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Anarchie in Athen

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Der kaum noch wahrnehmbare Geruch des in der Nacht ausgebrannten Cabrios mischt sich mit dem Duft von gegrilltem Souvlaki vom Imbiss um die Ecke. Serpentinenschwaden von Gras fließen durch die Luft, lösen sich auf. Aus der benachbarten Bar grölt und kracht griechischer Rap. An den Häuserfronten und den kleinen Plätzen sind viele Banner gespannt – „Hände weg! Das ist unser Viertel!“ An den Wänden der Häuser, unter den Bannern, Graffiti: „Hellas, warum verkaufst du deine Kinder?“, „Eat the rich“, „Griechenland stirbt“. Gedenktafeln für zwei erschossene Demonstranten. Beide grade mal fünfzehn Jahre alt. Noch Schüler.

Mit dem üblichen Bild des touristischen Athen hat all dies nichts gemein. Weder mit der über der Stadt thronenden Akropolis noch mit den klassizistischen Bauten an der Platia Syntagma, dem Platz, an dem das griechische Parlament steht und auf dem in den vergangenen Jahren manchmal Hunderte, oft aber auch Hunderttausende Griechen gegen Arbeitslosigkeit, Mas­senentlassungen und Fremdbestimmung demonstriert haben.



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Exarchia – das ist das andere Athen. Der Staat hat in diesem Viertel nichts zu sagen: Polizisten trauen sich nur noch in Truppenstärke in die engen Gassen. Der Bezirk rund um den Exarchion-Platz ist die Hochburg der alternativen Szene im Herzen Athens, ein Barometer für die Krise der griechischen Gesellschaft. Am Abend steigen hier spontane Straßenpartys, billiges Bier, laute Musik inklusive. Schüler, Studenten, Künstler, Anarchisten, Autonome, aber auch alteingesessene Bürger beanspruchen den Bezirk für sich, halten seit Jahren Häuser, Kinos, Geschäfte und Cafés besetzt, betreiben eine eigene Radiostation, eine kostenlose Gesundheitseinrichtung, benennen eigenhändig Straßen um. Der Staat schaut machtlos zu. Viel zu bieten hat er wegen klammer Kassen ohnehin nicht.

Exarchia ist ein alternatives Viertel, eines mit sehr unterschiedlichen Gesichtern. Es kann schillernd und pulsierend sein, voller Hilfsbereitschaft und Lebensfreude. Und es kann hart und voller Verzweiflung sein.

Aphrodite Mitsopoulou, 34, hat in Thessaloniki Architektur studiert, bis sie nach Athen zog, um Schauspiel zu studieren. Seit mehr als fünf Jahren wohnt sie in Exarchia. „Hier läuft die Party“, sagt sie lachend, als sarkastische Anspielung auf die Aussage deutscher Politiker, die „Party in Griechenland sei vorbei“. Bei einem Glas Tee sitzt sie in der Bar „Floral“, einem Treffpunkt für Schüler und Studenten des Viertels. Wüsste man nichts über Exarchia, könnte die Bar glatt als hip durchgehen. Schwarz-Weiß-Fotos mit Porträts von Keith Richards oder Filmausschnitte aus „… denn sie wissen nicht, was sie tun“ über der Theke wechseln sich ab mit dokumentarisch anmutenden Bildern aus früheren Barzeiten, vielleicht aus den Siebzigern: Die Stühle stehen auf den Tischen, ein Kellner in weißem Jackett stützt sich auf einen Besenstiel, nachdenklich, gleich wird er den Fußboden wischen. Hinter ihm ein Blechschild mit dem französischen Namen „Café de Flore“. Es ist eine Hommage an das berühmte Pariser Café im sechsten Arrondissement, das einmal Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir und Pablo Picasso zu seinen Gästen zählte. Die jungen Besucher des „Floral“ drehen sich ihre Zigaretten selbst, wie einst Sartre, auch ihre Gespräche drehen sich um den Existenzialismus, um Themen wie Freiheit, Angst, Verantwortung und Handeln – allerdings ein Stück wahrhaftiger, als den meisten wohl lieb ist.

Die Arbeitslosenrate der 15- bis 24-Jährigen in Griechenland liegt bei knapp 62 Prozent, die ihrer Eltern und älteren Geschwister bei rund 28 Prozent. In keinem Land der Europäischen Union sind diese Zahlen höher. Jeder, der im „Floral“ sitzt, weiß: Selbst wenn er oder sie nach dem Studium einen Job findet, werden sich damit nicht mehr als 400 oder 500 Euro im Monat verdienen lassen. „Das ist die beste Perspektive einer ganzen Unigeneration“, ruft einer der Cafébesucher vom Nachbartisch. „Sarkasmus“ ist ein griechisches Wort. Der beißende Spott für viele die einzige Möglichkeit, bei einem Glas Frappé ihre aktuelle Situation herunterzuspielen. Sie sei zwar knapp bei Kasse, sagt Aphrodite, denn für Architekten gebe es derzeit keine Arbeit. Auch ihr Freund Georgios, studierter Soziologe, komme derzeit nicht auf einen grünen Zweig. Er sitzt ihr gegenüber und schweigt. Einmal pro Woche trete sie aber mit einer Schauspielgruppe in einem Theater für Kinder auf, erzählt sie. Vor Kurzem hatte sie noch eine andere Idee. „Wir saßen mit Freunden zu Hause und haben uns gefragt: Was tun?  Da sagte ich spontan: Lasst uns singen!“ Daraus wurde der „Chor von Exarchia“. Und Aphrodite Mitsopoulou leitet diesen Chor. Mitmachen kann jeder, sagt sie. Derzeit seien es etwas mehr als zwanzig Sänger und Sängerinnen. „Dieser Chor macht mir ungeheuer Spaß. Ich kann meine Sorgen und Probleme vergessen. Die Krise ist dann auf einmal ganz weit weg“, erzählt Aphrodite.

„Krise“, auch ein Wort griechischer Herkunft. Sie hat nicht nur in das Leben von Aphrodite und Georgios eine Lücke gerissen. Um die Ecke, im von Autonomen besetzten sozialen Zentrum „Vox“, werden jeden Mittwoch- und Donnerstagabend Kranke kostenlos behandelt – von Ärzten aus dem eigenen Viertel. Das Wartezimmer ist mit ausgeschnittenen bunten Papierpflanzen beklebt, Spielsachen liegen in der Ecke, für Kinder, die mit den Eltern zur Untersuchung kommen. Das griechische Gesundheitswesen steht kurz vor dem Kollaps. Die staatliche Gesundheitskasse hat mehrere Milliarden Euro Schulden, in den staatlichen Krankenhäusern warten Pfleger und Ärzte seit Monaten auf ihr Gehalt, die Folgen des Spardiktats sind täglich vor den Apotheken Athens zu sehen: Arbeitslose und Rentner, die um Medikamente betteln, weil sie keine Krankenversicherung mehr haben oder weil diese die notwendigen Medikamente nicht bezahlt. Die selbstorganisierte Gesundheitseinrichtung im „Vox“ bietet den Einwohnern Exarchias eine medizinische Grundversorgung und psychologische Unterstützung an. In den vergangenen Jahren wurde das Gebäude, das paradoxerweise dem staatlichen Gesundheitsministerium gehört, mehrmals von der Polizei gestürmt und anschließend versiegelt. Immer wieder haben sich die Aktivisten das „Vox“ zurückerobert, nachdem die Polizei verschwunden war. Offiziell mit uns sprechen will niemand, nur einer sagt am Telefon, ohne seinen Namen zu nennen: „Hier ist jeder willkommen: Migranten, Wohnungs- oder Arbeitslose, prekäre Arbeiter ohne Zugang zu den Gesundheitsdiensten. Wir sehen uns als lebendige Zelle des sozialen Widerstands und der Emanzipation gegen die gegenwärtige Barbarei.“ Es klingt etwas pathetisch. Aber wer sich in Exarchia umsieht, weiß, dass es sich nicht nur um große Worte handelt.



Im Theatersaal in der Themistokleousstraße, ein paar Häuser vom „Floral“ entfernt, ist an diesem milden Märzabend fast jeder Sitzplatz besetzt. Auf der Bühne ein Holztisch, der Lack abgeblättert. Xenia Chrysochoou, 48, pechschwarzes Haar, helle Haut, fragt von der Bühne aus: „Wer braucht Unterricht?“ Prompt heben gut ein Dutzend Väter und Mütter im Publikum den Arm. „Es geht um meine Tochter“, sagt eine Mutter. „Sie braucht unbedingt Nachhilfe in Physik, Chemie und Biologie.“

„Schön. Genau diese Fächer bietet Janna an“, antwortet Chrysochoou.

Janna, 40, schlank, Hornbrille, sanfter Blick, steht auf, stellt sich vor. Sie lehrt Physik an der Universität Athen. Geduldig notiert Chrysochoou die wichtigsten Daten der Schüler: Name, Alter, Telefonnummer und gewünschte Fächer. Am Ende stehen sechzehn Namen auf der Liste. „Die Eltern können es sich nicht mehr leisten, ihre Kinder wie früher nachmittags auf eine private Nachhilfeschule zu schicken. Jetzt kommen sie zu uns“, sagt sie.



„Zu uns“ heißt zur Bürgerinitiative Exarchia. Gegründet wurde diese vor sieben Jahren, vor Kurzem aber hat die Initiative die „Zeitbank Exarchia“ ins Leben gerufen. Sie funktioniert so: Unidozentin Janna bekommt für ihren Privatunterricht Gutschriften bei der Zeitbank. Ob Babysitting, Bügeln, Maler- oder Elektroarbeiten – wem Zeit gutgeschrieben worden ist, der kann im Gegenzug die Arbeit anderer Bürger aus dem Viertel als Dienstleistung in Anspruch nehmen. Kostenlos. Janna braucht die Hilfe eines Elektrikers. Das Prinzip: Alle Arbeiten haben genau den gleichen Wert. Die einzige Währung ist die aufgewendete Zeit. Mittlerweile führt die Zeitbank mehrere Hundert Kunden.

Über Griechenlands Grenzen hinaus erlangte Exarchia traurige Bekanntheit als Ort des ersten Studentenaufstands gegen die Militärjunta, die das Land zwischen 1967 und 1974 regierte. Am 17. November 1973 riss ein Panzer des Regimes das Tor des Polytechnikums nieder, das Studenten besetzt hielten. Je nachdem, mit welcher Seite man spricht, ist die Rede von 25 bis 50 Toten. Die Ereignisse um den Studentenaufstand waren der Anfang vom Ende der Obristendiktatur und begründeten den Mythos des Viertels als alternatives Zentrum. Als Folge des Panzereinsatzes am Polytechnikum wurde ein weltweit einzigartiges Gesetz erlassen: Griechische Universitäten waren von 1974 für die Polizei tabu. Das Universitätsasyl, 37 Jahre in Kraft, wurde erst 2011 gekippt, mitten in der Krise. Wahrscheinlich aus Angst, Demonstranten könnten sich dort verschanzen. Manche im „Floral“ ziehen deshalb heute schon wieder Parallelen zur Obristendiktatur.

Genährt wird der Exarchia-Mythos auch von zwei Morden: Im November 1985 wurde der 15-jährige Schüler Michalis Kaltezas von einem Polizisten der Spezialeinheit MAT erschossen, am 6. Dezember 2008 traf eine Polizistenkugel den ebenfalls 15-jährigen Schüler Alexandros Grigoropoulos. Die bereits erwähnten Gedenktafeln sind den beiden gewidmet. Die Straße, auf der Grigoropoulos starb, wurde von Bewohnern eigenhändig um-benannt und trägt nun seinen Namen. Nach beiden Morden kam es zu tagelangen Straßenschlachten zwischen Exarchia-Bewohnern und der Polizei. Unzählige Youtube-Videos von damals zeigen ausartende Demonstrationen, brennende Mülltonnen und Autos und mutmaßlich unverhältnismäßige Polizeigewalt.

So wundert es nicht, dass genau hier, so erzählen es die Bewohner von Exarchia, das „Avato“, gilt. Das griechische Wort umschreibt den Umstand, dass das Viertel für die Polizei als No-go-Area gilt. Es ist die einzige in Hellas. Wahr ist aber auch: Die Polizei ist an den Grenzen des Viertels und überall dort massiv präsent, wo es darum geht, öffentliche Gebäude zu bewachen: Polizeistationen, Parteibüros, Ministerien – aus der Angst, diese könnten angegriffen oder in Brand gesetzt werden. Fragt man allerdings die Polizisten vor Ort, spielen sie die Problematik herunter: „Alles unter Kontrolle“, sagt einer. Offiziell heißt es gar, Exarchia sei ein Viertel wie jedes andere.

Xenia Chrysochoou, Sozialpsychologin an der Athener Pantion-Universität und Bewohnerin von Exarchia, aber weiß: „Wenn man die Polizei wirklich braucht, kommt sie nicht.“ Und dass man die Polizei in ihrem Viertel braucht, ist nicht so selten. Auf dem Exarchion-Platz, der mit bunten Graffiti und beschriebenen Transparenten geschmückt ist, sind Drogenhandel und -konsum Alltag. Unter den Junkies weit verbreitet ist derzeit Sisa, eine fiese, mit Batteriesäure angereicherte Billigdroge, die schnell süchtig macht. „Kokain der Armen“ nennen sie es hier. Auf dem Platz ist das Zeug am helllichten Tag für einen Euro zu haben. Auf einem verwitterten Plakat steht in griechischer Schrift: „Die Bullen verkaufen das Heroin!“ Der Satz des Polizisten klingt einem wie Hohn in den Ohren: „Alles unter Kontrolle.“

Dennoch: Ob Theater, Kinos, In-Restaurants wie das „Saleo“, das Kultcafé „Floral“, das von Autonomen besetzte „Vox“ oder auch der legendäre Stehimbiss „Kavouras“ mit dem unangefochten besten Souvlaki-Spieß in ganz Athen: Exarchia ist ein beliebter Ort für viele junge Athener, vor allem am Wochenende. Allerdings: Das schnittige Cabrio oder den wuchtigen Geländewagen sollte man beim Besuch lieber nicht in Exarchia parken. „Die können schon mal in Flammen aufgehen“, sagt Nikos Kotselopoulos.

Kotselopoulos, 45, Rechtsanwalt, lebt auch in Exarchia. Als Student der Athener Universität in der stark frequentierten Solonosstraße, einer Querstraße zur Themistokleous, verliebte er sich schon vor mehr als 25 Jahren in „sein“ Exarchia. Er sagt: „Hier leben zwar viele Menschen der unterschiedlichsten Couleur. Irgendwie fühlt man sich aber trotzdem wie in einem Dorf. Auf der Straße treffe ich immer Bekannte und Freunde. In Athen findest du das nur hier.“

Kotselopoulos ist einer jener Aktivisten, die auf einem unbenutzten Gelände vor knapp fünf Jahren geradezu handstreichartig den Navarino-Park schufen. Die griechische Ingenieurkammer TEE, welcher das betreffende Grundstück gehört, hatte es jahrelang an den Betreiber eines Parkplatzes vermietet. Als der Vertrag Ende 2008 auslief und die Ingenieurkammer nicht wusste, was sie mit dem Gelände anfangen wollte, ergriffen vor allem die Studenten und jungen Paare mit Kindern von Exarchia kurzerhand die Initiative, ohne Absprache mit dem Eigentümer.

Ihr Motto: „Grünfläche statt Zement“. Sie brachen den Betonboden auf, sie gruben, schütteten Erde auf, pflanzten Bäume und Sträucher und richteten auch einen Kinderspielplatz ein. Heute gleicht der Navarino-Park einer Oase im Athener Betonmeer – und für Kotselopoulos ist er das Sinnbild einer funktionierenden Selbstverwaltung. Der Rechtsanwalt packte damals selbst mit an. „Ich habe einen Betonbohrer bedient, zum ersten Mal in meinem Leben“, erinnert er sich lachend und bückt sich, um herumliegendes Papier und Plastik aufzuheben und in den überquellenden Mülleimer zu stopfen. „Wir sind sehr stolz auf unseren Park. Ich liebe die Palmen und Olivenbäume. Schau, hier! Diese habe ich selber gepflanzt.“

Wohnen in Exarchia ist nicht teuer. Für ein fünfzig Quadratmeter großes Apartment zahlt man gegenwärtig ungefähr 180 Euro, fast die Hälfte weniger als noch vor fünf Jahren – Tendenz weiter fallend.

Gerade läuft eine junge Frau durch den Park. Sie sei vor etwa einem Jahr „ganz bewusst“ nach Exarchia gezogen, erzählt Johanna Voudouri: „Eigentlich müsste ich mir die Miete sparen, die ich hier für meine Wohnung bezahle. Aber mir gefällt es bei meinen Eltern überhaupt nicht mehr, seit die rechtsextreme Partei Goldene Morgenröte die ganze Region im Athener Westen terrorisiert. Schlägertrupps jagen nachts auf offener Straße Einwanderer aus Asien, weil sie eine andere Hautfarbe haben. Ich finde das schrecklich.“

Nach Exarchia traue sich kein Morgenrötler, sagt Johanna. Toleranz werde hier großgeschrieben. Auch in der Krise.


Text: alexandros-stefanidis - und Ferry Batzoglou; Fotos: Nikos Pilos

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