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Selfies für Bangladesch

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Renate Künast hält ihre Jacke in die Kamera. Eigentlich hält sie nur das Etikett vor die Linse. "komment.", steht da drauf. Komment ist eine Linie des Haute-Couture-Labels Kimberit aus Berlin. Die Designerin Kim Berit verwendet für die Kollektion nur nachwachsende Rohstoffe aus nachhaltigem Anbau und lässt ausschließlich in Deutschland produzieren. Zur ehemaligen Verbraucherschutzministerin und früheren Grünen-Vorsitzenden passt so ein "grünes" Label natürlich. Aber Renate Künast ist nicht unter die Testimonials gegangen. Sie ist nicht die einzige, die in diesen Tagen auf Facebook-, Instagram- und Twitter-Fotos ihre Kleidung verkehrt herum trägt oder zumindest so in die Kamera hält.  

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Die ehemalige Verbraucherschutzministerin Renate Künast macht mit beim "Fashion Revolution Day".

Diesen Donnerstag ist "Fashion Revolution Day". An diesem Tag jährt sich einer der schlimmsten Unfälle in der Textilgeschichte zum ersten Mal: der Einsturz der Textilfabrik Rana Plaza in Bangladesch. Mehr als 1.100 Menschen starben damals, viele weitere wurden verletzt. Noch heute warten viele Hinterbliebene auf ihre Entschädigung. Auf der ganzen Welt gibt es dazu Aktionen: Workshops und Events, Upcycling-Kurse, Kleidertausch-Aktionen und Ausstellungen, organisiert von Designern, Fotografen, Ladenbesitzern und Fairtrade-Organisationen.  

Die deutsche Initiative startete bereits im Januar 2014 in Berlin. Der 24. April, der Jahrestag, ist – für dieses Jahr – der Höhepunkt des Ganzen. Die Veranstalter rufen auf, T-Shirts, Jacken und Hosen verkehrt herum zu tragen: auf links, also mit den Nähten und vor allem dem Herstelleretikett nach außen. Das ist freilich unpraktisch, aber es soll daran erinnern, dass die meisten gar nicht wissen – und nicht wissen wollen –, wer ihre Kleidung unter welchen Bedingungen hergestellt hat.  

"Die Kampagne soll Transparenz in der Produktion schaffen, näher bringen, welche Menschen hinter einem Kleidungsstück stecken", sagt Annett Borg, 32, aus Berlin. Für ihr Upcycling-Label Rohstoff produziert sie hauptsächlich Blusen und Accessoires aus Bettlaken und Reststoffen aus der Industrie, und sie gehört zum deutschen Organisationsteam des "Fashion Revolution Day". Aber ob das Herstelleretikett allein schon Transparenz schafft? Am Label und dem Verweis "made in..." kann man noch nicht viel ablesen. Auf vielen Etiketten steht nicht mal ein Herkunftsland, weil die Kleidungsstücke während der Produktion zum Teil durch viele Länder gehen, bis sie im Laden hängen. "Aber es führt dazu, dass man darüber nachdenkt", sagt Annett, "gerade, wenn Fotos von dieser Aktion im Netz geteilt werden. Viele nachhaltige Labels schreiben ganz genau auf ihre Etiketten, wie ihre Kleidungsstücke entstanden sind. Dann fragen hoffentlich Kunden auch mal bei H&M nach, wie das denn bei ihnen ist mit der Transparenz." Aufmerksamkeit schafft so ein Aktionstag natürlich, auch der Hashtag #Insideout, unter dem auf Twitter und Instagram Selfies mit umgedrehten T-Shirts gepostet werden.  

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

"Who Made Your Clothes?" lautet der Claim der Kampagne "Fashion Revolution Day".

Die Aufmerksamkeit und die Diskussion sind allerdings nach sämtlichen Unfällen, die leider immer noch viel zu oft in Textilfabriken in Asien und Afrika vorkommen, erstmal groß - aber nie besonders lang. Im November 2012 zum Beispiel starben mehr als hundert Menschen bei einem Brand in der Tazreen-Fashion-Fabrik in Bangladesch. Auch damals erhoben Kommentatoren ihre moralischen Zeigefinger, Ratgeber mit Tipps für fairen Kleiderkauf wurden verfasst und im Netz geteilt. So wird es auch an diesem Jahrestag sein. Und danach? Ist das Ganze schnell wieder vergessen. Oder hat sich in dem Jahr seit dem Einsturz der Rana-Plaza-Fabrik doch etwas getan? "Insgesamt wächst das Bewusstsein, das merke ich auch in meinem Freundeskreis", sagt Annett. "Und unsere Verkaufszahlen steigen, wenn auch langsam."  

Zahlen über den Verkauf von fairer Mode gibt es keine, aber der Fairtrade-Markt insgesamt wächst seit Jahren stetig. Sogar H&M meldete im vergangenen Jahr, ganz auf "faire Mode" umstellen zu wollen. Wie das genau aussehen soll und wie H&M trotzdem die niedrigen Preise erhalten will, ist noch nicht klar. Aber es zeigt, dass die Modebranche langsam umdenkt. Jedes Jahr werden mehr faire Mode-Labels gegründet, vor allem in Berlin. Dort gibt es seit Oktober 2011 sogar den Master-Studiengang "Sustainability in Fashion" an der Modeschule Esmod. In dem Master-Kurs geht es neben Design um zukunftsorientierte, nachhaltige Ansätze. Unter den ersten Abschlussarbeiten waren biologisch abbaubare Sneakers und die Absolventin Simone Simonato hat eine Taschen-Kollektion entworfen, die  aus textilen Produktionsabfällen gefertigt wird. 500 Arbeitsplätze sind so in Bangladesch entstanden, außerhalb der gefährlichen Fabriken.  

Auch in der Politik hat sich was getan. Der Bundesentwicklungsminister Gerd Müller (CSU) hat vor ein paar Wochen angekündigt, in diesem Jahr ein neues Textilsiegel für soziale und ökologische Mindeststandards einzuführen. Die Initiative des europäischen Einzelhandels überprüft nach eigenen Angaben seit diesem Jahr unangekündigt Produktionsstätten mit verschärften Prüfkriterien.  

Es passiert etwas, langsam. Annett ist es wichtig, dass die "Fashion Revolution" nicht beim "Fashion Revolution Day" bleibt, dass weiter auf die Unternehmen und die Politik Druck ausgeübt wird. Sie geht an Schulen und gibt dort Workshops, schaut sich gemeinsam mit den Schülern die Hersteller-Etiketten an und zeichnet auf einer Weltkarte ein, wo sie hergestellt wurden, lässt die Teilnehmer Briefe an die Textilhersteller schreiben. Für die Aufmerksamkeit in der Masse sind Events wie der "Fashion Revolution Day" wichtig. Annett hat dafür unter anderem ein Musikvideo (mit - Wortspiel - dem Rapper "Bang La Fresh") mitproduziert und organisiert am 24. April einen Flashmob, natürlich in Berlin (17 Uhr, Wilmersdorfer Straße / Ecke Pestalozzistraße).

Auf Twitter erscheinen währenddessen im Minutentakt Tweets mit neue Fotos von umgedrehten Kleidern und Worten, die an den Einsturz der Fabrik in Bangladesch erinnern. Und alles, was die Aufmerksamkeit verlängert, ist gut.    

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Wo und wie man faire Kleidung findet, steht im Lexikon des guten Lebens.

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