Süddeutsche Zeitung

Unsere Kernprodukte

Im Fokus

Partnerangebote

Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?

Anzeige inserieren

Möchten Sie unsere Texte nach­drucken, ver­vielfältigen oder öffent­lich zugänglich machen?

Nutzungsrechte erwerben
Aus der ehemaligen jetzt-Community: Du liest einen Nutzertext aus unserem Archiv.

In Somalia steht ein Taxi II

Text: InaKorksen

Die kühle Nachtluft schlägt ihr ins Gesicht, eine Wohltat. So hat Louise das Gefühl, wenigstens ein wenig atmen zu können. Mit schnellen Schritten geht sie voran, in ihrem Gesicht ist gerade alles zu lesen. Die Trauer, die Wut, das Unverständnis. Sie will nicht, dass Max es lesen kann, obwohl sie weiß, dass sie ihr schneller Gang und die knappen Antworten mit hoher Stimme verraten.
Warum? Warum hat er sie hierher gebracht, warum hat Max gesagt, er würde sich freuen, sie endlich wieder zu sehen? Warum hat er sie zwei Monate zuvor geküsst? Warum gehört sein Herz jetzt einer anderen? Warum malt er nicht mehr mit ihren Farben? Warum sieht er nicht das, was Louise so unbedingt sehen will?
„Das ist ein Problem für dich, nicht wahr?“ fragend blickt Max Louise an. „Ein Problem? Ein Problem!“ ruft Louise aus. „Warum bin ich hier Max? Warum haben wir uns vor zwei Monaten geküsst? Was will ich hier eigentlich?“ Sie schleudert ihm diese Worte entgegen, der Alkohol bricht alle Dämme und spült ihre Gefühle ungefiltert an die Oberfläche. Tränen stehen ihn Louises Augen und da wird ihr klar: Louise und Max. Die Gartenzwerge, die Affen mit den Bananen, die Farben und den Malkasten gibt es nicht mehr. Der kleine Junge mit den klugen Augen und dem Bart ist ihr fremd. Nicht eine Sekunde hat sie daran gedacht, dass Max gar kein Gartenzwergkönig mehr sein will. Dass Max nun ein anderer ist und Louise ihn nicht mehr berühren kann. „Wir sind doch Freunde. Wir können doch Freunde sein? Oder nicht? Ich dachte, wir können Freunde sein.“ Max sieht Louise unbeholfen an. Es ist ihm unangenehm, Louises Gefühle sind ihm unangenehm, er scheint peinlich berührt von ihrem Ausbruch.



Als Max die Stufen zu seinen Hochbett erklimmt und Louise sich auf der kleinen Couch zusammenrollt und sich die Decke bis unters Kinn zieht, wirft der Mond lange Schatten in das große Zimmer, in der fremden Stadt. Louise betrachtet die Bilder und Skizzen an der Wand und ihr wird bewusst, dass Max nie wieder einen Gedanken mit ihr teilen wird. Sie würde nie wieder das Mädchen sein, das neben ihm steht, wenn seine Bilder ausgestellt werden. Sie würden sich nie wieder anlächeln, weil sie wissen, dass die Idee zu diesem oder jenem Bild entstand, als sie Kartoffelecken mit zu viel Ketchup und noch mehr Mayo gegessen hatten. Oder als sie diffus im Strandkorb saßen, nachdem sie sich unbefugt Zutritt verschafft hatten. Oder als sie nach einer gemeinsamen Nacht auf dem Heimweg über einen Zaun stiegen, sich in einem fremden Garten ineinander kuschelten und ein morgendlicher Sommerregen sich über ihre Körper ergoss. Louise liegt also auf dieser Couch, hört Max leise und regelmäßig atmen und ihr kämpferisches Herz versagt ihr die Revolution. Es ist zu spät, Plakate zu bemalen, Manifeste zu schreiben und öffentliche Gebäude zu besetzen. (Diesen Gedanke würde Louise natürlich nicht mit ihren treuen Genossinnen und Genossen teilen, diese hätten bestimmt eine anderen, sehr dezidierte, Meinung zu diesem Thema.) Und so wiegt dieser Gedanke schwer auf Louises kleinem Herzen und drückt ihr erst nach langem Warten auch die Augen zu.



Louise hat das schön öfter probiert, geklappt hat es nie. Sie hält die Augen am Morgen geschlossen und hofft somit, der Realität noch ein wenig zu entfliehen. Doch eigentlich ist schon im Moment des Wachwerdens klar, dass die Realität gerade ziemlich übel aussieht. Wenn wir nun also nüchtern die Fakten betrachten, sieht die Sache so aus: Die verrückte Louise, die Romantik immer so offensiv verschmäht, macht sich auf die Reise zu Max. Louise und Max waren einst eine kleine, verwunschene Einheit, eine Insel, auf der die Uhren anders gingen. Nun ja, wie wir schon erfahren durften, sieht man kleine Unabhängigkeiten nicht gerne auf der Landkarte und so wurde der Zwergenstaat, bestehend aus Max, Louise und diversen Gartenzwergen mit Malkästen in den Händen, hinterrücks von der Realität annektiert. Louise fährt also nun zu Max, in der Hoffnung, dass sie eine kleine Konterrevolution starten. Bei Max angekommen muss Louise feststellen, dass Max sein Herz verschenkt hat und zwar nicht an Louise. Soweit so schlecht.



Louise empfindet es als Hohn, dass die Sonne lacht, währenddessen sie mühsam ihren Fluchtreflex unterdrückt und mit Max am Kanal entlanggeht. Sie schweigt viel, Max noch mehr. Wo einst Worte Tischtennis spielten, wo es nicht genug Zeit gab, um alle Verrücktheiten aus den Köpfen in die Freiheit zu entlassen. Da ist nun nichts. Rein gar nichts. Worthülsen, Witze, die einen schnellen Tod sterben und ausweichende Blicke. Louise sucht und sucht, aber sie kann hinter Max' Augen keinen Funken erkennen, sie kann sich selbst nicht sehen – so wie früher. Was sie stattdessen sieht und hört, begreift sie nicht. Wenn er redet, dann von Dingen die sie nicht versteht, ihre Fragen findet er dämlich. Wenn Louise spricht, dann hat sie das Gefühl, dass er sie nicht versteht. Es verwirrt sie und so versucht sie verzweifelt, die Situation aufzulösen, aber sie verstricken sich immer mehr in eine durch und durch missglückte Kommunikation. Louise beginnt, die Stunden bis zur Heimfahrt zu zählen und versucht gleichzeitig, unbefangen zu wirken. Doch Max wahrt den Abstand, als könne sie ihn jeden Moment anfallen, zu Boden strecken und ihn zu etwas zwingen, was er nicht will. Nähe, Gefühle. Diese Dinge gehören nicht mehr zu Louise, Max gibt sie nun einem anderen Mädchen. Und Louise? Louise hätte jedem Jungen sang- und klanglos auf Wiedersehen gesagt, wenn Max ihr noch einmal sein Herz in ihre schmucklosen Hände gelegt hätte.
Schnaps, Bier und diverse anderer Substanzen retten Louise, und wohl auch Max, vor dem Stimmungstod. Während Max im Gedränge der Party verschwunden ist, sitzt Louise mit Jona auf dem Dach des Hauses, blickt auf die Lichter der Stadt, zieht mit kalten Lippen an einem Joint und hält ihr Glas mit Gin Tonic fest umklammert. Sie versucht, den Gedanken an die schmale Feuerleiter, die in das Treppenhaus führt, und ihren leichten Schwindel zu unterdrücken und redet stattdessen mit Jona über die wirklich wichtigen Dinge des Lebens. Die Eigenschaften von magischen Wesen und unangemessenen Verhaltensweisen von fiktiven Menschen diesen gegenüber. Für Louise ist dies ganz prinzipiell kein unwichtiges Thema, doch genau in diesem Moment ist sie nur froh, nicht schweigend neben Max zu sitzen, sondern Jona bei seinen Ausführungen zuzuhören. Louise nickt eifrig, sie ist betrunken und verwirrt und verletzt. Aber das ist gerade nebensächlich. Jona hat recht, Snape ist tatsächlich die interessanteste Figur in Harry Potter.
Louise bewältigt die schmale Feuertreppe erfolgreich, wobei sie an diesem zähen Vormittag oftmals in Tagträume verfällt und sich mit einem Lächeln auf den Lippen vorstellt, wie gut sie sich fühlen würde, wenn sie dort gestern Nacht mit gebrochenen Genick gelegen hätte. Sie würde sich definitiv besser fühlen als jetzt gerade. Stattdessen streift sie gerade durch die langen Flure der Ausstellung, für die sie sich nicht interessiert. Max hat Bekannte getroffen und ist in ein Gespräch vertieft und er scheint auch keine Anstalten zu machen, dieses zu beenden und Louise einzuholen. Erst als es Zeit ist, zum Bahnhof aufzubrechen, gesellt sich er zu ihr. Von der Ausstellung zum Bahnhof ist es nicht weit. Der Zug steht schon am Gleis, als Louise und Max sich verabschieden. „Komm mich doch bald wieder besuchen.“, sagt Max gequält. „Klar, gerne. Aber erstmal wünsch ich dir ne gute Reise, viel Spaß in Asien.“, erwidert Louise gequälter. Sie umarmen sich ein letztes Mal, lächeln einander zu. Als Louise das Abteil betritt und aus dem Fenster blickt, sieht sie Max mit schnellen Schritten in der Menschenmenge verschwinden.
Als die Bundesstraßen, Sträucher und Bäume und Häuser in umgekehrter Reihenfolge an ihr vorüberziehen spürt sie nichts. Sie verschließt ihr Herz und ihren Kopf von dem Geschehenen, weil sie weiß, dass sie es gerade nicht ertragen kann. Es fühlt sich alles so falsch an, dass sie sich entschließt, für eine Weile nichts zu fühlen. Louise schließt ihre Augen und beginnt sich vom Geschehen zu lösen, sie schlägt sie erst wieder auf, als der Zug in ihren Heimatbahnhof einfährt. Es regnet, natürlich regnet es, das Leben hat wirklich einen Hang zur Dramatik, denkt Louise als sie über den Parkplatz läuft und das kleine silberne Auto am Ende ansteuert.
„Wir war dein Wochenende, Liebes?“ fragt Leon Louise, nachdem sie in sein Auto gestiegen ist und er ihr einen Kuss gegeben hat. Louise lehnt ihre Wange an das kühle Glas der Autoscheibe und ihr Atem hinterlässt ein kleinen beschlagenen Fleck, als sie sich sagen hört „Anstrengend, lass uns nach bitte nach Hause fahren, ja?“

Mehr lesen — Aktuelles aus der jetzt-Redaktion: