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Der große Graben

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Flosi Jón Ófeigsson wird nicht Islands nächster Superstar. Er hat die Jury im Fernsehstudio in Reykjavik in der zweiten Runde nicht überzeugt, jetzt ist er aus dem Rennen. Hinter den Kulissen wartet sein Mann auf ihn. Die Kamera filmt die beiden, während sie sich umarmen, dann: Schnitt, der nächste Kandidat. Ein schwules Paar im Fernsehen – in Island ist das nichts Besonderes.

  Wie auch in vielen anderen Ländern wird in der isländischen Fernsehsendung "Ísland Got Talent" das vermeintliche Gesangstalent der Nation gesucht. Flosi ist großer Fan des Eurovision Song Contests, er singt den Song "Ég á líf", den isländischen Beitrag zum ESC 2013. Das Lied handelt von Hindernissen auf dem Weg zur Liebe. "Ich lebe ein Leben in schwerer Strömung, aber ich lebe, bin lebendig – deinetwegen", lautet eine Zeile. Es ist Poptrash, ein bisschen kitschig, das weiß Flosi. Aber für ihn gehören diese Zeilen in sein Jetzt, sind erlebter Pathos, festgehalten in Pop. Für Flosi ist das Lied die Hymne auf das neue, gemeinsame Leben mit seinem Mann, mit Tusan.

  Dessen Heimat ist das türkische Izmir, es ist von Reykjavik 4274 Kilometer Luftlinie entfernt. Oder, in einer anderen Maßeinheit: 42 Prozentpunkte auf der "Rainbow Map". Diese Karte visualisiert die Rechtslage für Lesben, Bisexuelle, Schwule und Transgender-Menschen (LGBT) in allen Ländern Europas. Herausgegeben wird sie vom weltweiten Dachverband der LGBT-Organisationen ILGA. Je mehr Gleichstellungsgesetze ein Land umgesetzt hat, desto mehr Prozent erreicht es. Deutschland liegt mit 54 Prozent im oberen Mittelfeld, Großbritannien mit 77 mit Abstand an der Spitze. Auffällig ist die Färbung der Karte. Während der Norden und der Westen von Spanien bis hinauf nach Schweden hauptsächlich grün ist, leuchten Südosteuropa und die Türkei in Gelb bis Rot.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

  Die "Rainbow Map" zeigt, wie groß die Unterschiede in Sachen Gleichberechtigung von Homosexuellen in Europa sind.

  Flosi, heute 29 Jahre alt, wuchs im grünen Bereich auf. In einem Dorf in Island. Der 21-jährige Tusan dort, wo das Rot der Karte nur noch von Russland, Aserbaidschan oder Armenien übertroffen wird. Beide fühlen sich als Europäer. Jetzt sitzen sie gemeinsam beim Abendessen, in der Küche ihrer Souterrainwohnung, zehn Minuten vom Stadtzentrum Reykjaviks entfernt, und erzählen von dem Weg, der sie hierher gebracht hat. Ihre Geschichten könnten kaum unterschiedlicher sein.

  Flosi wurde in der Schule häufiger mal gehänselt. Aber eher, weil er ein dickes Kind war, sagt er, "nicht aufgrund meiner Homosexualität". Die Menschen im isländischen Hinterland bewerten Dorfmitglieder aufgrund ihrer Leistungen für die Gemeinschaft. Flosi spielte lange Fußball und trainierte Kindermannschaften. Dass er als Kind auch gerne tanzt und Lippenstifte sammelt, kann er damals selbst nicht einordnen – und die Erwachsenen kümmert es nicht. Sein Coming-out hat er mit 20. Als er auf dem Abschlussball seiner Schule "I will survive" von Gloria Gaynor singt, kapieren es auch die letzten. Ein Bekenntnis auf der Bühne.

  Wenn Tusan über seine Jugend redet, fallen häufig Wörter wie: verstecken, verprügeln, ausgrenzen. Er wirkt hager, seine dünnen Arme machen zaghafte Bewegungen, wenn er spricht. Vor jeder Antwort nimmt er sich eine Bedenkzeit. Es ist eine konzentrierte Suche nach Worten, die seine neu gewonnene Stärke vor den alten Groll setzen sollen.

Wöchentlich muss er mit einem Priester über seine "Sünde" reden: die Liebe für Männer


  Er ist der Sohn eines protestantischen Pfarrers mit griechischen Wurzeln. Allein deshalb sei er der "totale Außenseiter" in der muslimisch geprägten Türkei gewesen, sagt Tusan. Schon mit 14 erzählt er seinem Vater, dass er schwul ist. Und dessen Reaktion überrascht ihn: "Wenn Gott dich liebt, warum sollte ich das dann nicht auch können?", sagt der Vater. Nur kurze Zeit später überreden Kirchenmänner den Vater, Tusan in eine geistliche Einrichtung in der Osttürkei zu schicken. Er soll seine Kontakte zu schwulen Männern kappen, das soll ihn "heilen".

Tusan ist wütend. Er stürzt sich wieder ins Nachtleben von Izmir, ist kaum noch zu Hause. Es sei gar nicht darum gegangen ihn vom "Schwulsein" zu heilen,"sondern vom Anderssein", sagt er. Weil sein Vater und die anderen Geistlichen aber nicht locker lassen, willigt er kurz darauf ein, zumindest einmal wöchentlich mit einem Priester über seine "Sünden" zu reden, wie es die Kirchenmänner nennen. Eigentlich geht es darum, ihn davon zu überzeugen, dass es falsch ist, schwul zu sein. Um in Izmir bleiben zu können, lässt Tusan es über sich ergehen. Er trifft weiterhin seine Freunde und trägt auch weiterhin seine bunten Hemden mit Hosenträgern und Fliege, dazu ein Piercing in der Unterlippe. Auf der Straße zieht er damit häufig die Aufmerksamkeit von selbsternannten Verfechtern der Männlichkeit auf sich. Es sind Jungs von seiner Schule, meist kaum älter als er, die ihn auf dem Weg zur Schule immer wieder verprügeln. "Was die Offenheit für Andersartigkeit angeht", sagt Tusan, "läuft in der Türkei etwas mächtig falsch."

  Tatsächlich gibt es in der Türkei keine in der Verfassung festgeschriebene Gleichheit von Bürgern anderer sexueller Orientierung und keinen Schutz als Arbeitnehmer. Der Staat löst immer wieder öffentliche Versammlungen mit Polizeigewalt auf, bei denen für die Rechte der LGBT-Gemeinschaft demonstriert wird. Im Vorfeld des Christopher Street Day in Istanbul, der im vergangenen Jahr in die Zeit der Proteste im Gezi-Park fiel, soll die Polizei gezielt schwule und lesbische Bürger verhaftet haben, um sie einzuschüchtern. Zwar ist Homosexualität in der Türkei bereits seit 1858 nicht mehr verboten. Aber innerhalb der Armee gilt sie noch immer als Geisteskrankheit, schwule Rekruten werden abgewiesen. Und der türkische Ministerpräsident Erdogan bezeichnet die Homosexualität als "mit dem Islam unvereinbar".

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Tusan (links) hat den roten Bereich der Karte verlassen und ist aus seiner Heimat, der Türkei, zu Flosi nach Island gezogen. Seither droht ihm sein Bruder mit Gewalt.

  Die grüne Europapolitikerin Barbara Lochbihler ist seit 2011 Vorsitzende im Menschenrechtsausschuss des Europäischen Parlaments. Sie befasst sich vorrangig mit Nicht-EU-Staaten wie der Türkei, wo es 2012 allein elf Morde aus Hass gegen Homosexuelle gab. Sie kann erklären, warum die Farben der Rainbow Map immer stärker ins Rot tendieren, je weiter man nach Südosten blickt. Generell verfolgen osteuropäische Staaten "aus traditionellen und religiösen Gründen" eine konservativere Politik als die Nordstaaten, sagt sie. In den EU-Fortschrittsberichten über die Türkei seien die Umstände wiederholt angeprangert worden. Aber die EU könne nicht viel mehr ausrichten, als mehr Fördermittel für zivilrechtliche Organisationen in der Türkei zur Verfügung zu stellen.

  Flosi fliegt im Sommer 2012 vom grünen Bereich in den roten. Er arbeitet für ein isländisches Touristikunternehmen in der Schweiz und will Urlaub in Izmir machen. Tusan arbeitet zu dieser Zeit als Lobbyboy in einem großen Hotel am Strand. Als sie sich kennenlernen, ist Tusan bereits klar, dass er aus der Türkei weg will. Ein Jahr zuvor war er im Auslandssemester in Kanada, diese Zeit hat ihn spüren lassen, wie einfach es sich in einem Land lebt, in dem Homosexualität keine große Sache ist. Als er aus Kanada zurückkommt, beginnt er, die Türkei erst richtig zu hassen. Er erzählt nur wenigen Freunden von seinen Plänen, Izmir zu verlassen.

  Zuerst fährt er einen Monat lang zu Flosi in die Schweiz. "Es ging darum, auszuprobieren, ob unsere Beziehung wirklich mehr ist als ein Urlaubsflirt", sagt Flosi in seiner Küche. Tusan stellt in der Schweiz einen Antrag auf ein Visum, um länger bleiben zu können. Als der Antrag zum zweiten Mal scheitert, beschließen die beiden nach Island zu ziehen. Tusan muss nicht lange darüber nachdenken. Die Tür zurück in die Türkei ist in seinem Kopf bereits geschlossen.

Sein Exfreund schlug ihn - er kannte nur das Rollenbild des starken Hetero-Mannes.


  In Island angekommen, hat er mit ganz anderen Dingen zu kämpfen. Er versteht die Sprache nicht, der anfängliche Mut ist verflogen. Tusan vermisst seine Freunde. Trotzdem weiß er, dass er sich richtig entschieden hat. Die Frage nach den großen Unterschieden zwischen Nord- und Südeuropa sei ohnehin nicht mit dem geltenden Recht zu beantworten, sagt er. Die größte Hürde im türkischen Alltag war für ihn ein Wertesystem, das von religiöser Moral durchsetzt ist. Das zeige sich auf allen gesellschaftlichen Ebenen. Während sich die einstige sozialdemokratische Ministerpräsidentin Islands, Jóhanna Sigurdardóttir, für ein Eherecht für Homosexuelle einsetzte und am Tag des Inkrafttretens des Gesetzes ihre langjährige Partnerin heiratete, bestimmen in der Türkei Männer wie der islamisch-konservative Ministerpräsident Erdogan das gesellschaftliche Klima. "Ich glaube nicht an Geschlechtergleichheit", ist eine seiner viel zitierten Äußerungen, die die Gleichberechtigung in einem Satz zur Glaubensfrage macht. Eine Diskussion über Heiratsrecht, Adoptionsfragen oder einen generellen Aktionsplan zur Gleichstellung der Geschlechter oder der sexuellen Orientierung kann dadurch nicht die politische Sphäre erreichen.

  Was junge homosexuelle Türken dringend bräuchten, seien Rollenvorbilder, sagt Tusan. In einer Talentshow als homosexueller Mann aufzutreten, wie Flosi es tat, sei in der Türkei kaum denkbar. Das Fehlen dieser alltäglich vorgelebten Homosexualität führt zu absurden Verhaltensweisen. Tusans Ex-Freund in der Türkei, der älter als Tusan war und ihm physisch überlegen, verbat ihm das Ausgehen. Er schlug ihn. Im Gespräch mit heterosexuellen Freunden merkt Tusan später, dass es das erlernte Rollenbild des vermeintlich starken Mannes ist. Der Normalzustand in der Türkei. Tusan erkennt, dass sein schwuler Freund ihn so behandelte, wie einige seiner heterosexuellen Bekannten ihre Frauen. Er hatte es nicht anders gelernt.

  Für Tusan sind es deshalb subtile Situationen, die ihm seine neu gewonnene Freiheit aufzeigen. Derzeit lernt er Isländisch und ist vor allem von einer Sprachwendung begeistert: "Man spricht hier davon, einen Partner zu haben. Nach dem Geschlecht wird gar nicht erst gefragt."

  Im Juli 2013 heiraten Flosi und Tusan in Egilsstadir, Flosis Geburtsort in Ostisland – auch um Tusan den dauerhaften Aufenthalt zu ermöglichen. Seine türkische Familie bleibt der Zeremonie fern. Als er wenig später Hochzeitsfotos bei Facebook hochlädt, wird sein älterer Bruder wütend. Was sollen die Leute denken, fragt er. Er rät seinem kleinen Bruder, nicht mehr in die Türkei zurückzukehren, sonst werde er "es bereuen".

  Zum Schluss erzählt Tusan von dem Moment, in dem er sich in seiner neuen Heimat wirklich richtig angekommen fühlte. Es war auf der Gaypride Parade in Reykjavik, Tusan steht damals auf einem Umzugswagen. Er trägt eine Wikingertracht mit türkischer Flagge als Kostüm. Neben ihm auf dem Wagen steht Flosi, aber auch heterosexuelle Isländer mit ihren Kindern. Sogar der Bürgermeister ist dabei. Vor der Frikirkjan, der Freikirche, taucht auf einmal ein Pastor auf. Er schwenkt eine Regenbogenfahne und feiert mit der Masse. Als Tusan und Flosi auf ihrem Umzugswagen an ihm vorbeifahren, stellt er die Fahne ab, lacht den beiden freundlich zu und segnet sie wortlos.

Text: mathis-vogel - Foto: oh, Grafik: Katharina Bitzl

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