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Bertschi wacht

Text: freitagsmachichfrei

Nach Mitternacht. Meine Wohnungstür steht offen. Ich horche vom 4. Stock hinunter ins Erdgeschoss. Das Echo ist lautlos. Perfekt. Auf Knopfdruck blinken die Lampen in allen Stockwerken auf und erhellen dann die Piste. Ich schultere meine Zweimeterski und begebe mich auf meine Barfussskitour ins Parterre. Stufe um Stufe. Vorbei an den Wohnungstüren des Junglehrers, dessen Freundin in betrügt, und des albanischen Pärchens im 3. Stock, das sich in letzter Zeit oft streitet. Alles schläft.



Auf Zehenspitzen will ich dann lautlos den 2. Stock hinter mich bringen. Der Zwischenboden knarrt. Die ganzen drei Quadratmeter Boden im 2. Stock knarren. Ich verharre. Und horche erneut. Herzklopfen. Hier herrscht und wacht Frau Bertschi, meine Vermieterin. Mit ihrem Mann, dem Ex-Polizisten.



Ich glaube, Frau Bertschi hat damals beim Umbau den Handwerkern den Auftrag erteilt, die Bodenlatten nicht anzuschrauben. Vielleicht hat sie im Baumarkt sogar quietschende Latten ausgesucht. So was gibt’s. Und dann hat sie einen Teppich darüber gelegt, damit es nicht so auffällt. Und nun hat sie die Kontrolle. Niemand geht unbemerkt an ihrer Tür vorbei. Herr Bertschi hat eine Pistole im Nachttischen. Für den Fall. Hat sie mir einmal erzählt.



Und dann frage ich mich, ob ihre Wohnungstür denn auch geschlossen ist. Oder ob nun die Tür aufgerissen wird.  Frau Bertschi im Nachthemd und in Filzpantoffeln vor mir. Von hinten beleuchtet wie eine Engelserscheinung. Ein Racheengel? Hier, um mir eine göttliche Botschaft zu übermitteln. Aber vorher die Frage: „Herr Nachbar, was zum Kuckkuck machen Sie hier um diese Zeit vor meiner Tür?“ Und ich: „Skifahren.“ Und sie: „Jetzt?“ Und ich: „Nein.“ Und sie: „Barfuss?“ Und ich: „Nein.“ Und sie: „Muss ich mir Sorgen machen?“ Und ich denke: Nein, sie sollten den Boden machen, er knarrt. Und sie sagt: „Haben Sie die Wasserhahnen in Ihrer Wohnung inzwischen entkalkt? Die waren neu, als Sie eingezogen sind. Morgen möchte ich mir die ansehen.“ Und ich denke: Touché.



Und wie ich da stehe, höre ich den Zeitschalter. Nacht im Treppenhaus. Ich sehe nichts mehr. Nur, dass Frau Bertschis Tür nicht offen ist. Das sehe ich, weil ich nichts sehe. Ich atme auf. In vollkommener Dunkelheit lasse ich den 2. Stock hinter mir. Dann schon wieder dieses Klicken. Das Licht geht an. Ich vernehme schleppende Schritte. Ein heiseres Räuspern. Rauchgeschwängerte Bronchien. Bertschi von unten und von hinten? Ich halte die Luft an.



Eine voluminöse Gestalt schlurft mir leicht vornüber gebeugt entgegen. Sie schaut mich müde an. Es ist Rosie, die Gerantin aus dem Restaurant im Erdgeschoss. Meist torkelt sie irgendwann nach Mitternacht ziemlich besoffen in ihre Wohnung im 1. Stock. Und hinterlässt den Geruch, den ältere Frauen hinterlassen, im Treppenhaus.



„Gehst skifahren?“ Und ich: „Ja. Ich probiers mal barfuss. Die Skischuhe drücken mir immer so aufs Schienbein.“ Und sie: „Ja dann, Weidmanns Heil!“ Sie hebt ihre Hand, wühlt mit den Fingern im Hosensack, zieht einen Schlüssel heraus, steckt ihn ins Schloss, dreht ihn, lehnt sich mit dem Oberkörper gegen die Tür und verschwindet ohne weiteres Getöse. Die Tür fällt leise ins Schloss. Danke, Rosie, gute Nacht. Seit ihr Mann vor kurzem entschlafen ist, sauft sie sich ins Elend. Ist halt an der Quelle.



Ich seufze. Mache die letzten Schritte. Öffne die Haustür. Riskiere einen Blick hinauf zum Balkon meiner Vermieterin. Vergewissere mich, dass da keine Frau Bertschi mit einem Eimer Wasser auf mich wartet. Durchquere den Vorgarten und deponiere das ausgediente Paar Ski am Mäuerchen an der Strasse. Ohne Entsorgungsmarke. Ich geh davon aus, dass die Bretter in wenigen Stunden einen neuen Besitzer gefunden haben werden. Man kennt das.



Ich husche zurück zur Tür, schliesse sie vorsichtig. Drücke den Lichtschalter, schleiche mich die Stufen hoch. Entdecke an der Tür meiner Vermieter ein Zettelchen. Darauf steht: „Sind bis am 27. April in den Ferien. Bei Problemen wenden Sie sich bitte an Rosie.“ War ja klar. Ich poltere die letzten Stufen hinauf in meine Wohnung und sehe, dass ich die verbogenen Skistöcke oben vergessen hab.



Egal. Wenig später entschlummere ich friedvoll.



 



Um vier herum entreisst mich ein Knall der Wolke 7. Ich horche erneut in die Dunkelheit. Es ist nicht so, dass es an dieser Strasse etwas Besonderes wäre, wenn um 4 der Punk abgeht. Letzte Nacht etwa bot sich zur ähnlichen Stunde ein Päärchen eine Slowmotion-Verfolgungsjagd um den Brunnen unten an der Ecke. Beide vollgepumpt mit irgendwelchen Drogen. Oder eben auch ohne. Das liess sich nicht mit Bestimmtheit sagen. Hab mal gelesen, Teilen sei was für Facebook. Offensichtlich hatten sie ihren Stoff nicht redlich geteilt. Dies konnte ich ihrem markdurchdringenden Geschrei entnehmen.



Ich werfe die Bettdecke zurück, denn irgendwie beschleicht mich der Verdacht, dass meine halbentsorgten Skier gerade zu Kleinholz verarbeitet werden. Ich schlüpfe in meine Pantoffeln. Gehe zum Fenster. Öffne es leise. Auf der Strasse ist tatsächlich wieder etwas los. Es knallt und scheppert. Ich lehne mich aus dem Fenster und mache Bewegung aus. Dann kann ich auch deutlich meine silbrigen 2 Meter-Latten ausmachen. Sie werden die steile Kelleraussentreppe beim Haus gegenüber hinaufgetragen.



Ich erkenne zwei Männer. Der eine legt die Latten auf dem obersten Treppenabsatz parallel vor sich hin. Der andere berät ihn wohl gerade. Ich kann sein Gelalle nicht verstehen. Jedenfalls steigt Mann 1 mit seinen Stiefeln nun in die Bindungen und geht dann in die Hocke. Der andere ist nun hinter ihm, legt seine Arme auf den Rücken des Vordermannes. Nach einem vehementen Stoss rattert Mann 1 in Hocke die Kellertreppe hinunter. Nach wenigen Sekunden knallt er unten in die Betonwand. Gestöhne. Gelächter. Kurze Atempause. Dann wiederholt sich das Ganze. Wieder steht er oben. Seine Hocke sieht jetzt etwas weniger sportlich aus. Und wieder saust er gegen die Betonwand. Erneutes Gelächter. Auch meinerseits. Etwas geknickt kämpft sich der Skifahrer die Treppe hoch, um einen erneuten Versuch zu wagen. Wieder verpasst ihm der andere den nötigen Impuls, damit die Bretter in Fahrt kommen. Diese Ausdauer, diese Hartnäckigkeit.



Denke ich noch, als ich schon lange wieder im Bett liege und mich von der einen zur anderen Seite wälze. Schäfchen zählen war früher. Ich addiere also die „Bummtschäggs“ und unterstreiche die Summe in Gedanken, als die beiden Männer dann viel viel später von dannen ziehen. Frau Bertschi hätte sie schon längst zur Schnecke gemacht, denke ich noch, als mich die Schlafläuse endlich kitzeln. Und dann - a propos Bertschi - entsinne ich mich der verkalkten Wasserhahnen in der Küche. Und dass es gut sein kann, dass die Bertschi morgen um 8 vor meiner Türe steht. Ich bin wieder wach. Die Chancen stehen fifty fifty...



 



 



Treppenskifahren:



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