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Der Mann im grünen Kostüm zieht noch mal den Rotz hoch, dann tänzelt er zu dem Mädchen im Kinderwagen. Es dreht den Kopf weg, starrt auf den Boden. Der Mann beugt sich hinunter. Seine Hände in den weißen Handschuhen mit angeschwärzten Innenflächen packen die Streben des Wagens. Das Mädchen presst die Lippen zusammen und weint. Der Mann hebt den Kinderwagen hoch und wuchtet ihn die Treppe hinunter. „Sie hat noch nie einen grünen Menschen gesehen“, sagt die Mutter entschuldigend. Sie nimmt den Arm ihres Kindes und winkt damit. „Sag danke zu dem netten Onkel! Tschü-hüs!“ Der kostümierte Mann kennt das. Kleinkinder weinen oft, wenn er im Einsatz ist. Wenn sie älter sind, bringen sie ihm manchmal selbstgemalte Bilder mit.

  Ein Superheld mit Heuschnupfen am ersten Tag der japanischen Kirschblüte. Er heißt Tadahiro Kanemasu, ist 28 und trägt ein Outfit der „Power Rangers“, kombiniert mit weißen Turnschuhen. Er sieht es als seine Aufgabe, an der U-Bahnstation Honancho im Westen Tokios Passanten mit schwerem Gepäck oder Kinderwägen zu helfen. Es gibt dort weder Aufzug noch Rolltreppen. „Mein geliebtes Honancho ist in großen Schwierigkeiten“, schreibt Kanemasu deshalb in seinem Blog. Weil es an vielen der 290 Bahnstationen in Tokio weder Rolltreppen noch Fahrstühle gibt, raten internationale Reiseführer zu leichtem Gepäck. Für alle, die diesen Rat nicht befolgen, gibt es am Flughafen einen Lieferservice: Sie können sich ihre Koffer schicken lassen anstatt sie die U-Bahn-Treppen hinauf und hinab zu wuchten. Das Hightech-Land Japan – hier ist es technisch unterversorgt.

  Kanemasu ist Verkäufer in einem Bioladen um die Ecke. Seit einem Jahr steht er in seiner Mittagspause verkleidet an der U-Bahnstation und versucht zu helfen. Er nennt sich „der Kinderwagen-heruntertragende Ranger“. An einem normalen Tag trägt er zwischen zwei und zehn Buggies. Dazu ein paar Rollkoffer und Reisetaschen. Wenn nichts los ist, steht er da und grüßt die Passanten mit superheldenhaft fester Stimme, oder er sitzt auf einem Klappstuhl und liest. In einem Land, in dem es nicht üblich ist, Fremden zu helfen, hat Kanemasu ein Alter Ego angenommen, um genau das zu tun.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Anfangs sammelte Tadahiro in seiner Mittagspause Müll. Heute hilft er Passanten mit Gepäck oder Kinderwagen.

  Eine Frau in ihren Zwanzigern passiert Kanemasu. Wiegendes Gestöckel auf Pfennigabsätzen, kleiner Koffer. „Darf ich Ihnen beim Tragen helfen?“ Blick auf den Boden, Nachdenken, Blick auf den Superhelden. „Ja, in Ordnung.“ Er nimmt den Koffer. „Aber“, sagt die Frau, „dann will ich ein Foto machen.“ Kanemasu posiert. „Bitte den Koffer mit einer Hand halten und mit der anderen eine Faust machen!“ Kanemasu gehorcht, dann trägt er ihren Koffer runter zu den Gleisen. „Du bist cool, danke!“

  Als idealer Abstand zwischen zwei Menschen gilt in Japan: die Distanz, die beide brauchen, um sich verbeugen zu können ohne anzustoßen. Mehr Nähe ist ein Eingriff in die Privatsphäre. Auch direkter Blickkontakt gilt in Japan als unhöflich. Es kann passieren, dass eine junge Frau beim Aussteigen aus dem Zug stürzt und die Leute hinter ihr über sie hinwegsteigen. Es gälte als flegelhaft, sie zu berühren, um ihr aufzuhelfen. Es gab in Tokio schon Vergewaltigungen in vollen Zügen. Deswegen gibt es mittlerweile Waggons, in die zur Rush Hour nur Frauen einsteigen dürfen.

  Wenn Kanemasu auf die Menschen zugeht, dringt er in ihre Intimsphäre ein. Er möchte hinschauen. Und er möchte gesehen werden. Seine Power-Ranger-Aktion ist eine Art Graswurzel-Kampagne für mehr Hilfsbereitschaft in der Öffentlichkeit. Laut einer Umfrage der japanischen Seite „goo Ranking“ würden 43,6 Prozent der Bevölkerung gerne Menschen mit schwerem Gepäck helfen, können sich dann jedoch nicht dazu durchringen. 62,5 Prozent ist es peinlich, mit viel Gepäck in einen vollen Zug zu steigen.

Das Fernsehen war da, es gibt einen Song über ihn. Trotzdem ist er meistens alleine.


  Kanemasu sagt, die Maske helfe ihm dabei, zu helfen. Wo er Fremden näher kommen muss als eine beidseitige Verbeugung, schafft das Kostüm eine künstliche Distanz. Trotzdem krallt sich an diesem Tag eine Frau irritiert am Handgriff ihrer Reisetasche fest, als er ihr seine Hilfe anbietet. Sie guckt, als ginge es niemanden etwas an, dass sie ihre Tasche eigentlich nicht alleine tragen kann. Ein erschöpfter Vater, ein Kind auf dem rechten Arm, zusammengeklappter Kinderwagen und ein zweites Kind am linken Arm, schüttelt den Kopf: „Danke, geht schon.“ Kanemasu hat noch viel zu tun.

  Zwei Stunden zuvor und ein paar hundert Meter entfernt. Kanemasu, weißes Hemd, grüne Schürze, steht in einem holzvertäfelten Biomarkt, dem „Supernatürlichen Supermarkt“. Gerade ist Gemüse angekommen: Kresse und Rucola frisch vom Bauernhof aus einer Stadt südlich von Tokio. „Ich mag Gemüse“, sagt er. Er trägt die schwarzen Haare kurz und ungestylt, dazu Jeans und Turnschuhe. Kanemasu ist kein auffälliger Japaner. In den Regalen hinter ihm stehen Glasflaschen mit „biologischem Tomatensaft (salzfrei)“. Die Welt, die ihn im Supermarkt umgibt, ist schon einen Tick näher dort, wo sie sein sollte.

  Mittagspause. Kanemasu zieht sein Handy hervor und twittert: „Ich rücke jetzt aus. Bitte sprecht mich ruhig an, wenn ihr Hilfe am Bahnhof braucht, auch wenn ich gerade beim Saubermachen bin.“ Dann geht er sich umziehen. Seine Wohnung ist wenige Schritte vom Supermarkt entfernt. Er schlüpft in den grünen Nylonanzug und die weißen Handschuhe, zieht sich die Maske über den Kopf. Er sieht die Welt jetzt durch ein schwarzes Gitter. Und die Menschen sehen in ihm nicht mehr den unauffälligen Durchschnittsjapaner, sondern den Superhelden. Er nimmt sich den Bambusbesen und die metallene Klappschaufel, die an der Außenwand des Supermarkts lehnen, und macht sich auf den Weg. Den Blick auf den Boden gerichtet, fegt er auf den paar hundert Metern bis zur U-Bahnstation zwei Zigarettenstummel, ein Taschentuch und ein Stück Plastikfolie in die Schaufel. Tokio ist eine saubere Stadt – aber für seine geschulten Augen ist sie dreckig.

Andere lotsen Schulkinder über die Straße - er hilft an der U-Bahn-Treppe. Nur dass er aussieht wie ein Power Ranger.


  Schon seit sieben Jahren hilft Kanemasu, sie sauber zu halten. Reinlichkeit war das erste, was er seinem Viertel von Tokio geben wollte. Es war kurz vor dem Uniabschluss. Immer wenn Zeit war, pickte er Zigarettenstummel aus den Ritzen der Stadt. Warum macht einer so was? „Mir war langweilig“, sagt er. „Und es liegen so verdammt viele Kippen überall rum.“ Während seine Freunde Arbeit suchten, hatte er schon eine Anstellung in dem Laden in Aussicht. Wie andere Schulkinder über die Straße lotsen, sammelte er Müll. „Hätten meine Freunde Zeit gehabt, hätte ich natürlich lieber die getroffen.“ Das Kippensammeln wurde sein Ehrenamt.

  Kanemasu wirkt wie ein einsamer Mann. „Ich würde gerne die Kirschblüte angucken gehen“, sagt er einmal zu einem Passanten, „aber das mache ich erst, wenn mich jemand dazu einlädt.“ Auch seine Kostümierung hat er gewählt, weil er beim Müllsammeln Kontakt suchte. „Normal angezogen hätte ich irgendwer sein können.“ Er wollte etwas, das ihn besonders machte, „mit dessen Hilfe ich ins Gespräch komme.“ Deshalb öffnete Kanemasu vor einem Jahr seinen Schrank und suchte nach etwas Skurrilem.
  Verkleidung ist in Japan üblicher als in Deutschland. In den 80erjahren hat man dort „Cosplay“ erfunden, das „Kostümspiel“. Dabei verkleiden sich Menschen als Charaktere von Anime oder Manga. Sie halten Kongresse ab, auf denen sie über die gelungenste Verkleidung abstimmen. Manche „Cosplayer“ werden zu Stars und ihre Fotos auf Sammelkarten gedruckt.

  In seinem Schrank fand Kanemasu die Power-Ranger-Verkleidung, Überbleibsel einer Unifeier. Er entschied sich dafür, weil es das auffälligste war. Der Ursprung der Power Ranger liegt in Japan. Der Grüne ist der jüngste der Truppe, aber Kanemasu hat auch die anderen vier Farben im Schrank.

  Kanemasu fing an, in seiner Mittagspause kostümiert und ehrenamtlich die Stadt zu reinigen. Der Anzug zeigte Wirkung, er kam mit den Menschen ins Gespräch. Einmal redete er mit einer Frau, die einen Kinderwagen an der U-Bahnstation vorbei schob. Weil es in Honancho keine Rolltreppen gibt, lief sie ein paar hundert Meter zur nächsten Haltestelle. Kanemasu fährt selbst nie U-Bahn, weil das meiste, was er tut, in Laufdistanz zu erreichen ist. Aber die Frau zeigte ihm, was in seiner Stadt störte, abgesehen von Zigarettenkippen auf der Straße. „Ein cooler Held trägt auch Kinderwägen“, sagt er. Seitdem ist er fast jeden Tag hier, ein, zwei Stunden lang: schleppt, reinigt, grüßt. Ein Superheld, der im großstädtischen Alltag hilft.

  Die, die seine Unterstützung in Anspruch nehmen, wissen oft nicht, wie sie danken sollen. Ein alter Mann: „Vielleicht eine Cola vom Automaten?“ – „Wirklich nicht, danke.“ In Japan ist es üblich, dass Geschenken Gegengeschenke folgen. Man möchte nicht in der Schuld anderer stehen. Kanemasu und der alte Mann bewegen sich verbeugend einander zugewandt von einander weg. Endlich dreht der Alte sich um und passiert die Schranke. Zurück. Warten. Eine Kippe in die Klappschaufel fegen. Leute begrüßen. Guten Tag. Manche grüßen zurück, viele schauen weg.

  In seinem Viertel kennen ihn die Leute mittlerweile. Auch das Fernsehen war schon da, ein paar Blogs haben über ihn berichtet. Ein Bekannter von Kanemasu hat Anstecker bemalt auf denen steht: „Ich liebe den Kinderwagen-heruntertragenden Ranger“. Kanemasu verschenkt sie an die Kinder. Eine andere Bekannte hat für ihn einen „Ranger-Unterstützer-Song“ aufgenommen: „Er steht an der U-Bahnstation Honancho und trägt dein Gepäck, weil es keine Rolltreppen gibt“, singt sie auf Youtube. Es soll seine Akzeptanz steigern, vielleicht Mitstreiter anwerben. Aber mehr als ein paar spanische Touristen, die von ihm gelesen hatten und eine Stunde lang mithalfen, hat seine Aktion bislang nicht angezogen. Der Ranger ist immer noch größtenteils alleine.

  Zwei Mädchen pirschen sich an Kanemasu heran. Es sind Schwestern, sechs und sieben Jahre alt. Die kleinere versteckt sich hinter der größeren. Die sagt: „Sie wollte dich gerne wiedersehen.“ Die Kleine linst. Der Held sagt: „Du wolltest mich wiedersehen? Das freut mich aber.“ Sie hat die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Tippeln von einem Bein aufs andere. „Ich komme bald in die Schule.“ Sie reicht Kanemasu ein Blümchen. In diesem Moment rollt an den Dreien eine alte Frau ihr wuchtiges Gepäck vorbei auf die Straße. Ausnahmsweise hat es das Bahnpersonal die Treppe hochgetragen. Kanemasu blickt von den Mädchen auf und der Alten hinterher. Schön, wenn ab und zu auch andere helfen.

Text: lena-schnabl - Foto: Lena Schnabl

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