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Die Euro-Palette

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Eintrittskarte

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



So ein Reisepass ist auch ein Statussymbol. Ehrfürchtig blättern Menschen in den Pässen ihrer Freunde, die schon viel rumgekommen sind und viele Stempel gesammelt haben. Deren Pässe an den Kanten schon ganz abgestoßen und insgesamt viel dicker sind als am Anfang. Aber auch ein frischer Reisepass ist etwas Schönes. Im besten Falle ist er die Eintrittskarte in die Welt: Hinhalten, stempeln, lostanzen! Wie im Club. Wenn jemand eine anstehende Reise und seine Vorfreude verbildlichen will, zeigt er also seinen Pass. Manchmal auch das Flugticket, den Reiseführer oder das Reisetagebuch, manchmal auch alles auf einmal. Auf Instagram jedenfalls gibt es eine Menge Pässe zu sehen, von Europäern, die Europa bereisen (und den Reisepass dafür meistens gar nicht brauchen), und von Nicht-Europäern, die das ebenfalls tun. Ein Hashtag mit dem Reiseziel dazu und schon sind alle neidisch. Vor allem, wenn das verhashtagte Reiseziel auch noch ein so großes ist wie Europa. Das ist ja nicht bloß eine Stadt oder ein Land – das sind ganz viele Städte und Länder und Ziele. All diese Bilder sagen uns: Hier ist mein Pass, hier mein Hashtag dazu, und jetzt schaut ihr aber, was ich für ein krasser Globetrotter bin, gell!

Draufsicht

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Wer eine Stadt besucht, der muss sie von oben sehen. Der muss auf einen Turm steigen oder auf einen Berg, und dann wird er die Struktur der Stadt verstehen. Er wird mit dem Finger in alle Richtungen zeigen und „Ah, das ist doch . . .“ und „Siehst du da hinten die . . .“ sagen. Wenn er auf europäische Städte schaut, wird er vielleicht auch sagen, dass sie flach sind. Wolkenkratzer sind woanders, Wolkenkratzer sind nicht europäisch, nein, auch die in Frankfurt nicht. Okay, manchmal gibt es ein paar, die dicht zusammengedrängt ein Stadtviertel bilden und ein bisschen vom Kapitalismus erzählen. Und es gibt die Stadtränder mit ihren Wohntürmen, die auch vom Kapitalismus erzählen, aber von der anderen Seite her. Ansonsten: geduckte Städte, bescheidene Städte, europäisches Understatement. Bloß die Kirchtürme und Kuppeldächer stechen heraus und tun ganz stolz, altes Europa und so weiter. Als sei die Stadt ein alter Mann, der mit erhobenem Zeigefinger von ebenso alten Werten predigt. Dabei ist Europa ja viel mehr als das. Oder sollte es sein. Mancherorts wird das aber leider immer wieder übersehen. Dann wird es Zeit, vom Turm runterzuklettern und mal nachzuschauen, was unten so passiert.

Symmetrie

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



In Europa gibt es reihenweise prunkvolle, geschichtsträchtige Bauten. Es gibt Burgen und Festungen und Residenzen und Schlösser mit Parks drumherum. Da riecht es überall ein bisschen nach gepuderten Perücken und Schnallenschuhen, nach Reifröcken und Korsetts und Kutschfahrten. Also, nicht in echt natürlich, aber es liegt schon irgendwie in der Luft, wenn man nur fest genug dran glaubt. Alles wirkt sehr märchenhaft und gibt nebenher das perfekte Fotomotiv ab. Denn trotz der vielen Geschichten, die man darüber erzählen kann, sind diese Ort heute ja vor allem eins: brav. Und noch eins: ordentlich. All die Säulengänge und Torbögen und feinen weißen Kieswege, die sauberen Fassaden, die perfekt symmetrische Architektur: früher Herrschaftssitze, heute Objekte aus dem Lehrbuch des Tourismus. Mit den Fotos davon kann man später die Eltern begeistern. Und die Instagram-Follower natürlich. Die schreiben dann: „Du hast echt ein gutes Auge, voll die schöne Perspektive!“ Wäre man ehrlich, würde man antworten: „Nee, Europa ist bloß sehr symmetrisch.“

Auf der nächsten Seite: Bart-Ikonen und Volkssport.


Bart-Ikonen

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Hätte man vor ein paar Wochen gesagt, dass unter dem Hashtag #Europa demnächst lauter Frauen mit Bart auftauchen – alle hätten das für Schwachsinn gehalten. Wäre aber keiner gewesen. Seit dem Eurovision Song Contest spuckt der Europa-Filter auf Instagram nämlich reihenweise Conchita-Wurst-Bilder und an-Conchita-Wurst-angelehnte-Bilder aus. Süße Cartoons mit bärtigen Frauen. Models mit gephotoshoppten Bärten. Bärtige Männer mit Perücke. Mädchen mit angeklebten Papierbärten. Würde jemand Europa nur über Instagram kennenlernen, würde er vielleicht den Eindruck gewinnen, dass Frauen mit Bart hier „ganz normal“ sind. Oder gerade im Trend. Und stimmt ja auch, zumindest das mit dem Trend. Über alles andere („ganz normal“, Sieg der Toleranz und der Vielfalt etc. pp.) sprechen wir dann in einem halben Jahr noch mal. Dann suchen wir auch noch mal nach dem Hashtag #Europa auf Instagram und schauen, ob sich da zwischen den Bauwerken und Stadtansichten immer noch Frauen mit Bart tummeln.

Volkssport

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Die Franzosen? Spielen Boule. Die Schotten? Werfen Baumstämme. Und die Finnen? Schießen Eisstöcke. Jedem seinen Sport. Worauf sich aber am Ende immer alle einigen können, wissen wir ja. Muss in diesem Text auch gar nicht vorkommen, das Wort. Die Bilder sprechen ja für sich. Und die, die die Bilder machen, lieben ihre Stadien sowohl voll als auch leer. Darum gibt es Fotos, auf denen sie zu schlafen scheinen oder auf denen sie eben erst wach geworden sind, die Stadien, und jetzt mit geputzten Zähnen (= Ränge) und gekämmtem Haar (= Rasen) dem Ereignis harren, das da kommt und das so viele Menschen in Freude oder Trauer vereinen wird. Und es gibt Fotos, auf denen man genau das dann sehen kann, zumindest die Freude, den gemeinsamen Jubel, hochgerissene Arme, flatternde Fahnen, strahlende Gesichter. Trauer fotografieren nämlich nur Pressefotografen, auf Instagram hat es bitte fröhlich zuzugehen. So viel Einigkeit findet man auf all den anderen #Europa-Fotos selten. Sollten die in Brüssel (oder wir) vielleicht mal drüber nachdenken.

Text: nadja-schlueter - Fotos: oh

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