nicht. Er ist brav. Man könnte auch sagen: Er muss brav sein, weil ihm die Mittel zu vergleichbarer Überwachung fehlen. Deswegen möchte der BND, wie kürzlich bekannt wurde, 300 Millionen Euro, um endlich „auf Augenhöhe“ zu den anderen Geheimdiensten beispielsweise soziale Netzwerke überwachen zu können. Das ist sinnvoll, argumentiert der BND, denn wenn man den Amerikanern nichts bieten kann, arbeiten die nicht mehr mit uns zusammen. Wenn wir ihnen keine Daten liefern, bekommen wir auch keine von ihnen. Und wie soll der BND dann seine Beschränkungen hinsichtlich der Überwachung deutscher Bürger umgehen?
 

3. Die sammeln nur Metadaten

Die Geheimdienste lesen nicht unsere E-Mails und hören unsere Telefonate ab. Naja, das machen sie natürlich auch. In erster Linie jedoch interessieren sie sich für die so genannten „Metadaten“, auch „Verbindungsdaten“ genannt. Also nicht worüber, sondern wann ich mit wem wo wie lange spreche. Das ist ja nicht schlimm, oder?

Nein, gar nicht, diese Daten sind total harmlos! Nehmen wir mal eine Studie der Universität Stanford: Obwohl ihre 546 Probanden sich monatelang per App freiwillig überwachen ließen, konnten die Forscher über sie nur so unnütze Informationen wie Cannabis-Anbaupläne oder unheilbare Krankheiten gewinnen. Eine Probandin telefonierte erst ziemlich lange mit ihrer Schwester, dann mehrmals mit einer Abtreibungsklinik. Die Forscher grübeln bis heute, was sie wohl vorhatte. Das Fazit der Studie lautete: „Phone metadata is highly sensitive.“ Denn Metadaten verraten so viel über uns wie ein sehr, sehr guter Detektiv, der uns pausenlos beschattet.
     

4. Ich habe eh nichts zu verbergen

Und wenn schon, dann sollen sie mich eben ausforschen und abhören. Ich habe nichts zu verbergen! Außer vielleicht den Daten, die auf meiner Gesundheitskarte gespeichert sind, meinen maroden Finanzen, dem Eintrag wegen Kiffen damals, den Anrufen bei der Hotline für ihrwisstschonwas. Aber das interessiert doch alles niemanden! Und es ist rein statistisch gesehen doch auch recht unwahrscheinlich, dass ich zu einem bedauerlichen Einzelfall werde wie Andrej Holm: monatelang ohne Anlass überwacht und schließlich auf Grund lächerlicher Verdachtsmomente (er ließ ironischerweise aus Angst vor Überwachung sein Handy zu Hause, wenn er sich mit anderen verdächtigen Personen traf) von einem SEK aus der Wohnung geholt und für drei Wochen in Untersuchungshaft genommen. So was passiert doch mir nicht! Oder?

Vielleicht muss ich gar nichts ausgefressen haben, um mein Recht auf Geheimnisse zu schätzen. Vielleicht kenne ich das ungute Gefühl, beobachtet zu werden. Unsere Bundestagsabgeordneten jedenfalls scheinen es zu kennen. Die haben sicher auch nichts zu verbergen (außer Sebastian Edathy). Als wegen des Edathy-Falls aber herauskam, dass ihre Kommunikationsdaten drei Monate lang gespeichert werden, haben sie die Speicherfrist auf sieben Tage begrenzt, das ging ganz zügig. Vielleicht glauben sie den vielen Studien, denen zufolge Überwachungsdruck zu konformistischem, ängstlichem Verhalten führt. Und vielleicht lag das Bundesverfassungsgericht nicht ganz falsch, als es schon 1997 erkannte, dass das Recht auf informationelle Selbstbestimmung „einen über das Individualinteresse hinausgehenden Gemeinwohlbezug“hat. Sprich: Es geht nicht darum, ob man etwas zu verbergen hat. Sondern darum, dass man in einer Demokratie etwas verbergen darf. Sonst ist es keine Demokratie.

5. Wir müssen uns vor Terroristen schützen

Die New Yorker wissen: Überwacht man nicht ordentlich, hat man irgendwann ein großes Loch in der Stadt. Die Bedrohung durch Terroranschläge, die nicht nur in den USA seit 9/11 jede Attacke auf Grundrechte rechtfertigt, ist riesig. Überwachung rettet also Leben. Sicherheit geht vor Freiheit.  
Verblüffend einfache Argumentation! Und das Beste daran ist: Sie funktioniert in jeder Realität: Bleibt jahrelang alles relativ ruhig (so wie jetzt), dann verdanken wir das der massenhaften Überwachung. Knallt es doch, brauchen wir natürlich mehr Überwachung, um das zukünftig zu verhindern. Aber wenn man die Bedrohung durch Terroranschläge mal in Relation zu anderen Bedrohungen unserer gefährlichen Zeit setzt, wird es spannend: In Großbritannien starben von 2000 bis 2010 jährlich im Schnitt fünf Menschen durch Terror, fünf durch Insektenstiche – und dreißig ertranken in ihrer Badewanne. No-Fun-Fact: Im „War on Terror“ in Afghanistan starben 2010 mehr als hundert Briten (PDF). Und wie viele Terroranschläge konnten durch Überwachung verhindert werden? Für wie viele solcher Fahndungserfolge haben wir Beweise? Genau, fast null. Keine staatliche Maßnahme kostet so viel Geld und bleibt in der Wirkung so mysteriös wie Überwachung. Sie macht also weder sicher noch frei.



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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert


6. Google, Facebook und Co. sind noch viel schlimmer

Okay, die Geheimdienste sammeln unsere Daten, ohne dass wir etwas dagegen tun können. Aber sind wir nicht selber schuld? Immerhin geben wir den Datenkraken Google, Facebook und Co. unsere Daten sogar freiwillig. Warum regen wir uns also eigentlich über die NSA auf? Profitgetriebene Konzerne sind doch viel bedenklicher als die Geheimdienste.  

Richtig, die Konzerne sind schuld! Auch wenn sie uns nur Werbung für Potenzmittel und nicht ins Gefängnis schicken können. Oder betreibt Google mittlerweile auch Gefängnisse? Schlägt man den Konzern mit seinen eigenen Waffen und googelt „Google Gefängnis“, autovervollständigt die Suchmaschine zu „Gefängnis Guantanamo“. In Guantanamo sitzen ohne jedes Gerichtsverfahren seit mehr als einem Jahrzehnt Menschen, die von der Überwachungsmaschinerie als gefährlich eingestuft wurden. Manche davon sind nur wegen einer Verwechslung dort, was die USA aber trotz aller NSA-Intelligenz scheinbar nicht aufklären kann oder will. Und dort ist es nicht besonders angenehm, sagt zumindest Google: Guantanamo bekommt bei 135 Erfahrungsberichten nur 3,3 Sterne.

7. Die Geheimdienste werden schon wissen, was sie tun

Die sind ja nicht irgendwer. Das sind ja immerhin Geheimdienste mit viel Geld und Wissen. Die kennen sich aus, die bauen keinen Mist.

Viel Geld haben sie, stimmt. Aber Wissen? Unser Geheimdienst namens BND ist so fit, dass er jahrelang nicht bemerkte, wie die Amerikaner unsere Kanzlerin abhören (und das ganze restliche Volk). Oder er wusste es, hat aber nicht mal der Kanzlerin davon erzählt. So oder so: Auf unsere Geheimdienste kann man sich verlassen!
 

8. Der Untersuchungsausschuss klärt das auf

Mag sein, dass der BND da nicht immer tiptop informiert war. Aber das ist ja jetzt auch nicht mehr so wichtig. Denn zum Glück ist Deutschland eine funktionierende Demokratie. Und wie in einer Demokratie üblich, soll jetzt ein Untersuchungsausschuss klären, was an den Snowden-Dokumenten dran ist. Der wird schon herausfinden, ob es wirklich Grund zur Sorge gibt.  

Stimmt, es gibt einen Untersuchungsausschuss. Der darf die Snowden-Dokumente aber nicht lesen. Das behauptet zumindest ein Gutachten amerikanischer Juristen, welches die Bundesregierung den Ausschussmitgliedern als Lektüre empfahl: Schon das Lesen der Dokumente erfülle den Tatbestand des Geheimnisverrates. Die neugierigen Parlamentarier könnten in Amerika angeklagt werden. In anderen Dokumenten, die immerhin offiziell vorliegen, wurden 12 von 15 Seiten komplett geschwärzt. Und die zuständigen Regierungsstellen und Geheimdienste haben nach eigener Auskunft nicht mehr als „Zeitungswissen“. Snowden selbst könnte man befragen, aber nicht hier, denn erstens käme das in den USA nicht so gut an, zweitens könne man laut Bundesregierung nicht einmal für seine Sicherheit garantieren. In Moskau jedoch warten, so Hans-Christian Ströbele, „die Richtmikrofone des russischen Geheimdienstes“. Angesichts dieser mangelhaften Beweislage trat der erste Vorsitzende des Ausschusses, Clemens Binninger (CDU), schon zurück. Der hat wenigstens verstanden, was unser Innenminister Thomas de Mazière, per Schwur unseren Grundrechten verpflichtet, kürzlich noch einmal klar stellte: „Die Beziehungen zwischen Deutschland und den USA sind wichtiger als das Informationsinteresse eines Ausschusses.“ Diese Aufklärung scheint also bis jetzt eher Ausschussware.

9. Immerhin wird jetzt dagegen ermittelt

Der Generalbundesanwalt Range wollte zwar erst nicht, aber jetzt ermittelt er. Er geht dem amerikanischen Spähangriff auf das Kanzlerinnenhandy mit einem formalen Ermittlungsverfahren auf den Grund.

Ui, der Generalbundesanwalt! Ja, er ermittelt, der Shitstorm nach seiner ersten Unlustäußerung war wohl zu groß. Aber er fahndet nicht gegen die NSA oder den BND, sondern nur gegen die paar fehlgeleiteten Amerikaner, die Merkels Handy abgehört haben. Für den Rest „fehlen die Indizien für einen Anfangsverdacht“, sagt er. Edward Snowden und alle seine Vertrauten behaupten übrigens, kein Generalbundesanwalt hätte sie je dazu kontaktiert.   

10. Man kann eh nichts dagegen tun

Selbst wenn man irrigerweise etwas gegen die grundrechtsverletzende, freiheitsraubende, demokratiezersetzende Überwachung hat: Widerstand ist zwecklos. Warum auf die Straße gehen oder seinem Abgeordneten schreiben? Warum sich verdächtig machen, wenn man eh keine Chance hat? Die da oben machen doch sowieso, was sie wollen!  

Stimmt leider, meistens. 1983 sollte das ganze deutsche Volk gezählt werden. Darauf hatten unsere Eltern und Großeltern aber kurz vor der verheißungsvollen Jahreszahl „1984“ keine Lust. Sie gingen massenhaft demonstrieren und strengten 500 Verfassungsklagen an. Gegen Datensammelei, gegen einen orwellschen Staat. Und siehe da, die Volkszählung wurde ausgesetzt. Das Bundesverfassungsgericht formulierte das berühmte „Recht auf informationelle Selbstbestimmung“, bis heute weltweites Vorbild für Datenschutz als Grundrecht.
Vielleicht hat Monaco Franze mal wieder Recht: „A bisserl was geht immer.“

Text: friedemann-karig - Fotos: dpa, Screenshot; Collage: katharina-bitzl

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