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Das Ende der Einbahnstraße

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Minister Gerd Müller steht in Berlin vor einem Panoramafenster im elften Stock seines Ministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung und spricht von einer „offenen, globalen Welt“. Von einer Welt, die es nur gibt, wenn man auf der richtigen Seite steht. Lionel Dzidzi befand sich die meiste Zeit seines Lebens auf der falschen. Jetzt aber ist er hier in Berlin, er schaut aus dem Fenster, hinunter auf Häuserdächer. Die Viktoria auf der Siegessäule glänzt golden, weiter rechts reflektiert das Kuppeldach des Reichstags die Sonne, es glänzt um die Wette mit dem gläsernen Berliner Hauptbahnhof.

Lionel ist 24 Jahre alt und macht einen Freiwilligendienst. Seit Mitte Dezember lebt er in Greifswald und arbeitet bei einer Reihe von lokalen Vereinen. Er kommt aus Chimoio, einer 240000-Einwohner-Stadt in Mosambik, einem der ärmsten Länder der Welt. Ein Visum für jemanden wie ihn? Undenkbar.

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In den vergangenen Wochen hat es mehrere Massenanstürme afrikanischer Flüchtlinge auf die beiden spanischen Exklaven Melilla und Ceuta gegeben. Immer wieder riskieren Menschen ihr Leben, um nach Europa zu gelangen. Lionel stieg einfach in ein Flugzeug.

„Wir sind modern, aufgeschlossen, ein Land mit Qualität, Industrie, den besten Autos der Welt.“

Schon seit 2008 schickt das Entwicklungshilfeministerium über sein Weltwärts-Programm junge Deutsche in Entwicklungsländer. Und Lionel ist nun einer der Ersten, die den entgegengesetzten Weg nahmen: von Süd nach Nord. Von arm nach reich. Von Mosambik nach Mecklenburg-Vorpommern.

Minister Müller mahnt auf der Willkommensveranstaltung die ersten Freiwilligen dieser neuen Südkomponente des Programms, Deutsch zu lernen. Eine Hochsprache, wie er sagt. Er spricht von Goethe und Beethoven und der besten Fußballnation. „Wir sind modern, aufgeschlossen, ein Land mit Qualität, Industrie, den besten Autos der Welt.“ Lionel skizziert mit seinem Kugelschreiber ein Mosaik auf den Block, der vor ihm liegt.

Wäre es irgendwie möglich, würde er gern Kunst studieren. Er malt gern leuchtende, großformatige Ölgemälde, darauf abstrakte Figuren und Alltagsszenen. Eines der Bilder, die er auf sein Blog hochgeladen hat, strahlt in Indigoblau, der Farbe, die der Himmel nach der Dämmerung annimmt, kurz bevor es endgültig dunkel wird. Es zeigt den Rücken einer Frau, die im Mondschein vor ihrem Haus sitzt und auf ihren Mann wartet. „O luar continua e enquanto ele nao chega“ heißt das Bild – „Der Mond scheint weiter, während er nicht wiederkommt“.

20 000 junge Deutsche sind bisher für ihren Freiwilligendienst in Entwicklungsländer gegangen. Aber das Programm hatte von An­fang an Gegenwind. Kritiker sagten, es zeuge von Arroganz den Einsatzländern gegenüber, unausgebildete 19-Jährige als Entwicklungshelfer auszusenden. Das Ministerium finanziere damit nur Selbstfindungstrips in arme Länder. Zudem drängten viele der zurückgekehrten Freiwilligen darauf, dass auch junge Menschen aus ihren Einsatzländern nach Deutschland kommen sollten. Nach langem Mauern stimmte das Ministerium zu. Weltwärts soll jetzt also zu einem wirklichen Austauschprogramm werden.

Aber funktioniert dieser Richtungswechsel überhaupt? Von der Armut in den Reichtum? Von Süd nach Nord? Ähnelt Lionels Motivation der eines deutschen Freiwilligen, der nach Mosambik geht? Was bringt ihm seine Zeit in Greifswald?

„Ich bin ein neugieriger Mensch“, sagt Lionel, „deshalb habe ich mich für das Programm beworben.“ Er hat Träume, wer er später einmal sein will. Ein Künstler. Ein Mann mit einer reichen Lebenserfahrung. Jemand, der viel gesehen und erlebt hat, der gereist ist. Unter seinen Freunden gilt Europa als „sehr cool“, viele beneiden ihn um seine Reise. „Ich wünschte, es würden mehr junge Leute die Gelegenheit bekommen“, sagt er. „Sie würden sehen, dass es gar nicht so ist, wie sie es sich vorgestellt haben.“

Das Lachen erreicht nicht die Augen

Zu Hause in Chimoio lebt er in einem kleinen Zimmer, dessen Miete er regelmäßig erst einen Tag vor Beginn des Monats zusammenhat. Er verdient sich seinen Lebensunterhalt mit Auftritten in Bars und Restaurants, spielt Percussion und Gitarre in einer Afro-Jazz-Band und verkauft ab und zu eins seiner Bilder. „Ich habe einen ungewöhnlichen Beruf“, sagt Lionel, „und auch einen ungewöhnlichen Lebensstil.“ Seine Verwandten sind nicht damit zufrieden. Sie hätten gern, dass er einen festen Job hat, heiratet und Kinder kriegt. „Vielleicht mache ich das ja irgendwann“, sagt er dazu. „Vielleicht aber auch nicht.“

Lionel sagt, er sei zufrieden mit seinem Leben, solange er malen könne und genug zu essen habe. „Meistens war ich satt.“ Der Verein Lemusica, gegründet von einer deutschen und zehn mosambikanischen Frauen, setzt sich gegen häusliche Gewalt ein, kümmert sich um Waisenkinder und bietet Kunstunterricht für Jugendliche an. Lionel, der keine Eltern mehr hat, seit er elf Jahre alt war, lernte hier malen, wurde eine Art ehrenamtlicher Kunstlehrer für jüngere Jugendliche und traf deutsche Weltwärts-Freiwillige, die in dem Projekt arbeiteten. „Es wäre doch toll, wenn du mal zu uns nach Deutschland kommen könntest“, sagten sie zu ihm.

Lionel hatte vor allem gehofft, sich in Deutschland künstlerisch weiterzuentwickeln, Anregungen von anderen Künstlern zu bekommen. Stattdessen arbeitet er nun in einem Netzwerk von fünf Vereinen, darunter der Naturschutzbund und „Verquer“, ein Bildungsanbieter, der an Schulen Workshops organisiert. Er ist in einem Umfeld gelandet, in dem dauernd über alles diskutiert wird. „Das ist oft ziemlich abstrakt und theoretisch“, sagt er. Finanziert wird sein Aufenthalt vom Bund, einen kleineren Anteil müssen die Vereine selber tragen.

Fototermin im Ministerium. Der Minister überragt die Freiwilligen um mehr als einen Kopf. Es gibt Schultertaschen mit Weltwärts-Schlüsselbändern und Kugelschreibern als Geschenk, dann ein Mittagsbuffet und weitere Interviews. Auch der mosambikanische Botschafter möchte sich mit Lionel fotografieren lassen. Lionel lächelt für die Kamera, ohne dass das Lachen seine Augen erreicht. Dann lässt er sich von dem Politiker umarmen. Er spürt, dass er hier auch eine Rolle zu spielen hat. Er soll das Weltwärts-Programm legitimieren, vielleicht Minister Müller schmücken, vielleicht dessen Politik. Er ist ein Statist. Seine Gedanken sind dabei woanders.

„Die ersten Wochen fühlte ich mich schrecklich, ich hatte das Gefühl, mich selbst zu verlieren, nicht mehr zu wissen, wer ich eigentlich bin“, erzählt er. In Greifswald lebt er mit 25 Mitbewohnern in einer WG. Egal ob Frühstück, Mittagessen oder Abendbrot, immer sitzen viele Menschen an einem großen Tisch. Und immer wird geredet: schnell, viel und deutsch. „Ich höre zu, ich konzentriere mich. Aber irgendwann kann ich nichts mehr aufnehmen und will nur noch allein in meinem Zimmer sein.“

Sein Arbeitspensum ist enorm: Früh am Morgen fährt er mit zu einer Schule, ein Projekttag zum Thema Wasserprivatisierung. Lionel schaut zu, künftig will er solche Workshops selber halten. Am Nachmittag hat er Deutschunterricht. Abends um 20.30 Uhr sitzt Lionel zwischen zwei Frauen bei einem Planungstreffen für eine entwicklungspolitische Veranstaltungsreihe zum Thema Besitz. Sie übersetzen simultan für ihn. Bei der Vorstellungsrunde sagt er das erste Mal mit sicherer Stimme auf Deutsch: „Ich bin Lionel, und ich arbeite hier als Freiwilliger.“ Wie alle anderen Teilnehmer schreibt auch Lionel Vorschläge für Vorträge, Filmabende, Diskussionsveranstaltungen zum Thema Besitz auf Karteikarten, die anschließend an eine Tafel geheftet werden.

Katriona Dannenberg von „Verquer“ hat an der Bewerbung für das Weltwärts-Projekt mitgearbeitet. „Lionel bringt viele Erfahrungen aus seinem Verein in Chimoio mit. Das bereichert unsere Arbeit.“ Bei dem Planungstreffen für die Veranstaltungsreihe ging es auch um das Selbstbestimmungsrecht über den eigenen Körper. Lionel erzählte von Zwangsimpfungen, die häufig von Entwicklungshilfeorganisationen durchgeführt würden, ohne dass den Menschen klar sei, wogegen sie gerade geimpft werden. „Auf das Thema wären wir selber nie gekommen“, sagt Katriona Dannenberg.

Lionel vermisst seine Freunde. Lachen, tanzen, singen, Witze machen. Und, mehr als alles andere, seine Sprache, Portugiesisch. „Philosophische Gedanken teilen, erzählen, was ich denke und fühle, das kann ich eigentlich nur in meiner Muttersprache“, sagt Lionel. Er kommt aus einem der ärmsten Länder der Welt, viele seiner Freunde beneiden ihn um seine Reise. Das heißt aber nicht, dass er den ganzen Tag Freudensprünge macht, weil er hier sein darf. Lionel hat Heimweh. Heimweh nach einem gebeutelten Land.

Text: anke-luebbert - Fotos: Katharina Behling

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