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Das Trauerhaus Teil 3

Text: SofiaKorksenzieher

Der Samstag kam ebenso grau und hässlich ins Land wie die Tage zuvor, aber wenigstens regnete es nicht. An diesem Morgen war die Stille greifbar, durchzogen von unwilliger Hektik und dem Nachgeschmack von zu viel Bier im Mund. Paula stand starr vor ihrem Kleiderschrank. Sie war sich nicht sicher, ob sie schwarz tragen sollte, ob ihre Mutter das gewollt hätte, dass sie von oben bis unten in Trauer gehüllt an ihrem Grab stand. Sie erinnerte sich an die Beerdigung ihrer Tante. Es war kaum ein Jahr her, als auch sie von diesem schrecklichen Monster dahingerafft worden war. Ihre Cousinen hatten bunte Kleider getragen und sich schluchzend vor den Sarg geworfen. Sie würden heute auch dabei sein. Paula graute es davor, diese ganzen Menschen zu sehen, diese ganzen Hände zu schütteln und von allen Seiten diese mitleidigen Blicke auf sich zu spüren. Sie holte tief Luft, um den Knoten in ihrem Bauch zu sprengen, griff in den Kleiderschrank, kramte eine schwarze Jeans und einen schwarzen Pullover hervor und zog sich an. Ihr Vater betrat das Zimmer, er trug seinen einzigen schwarzen Anzug. „Wir müssen los.“ Ihr Bruder stand schon abfahrtbereit im Flur. Sein Gesicht wirkte, als verharre es in einem stummen Schrei. Er war gestern angekommen. Sie hatten nicht viel geredet, nur Abends ein paar Biere zusammen getrunken und waren früh ins Bett gegangen. Nun gingen sie alle, wie ferngesteuert, zum Auto und fuhren zur Kirche.



Schon von weitem hörte sie die Glocken läuten. Sie läuteten extra für sie, für ihre Familie und ihre Mutter. Als sie näher kamen, sah sie, wie viele Leute gekommen waren, um Abschied zu nehmen. Lukas war mit seinen Eltern da. Paula mochte sie sehr. Seine Mutter, die immer ein offenes Ohr für sie hatte und seinen Vater, der zwar häufig distanziert, aber urkomisch war. Heute schloss auch er sie in die Arme, ein wenig verschüchtert, aber herzlich. Fast das ganze Dorf hatte sich versammelt, viele kamen auf sie zu, andere nickten nur von der Ferne.



Sie betraten die Kirche. Paula, ihr Bruder und ihr Vater setzen sich in die erste Reihe. Ihre Cousine ging schluchzend den Gang zwischen den Kirchenbänken entlang und setzte sich hinter Paula, drückte kurz mit der Hand ihre Schulter und schniefte. Es war ein schöner Gottesdienst, soweit man das unter diesen Umständen sagen konnte. Eine Freundin aus dem Dorf spielte Harfe und sang dazu. Ab und zu versagte ihr die Stimme und Paula musste jedes Mal weinen, wenn das geschah. Die selbe Freundin war vor ein paar Wochen noch mit dem großen Instrument in ihrem Wohnzimmer gesessen und hatte ihrer Mutter etwas vorgespielt, die irgendwo zwischen Schlafen und Wachen ab und zu ein kleines Lächeln auf dem blassen Gesicht getragen hatte. Die Kirche war voll und als das Lied angestimmt wurde, das ihr Vater sich gewünscht hatte, hallte der Klang vieler Stimmen durch das alte Gewölbe und erfüllte es mit Leben. Ihr Bruder schluchzte stumm neben ihr und Paula ergriff seine Hand. Als am Ende wieder die Kirchenglocken läuteten, waren ihre Glieder steif als wäre sämtliches Blut aus ihrem Körper herausgeflossen. Ihr Gesicht fühlte sich trocken an und brannte von den vielen Tränen, die es genetzt hatten. Vorsichtig stand sie auf, die weiße Rose, die sie am Vortag gekauft hatten, in der linken, die Hand ihres Bruders in der rechten Hand, sie liefen nach draußen und die Prozession in Richtung Friedhof setzte sich langsam in Bewegung.



Paula fühlte die Anwesenheit der vielen Menschen in ihrem Rücken, obwohl sie sich vollkommen lautlos bewegten. Es wirkte wie in einem alten Stummfilm in Schwarz-Weiß, wie sie sich dort alle behutsam und ohne einander anzusehen im Schneckentempo vorwärts bewegten. Alles um sie herum hatte seine Farbe verloren wie die Bäume ihre Blätter und Paula wünschte sich, dass der Himmel aufbrechen und die Sonne ihren Weg begleiten würde. Es würde die Situation erträglicher machen, weniger klischeehaft und bunter. 



Auf dem Friedhof führte der Pfarrer sie in die Aussegnungshalle. Paula hatte nie viel mit Religion am Hut gehabt und kannte ihre Bräuche und Sitten nicht. Sie verstand nicht, warum sie nun hier verharrten, den Blick auf die vielen Gäste gerichtet, die im Halbkreis um sie standen. Sie standen lange so da, wie die Tiere im Zoo, Ausstellungsgegenstände, der Witwer und die zwei Halbwaisen. Und als sie schließlich die Asche ihrer Mutter, die letzten Überreste eines Lebens, das nicht schwarz-weiß, sondern voller Farben gewesen war, zu Grabe trugen, traf es Paula endlich wie ein Schlag ins Gesicht, den sie zwar hatte kommen sehen, der aber deshalb nicht weniger, eher mehr wehtat: Ihre Mutter war tot. Sie würde nie wieder zurückkehren. Sie würden nie mehr gemeinsam auf der Terrasse sitzen, Zigaretten rauchen und sich über die Liebe unterhalten. Sie würden nie mehr streiten und sich anschreien, weil Paula ihr Zimmer nicht aufgeräumt hatte. Sie würden nie wieder diese Familie sein, die sie 20 Jahre lang gewesen waren, nichts war mehr wie vorher, alles würde sich ändern. Ein Stück Leben war unwiederbringlich aus ihrem Körper gerissen worden und hinterließ eine klaffende Wunde. Der Gedanke daran, dass ab morgen alles seinen gewohnten Gang gehen würde, dass sie wieder zur Schule musste und ihr Abitur machen würde, dass sie irgendwann aufhören musste zu leiden, einfach um weitermachen zu können, dass die Jahre den Schleier der Zeit darüber legen und es leichter machen würden – dieser Gedanke war unvorstellbar, jetzt, da sie auf dem kalten, grauen Friedhof stand, umringt von Schaulustigen und Freunden, die sie anstarrten wie einen Autounfall, um dann beschämt zur Seite zu blicken. Paula wollte schreien, sie wollte jeden einzelnen der Anwesenden zum Teufel schicken, ihnen ins Gesicht spucken und sie beschimpfen, obwohl sie keinerlei Schuld traf. Paula wusste das. Aber sie war so wütend. Auf einen Gott, an den sie nicht glaubte. Auf ihre Mutter, die den Kampf verloren hatte. Auf ihren Vater, der plötzlich so klein und hilflos war. Auf sich selbst, weil sie hier stand und wütend war. Auf das Leben.



Lukas hatte sich den Weg zu ihr gebahnt. Als er sie an der Hand nahm, riss er sie aus ihren Gedanken. Er sah ihr fest in die Augen und, zum allerersten mal, sagte er es. Paula war fassungslos. Sie wollte es nicht hören und wünschte sich, er hätte es nie gesagt, nicht hier und nicht heute: „Ich liebe dich“.  

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