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In Somalia steht ein Taxi I

Text: InaKorksen

Zeit wird zäh, wenn man sie mit ungeduldigem Warten mischt. So fließen die Tage dahin, die Siebenmeilenstiefel liegen ungenutzt und verstaubt in der Ecke. Vier Nächte, viermal Haare föhnen, dreimal Zähneputzen und ein Päckchen Tabak später ist der Tag endlich da. Der Tag, an dem Louise in ihrem Arbeitszeitnachweis 8,5 h vermerken wird, dabei trotzdem schon nach 6 h gehen wird. Louise denkt sich nichts dabei, schließlich ist sie Antikapitalistin. Sich lässt sich ihr Leben nicht vom elendigen Leistungszwang diktieren. Nein! Sie nicht! Louise hat sich geschworen, nicht der Rost am Schwert der Revolution zu sein.
Louise wird also nach 6 h ihren Arbeitsplatz verlassen, aber 8,5 h vermerken. Sie wird, bevor sie das Büro verlässt, die Vorhänge sorgfältig zuziehen und mit einem prüfenden Blick ihren Schreibtisch betrachten, dann wird sie ihren alten, verschmutzten Rucksack schultern und sich auf den Weg machen. Louise ist auf dem Weg zum Bahnhof. Der Ort, an dem gute Geschichten beginnen können, ein Ort an dem schlechte Geschichten enden. Oder ein guter Ort, an dem Geschichten beginnen. Oder ein schlechter Ort mit guten Geschichten. Louise hat ein Geschichte, eine unter Tausenden, die,die immer spannender ist als alle anderen. Louise hat diese Geschichte mit Max. Max ist kein Antikapitalist. Max ist der König der Gartenzwerge, der Affe mit der Banane und, in Louises erster Erinnerung, der Junge mit dem klackernden Rucksack. Das mochte Louise sofort an Max, dass er anders war als die meisten Jungen, die sie kannte. Denn Max Kopf hielt seinen Kopf in den Wolken und malte seine Welt ganz nach seiner inneren Leinwand – mit kleinen indischen Superhelden, mit Affen und Bananen und ganz nebenbei hatten viele Gartenzwerge ein neues Zuhause gefunden, Louise hat dabei oft geholfen. Sie betrachtete die Umsiedlung der Gartenzwerge als einen natürlichen, selbstlosen Akt. Schließlich ist es allgemein bekannt, dass Gartenzwerge eher weniger mobilitätsfähig sind. Louise und Max fanden zueinander und gemeinsam lebten sie in ihrer Welt, es war ein schönes Gefühl für beide, nicht mehr allein in bunten Farben zu malen. Es war ein schönes Gefühl, in den Malkasten des anderen zu greifen und sich die Farben des anderen auszuleihen und hier und dort etwas hinzuzufügen.
Als Louise im Zug sitzt, spielt sie wie so oft an dem Ring, der an einer Kette um ihren Hals hängt. Der einzige materielle Beweis, dass diese kleine Welt einmal existiert hat. Der Beweis, dass sie früher mit anderen Farben gemalt hat. Als sie aus dem Fenster des Abteils blickt und die Häuser, Bäume, Sträucher und Bundesstraßen an sich vorüberziehen sieht, werden die Siebenmeilenstiefel an ihren Füßen schwer. Jetzt wo es soweit ist, jetzt wo der Tag da ist, auf den sie lange gewartet hatte, geht es zu schnell.
Louise und Max Welt ging irgendwann zu Bruch, wo genau und warum, dass lässt sich heute nicht mehr genau nachvollziehen. Vielleicht weil die Welt noch nie so gut darin war, kleinen Inseln ihre Unabhängigkeit zu gewähren. Louise war damals noch nicht so bewandert im revolutionären Kampf, sonst hätte sie Plakate gemalt, hätte Manifeste verfasst und öffentliche Gebäude besetzt, so dass zumindest, wenn die Schlacht doch verloren gegangen wäre, dann das gute Gefühl geblieben wäre, wenigsten gekämpft zu haben. Stattdessen blickten Louise und Max verwundert auf die Scherben ihrer Welt, die Farben hatten sich vermischt. Alles was noch zu sehen war, war grau, schwarz und irgendwie matschig. So waren sie also verwundert, verletzt und gingen ihrer Wege. Die Farbspritzer auf ihren Herzen blieben jedoch bunt und erinnerten beide bei jedem Schlag daran, dass die Scherben, die ihre Füße zerschnitten, von der Welt stammten, die sie einmal sehr geliebt hatten.
Nun ist es so, dass schmerzende Füße und erinnernde Herzen nur mäßig geeignet sind, um jemanden zu vergessen. Wobei der Mensch sowieso nicht als Ziel haben sollte, andere Menschen zu vergessen. Aber manchmal ist es eine Wohltat, wenn gewisse Menschen sorgfältig im Hängeregister der Erinnerung verstaut werden. Man holt dann ab und an die verstaubten Akten heraus, prüft Details nach und kann sie sogleich wieder an ihrem wohlsortierten Platz verstauen. Nun, wir erinnern uns, an die schmerzende Füße und die pochenden Herzen. So kam es also, dass Louise Max ganz und gar nicht in ein Hängeregister sortierten konnte. Louise wollte das auch nicht. Was Louise wollte, waren die Farben, die Welt, Gartenzwerge und Bananen. Kurz: Sie wollte Max. Louise ist zwar schon etwas bewanderter im revolutionären Kampf, ein Detail hat sie jedoch übersehen: Nach einem Kampf wird es niemals wieder so sein wie zuvor. Dieses Detail wird in den nächsten 72 h zu einer großen, nicht übersehbaren Gewissheit werden. Doch von vorne.
Der Zug fährt in den Zielbahnhof ein. Louise streicht sich nervös über die kurzen Haare, fährt mit feuchten Fingern über ihre Augenbrauen, um sie auf Linie zu bringen. Prüfend betrachtet sie ihr fadenscheiniges Spiegelbild in der Scheibe des Zugfensters. Ihre großen blauen Augen starren sie streng an. Louise sieht immer etwas streng aus, sie hat einen harten Zug um den vollen Mund, manchmal ist das hilfreich. Oft hält man sie jedoch für verbissen und arrogant. Sie versucht, ein freundlicheres Gesicht aufzusetzen, zieht nervös ihr Oberteil gerade, setzt ihren alten Rucksack auf und verlässt den Zug. Auf dem fremden Bahnsteig sieht sie sich um. Sie sucht Max, versucht ihn zwischen den vielen Menschen ausfindig zu machen und hat gleichzeitig Angst, ihn zu erblicken. Mit festen Schritten geht sie vorwärts, innerlich zögert sie. Die Siebenmeilenstiefel ziehen schwer an ihren Beinen. In ihrer Hand hält sie eine Colaflasche, Max Spitzname, sein Alter Ego, steht darauf. Ein Witz, den er sicher lustig finden wird, eine Colaflasche als Symbol für die Innigkeit, die sie sich doch immer noch teilen. Oder?
Ein Lächeln breitet sich über Louises Gesicht aus, als sie aus der Ferne Max erkennt. Auch er hält eine Colaflasche in der Hand, unverkennbar steht er dort inmitten der Menschen. Max, ein kleiner Junge mit klugen Augen und dem Bart eines alten Mannes. Der König der Gartenzwerge. Mit schnellen Schritten geht sie auf ihn zu, begrüßt und umarmt ihn. Sie ist nervös, will ihn küssen und gleichzeitig weit weg sein. Es hat seine Gründe, warum Träume Träume sind und warum das Leben nie in den gleichen Farben malt wie unsere Gedanken. Denn in unseren Träumen gibt es Farben, die es in der echten Welt nicht gibt. In dem Moment als Max nach so langer Zeit wieder vor ihr steht, begreift ein kleiner Teil von Louise, dass noch immer die Scherben unter ihren Füßen knirschen. Um dieses Geräusch zu übertönen plappert sie wild drauf los, verbissen auf der Suche nach den Wörtern, die nur Max und sie kennen. Doch Max scheint sich zu weigern, ihre Sprache zu sprechen, er umgeht die Wörter und benutzte stattdessen die Worte, die jeder Mensch kennt und spricht. Der Witz mit der Colaflasche geht nicht wie erhofft auf. „Danke, ich hab schon.“, erwidert Max und deutet auf die Colaflasche in seiner Hand. „Ich pack sie in meinem Rucksack.“, antwortet Louise unbeholfen und richtet ihren Blick suchend in die Ferne. Da gibt es jedoch nur noch mehr Menschen, Fahrkartenschalter und Rolltreppen. Kein Tor, keine Tür in die gemeinsame Welt. Der Mut und die Entschlossenheit haben sich wie verängstigte Tiere in die hintersten Ecken geflüchtet, starr steht sie neben Max. Betrachtet ihn, die Bilder aus der Vergangenheit legen sich über sein Gesicht und sie wünscht sich so sehr, dass es wieder früher sein könnte. Das Max sehen könnte, was Louise immer noch sieht, wenn sie ihn anblickt.



Nervös spielen ihre Finger am Glas herum, ab und zu nimmt sie einen Schluck von ihrem Weißwein, blickt sich in der Küche um. Überall hängen Postkarten, Bilder, Poster, die Möbel ein Sammelsurium aus Flohmarkt und Sperrmüll. Louise trinkt noch mehr, bewegt sich unsicher über das Eis und kann doch nicht genug in dieses Gesicht sehen, das lange ihr Zuhause gewesen war. Die Worte fließen an ihr vorüber, sie reden über dies und das. Reißen kleine Witze, die niemand wirklich lustig findet und Louise wartet noch immer, drei Stunden nach ihrer Ankunft, darauf, dass sich das alte Gefühl einstellt. Dass die Farben wieder leuchten. Doch die Lichter gehen aus, die Seifenblase platzt und Louises kleine Welt geht unter lautem Getöse zu Bruch, als sich fünf Worte in ihre Bewusstsein hämmern und sie von Kopf bis Fuß zerreißen. „Ich habe wieder eine Freundin.“

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