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Die Gehsteige gehören allen!

Text: Felizipito

Früh morgens füllen sich langsam die Gehsteige der Stadt: Leute eilen vorbei auf dem Weg zur Arbeit, Ladenbesitzer positionieren ihr Obst und Gemüse, Touristen strömen aus den Hotels in alle Richtungen. Ercan ist auf dem Weg zur Kreuzung Goethe-/Landwehrstraße. An der İşbank bleibt er stehen und lehnt sich mit dem Rücken an die kühle Wand. Es kommen bulgarische „Kollegen“ dazu, begrüßen ihn und stellen sich neben ihn: Sie alle warten und hoffen auf einen Job. 







Ercan kommt aus Pasardschik, einer 78.000-Einwohner-Stadt in Zentralbulgarien. Der 26-Jährige erzählt, dass die Autofahrt nach München 20 Stunden dauerte. Ab und zu wurde eine kleine Toilettenpause gemacht, auch um etwas zu trinken und zu essen. Seine Finger fahren über ein Tattoo am rechten Oberarm, ein S, der Anfangsbuchstabe seiner Mutter. Als einziges Kind ist er nach Deutschland gekommen mit der Hoffnung auf Arbeit, die meiste Zeit verbringt er allerdings mit Warten auf dem Gehsteig der Hauptbahnhofgegend. Er zweifelt, versinkt in Gedanken und kniet sich irgendwann auf den Boden. Eine blonde Frau spaziert vorbei, Ercan zieht an seiner Zigarette, grinst und nickt ihr hinterher „Super!“ Er steht wieder auf, verschwindet, um sich einen Kaffee bei Lidl zu kaufen, legt sich in den Nussbaumpark ins Gras und starrt in den Himmel. Er ist enttäuscht: „Keine Arbeit, nix gut! Alles scheiße!“ Er schlendert zurück zur Goethestraße, schaut immer wieder auf sein Handy und hält nach bestimmten Autos Ausschau. Der Bulgare hat keine Berufsausbildung und würde im Moment jeden Job annehmen, aber heute gibt es keinen. Nachts schläft er in Autos, auf der Straße oder in Parks.








Ein Polizeiauto fährt vor und ein Polizist steigt aus: „Gibt’s hier Freibier oder was? Hier ist kein Platz. Jeden Tag das gleiche. Es gibt nur Beschwerden, geht woanders hin!“ Die Ladenbesitzer, die Kunden und Anwohner fühlen sich gestört. Ercan entfernt sich von der Gruppe und setzt sich 20 Meter weiter unter ein Denkmal. „Kein Platz“, seufzt er enttäuscht, zieht aus seiner Marlboro-Schachtel die letzte LM Zigarette und raucht. Warten ist anstrengend! Die Zeit bleibt stehen, während an der Ampel mehrere Zettel in verschiedenen Sprachen im Wind flattern: Die Gehsteige gehören allen.






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