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Das Trauerhaus Teil 2

Text: SofiaKorksenzieher

Lukas hatte sie eine Weile nur angestarrt, hatte sich nicht getraut, sich zu bewegen, hatte befürchtet, dass sie in tausend Teile zerbrechen würde, wenn er nicht vorsichtig sei. Dann war er zu ihr rüber gegangen, hatte sie einfach nur im Arm gehalten und geschwiegen. Der Tag war langsam und träge dahingeflossen, sie hatten gekocht und Karten gespielt, alles schien wie immer. Doch bei jedem Lachen, bei jedem Kuss, bei jedem Gefühl von Freude hatte sie eine eiskalte Hand am Hals gepackt und geschüttelt. Am nächsten Tag war sie nach Hause gefahren, mit zitternden Händen und Tränen in den Augen, war in die Einfahrt eingebogen und hatte den Motor abgestellt. Sie hatte Angst gehabt, das Haus zu betreten, hatte den Tatsachen nicht ins Auge sehen wollen und so war sie eine Weile im stillen Auto gesessen und hatte den Regentropfen zugesehen, wie sie an der Windschutzscheibe Wege aus Wasser malten.



„Paula?“ Sie hörte ihren Vater rufen, seine Stimme wirkte erstickt. Sein sonst so dunkler Bass war fiepsig geworden und heiser, als hätte er schon seit Jahren kein Wort mehr gesprochen. Noch einmal: „Paula?“ Sie drückte ihre Zigarette aus und ging in sein Arbeitszimmer. Ihr Vater saß am Schreibtisch, vor ihm lagen viele Papiere. Sie stellte sich neben ihn. Die schwarzen, von grauen Strähnen durchzogenen, Haare klebten an seinem Kopf und er trug noch immer seinen braunen Bademantel. Als er aufsah, merkte sie, dass er geweint hatte. Paula erschrak, sie hatte ihren Vater noch nie weinen sehen, er war schon immer der Fels in der Brandung gewesen, an dem jedes Problem abzuperlen schien wie Wasser auf einem Wachstischtuch. Doch jetzt waren seine Augen gerötet und noch immer bahnten sich vereinzelte Tränen ihren Weg über seine stoppelige Wange. Er hustete, doch es klang mehr wie ein Schluchzen und Paula fühlte, wie auch ihre Augen heiß wurden und brannten. Ihr Vater sagte nichts mehr, sah sie nur an. Sie wusste nicht, was sie tun sollte und so beugte sie sich vor und umarmte ihren Vater. Er schloss sie fest in die Arme und stand, ohne sie loszulassen, vom Stuhl auf. Paula legte ihren Kopf auf seine Schulter und so standen sie eine Weile da. Es herrschte vollkommene Stille. Sie standen nur da, fest umschlungen, hielten sich gegenseitig und weinten.



Die nächsten vier Tage flossen dahin, stetig und ereignislos. Ab und zu ging Paula mit Maria Kaffee oder Bier trinken. Nur selten sprachen sie über das, was passiert war oder darüber, wie Paula sich fühlte. Für sie war das in Ordnung, sie versuchte, stark zu wirken, unbeeindruckt und glaubte doch nicht, dass es ihr gelang. Ihre Außenwelt fasste sie mit Samthandschuhen an, sie hatten alle Angst. Angst davor, dass sie weinen würde. Angst davor, mit dem Thema auf dem emotionalen Minenfeld eine Bombe hochgehen zu lassen. Und Angst davor, unsensibel zu wirken, tollpatschig und grobschlächtig. Und so blieb Paula meist für sich allein, saß die meiste Zeit, in eine Decke eingehüllt, auf der Terrasse und rauchte eine Zigarette nach der anderen.



Sie hatte es nicht geschafft, mit dem Rauchen aufzuhören. Eigentlich hatte sie es auch gar nicht versucht. Paula verstand selbst nicht so genau, wie sie unter diesen Umständen damit weitermachen konnte, wie sie die Realität verdrängen konnte, unter derer ihrer Mutter doch diesen grausamen Tod gestorben war, aufgefressen von innen, verseucht und befallen von Krebszellen, in ihrer Lunge und in ihrem Kopf.



Als die Krankheit ihrer Mutter in dem kleinen Dorf Wellen geschlagen hatte, hatte eine Nachbarin sie angeschrien, entsetzt und verstört, wie sie, um Gottes Willen, weiterrauchen konnte. Was sie damit für ein Vorbild abgebe, nicht zuletzt für ihre Mutter. Paula war wütend gewesen. Ihre Mutter würde nicht aufhören zu rauchen, das war ihnen allen klar gewesen. Es gab kaum ein Foto von ihr, auf dem sie nicht mit der brennenden Kippe zwischen den gelben Fingern zu sehen war. Auch während ihren zwei Schwangerschaften hatte sie nicht davon abgelassen. Nachdem ihr von der Chemo die Haare ausgefallen waren, war sie, mit Mütze und Schal bewaffnet, noch immer draußen gesessen und hatte geraucht. Auch das hatte Paula oft wütend gemacht, sie hatte das Gefühl gehabt, ihre Mutter versuche gar nicht, den Krebs zu besiegen. Heute dachte sie, dass sie womöglich schon damals gewusst hatte, dass es ein aussichtsloser Kampf war.

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