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Lieber ins Gefängnis

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Dafna gefällt überhaupt nicht, was sie da vor dem Carmel Market in Tel Aviv beobachtet. Eigentlich ist die Großstadt-Kulisse perfekt: Heute feiern die Israelis Purim, ein jüdisches Volksfest, das Fasching ähnelt. Kinder rennen vergnügt schreiend über den Platz, verkleidet als Superhelden, Cowboys oder Piraten. Im Hintergrund trällert ein Straßenmusiker seine Lieder durch die schwüle Luft des Sonntags. Die Cafés sind voller Menschen. Aber da ist eben auch diese Gruppe, die das Bild für Dafna kaputt macht. Eine Gruppe, zu der die 17-Jährige niemals gehören will.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Junge Frauen und Männer, die genauso ausgelassen schwatzen, tanzen und lachen wie alle anderen. Die sich immer wieder von Passanten fotografieren lassen und für Selfies posieren. Kaum einer von ihnen ist über 20 Jahre alt. Es herrscht Klassentreffen-Atmosphäre. Das Problem für Dafna: Die Jugendlichen tragen keine Verkleidung. Sie tragen Uniform.

Ihre Baretts klemmen auf der Schulter. Manche der Mädchen haben sich die weiten Armeehosen neu nähen lassen, damit sie straffer über dem Hintern liegen. Maschinengewehre hängen vor allem bei Jungs von den Schultern, Baggy-Style. „Ich verstehe nicht, warum Leute davon nicht total eingeschüchtert sind“, ärgert sich Dafna.

Nächstes Jahr, nach ihrem Schulabschluss, soll auch sie eine solche Uniform tragen. Dann wäre sie Teil der Armee, der Israel Defence Forces (IDF). Aber die Oberstufenschülerin will nicht. Sie ist überzeugt: „Durch meinen Wehrdienst würde ich die israelische Besetzung der Palästinensergebiete im Westjordanland unterstützen.“ Das Militär hat ihrer Meinung nach zu viel Einfluss in der israelischen Gesellschaft, und daran möchte die 17-Jährige nicht teilhaben. Sobald Dafna ihren Abschluss gemacht hat, wird sie deshalb zur politischen Verweigerin, zu einem so genannten Refusenik. Als solche könnte sie schon bald im Gefängnis landen. Das findet sie falsch und hat deshalb als eine von 70 Schülern einen offenen Brief an den Premierminister verfasst und unterschrieben. „Wir rufen die Menschen dazu auf, die Rolle der Armee in unserer Gesellschaft zu überdenken“, heißt es in dem Schreiben. Die Aktion ist die erste organisierte Massenverweigerung des Armeediensts seit fast zehn Jahren. Politiker kommentierten den Brief, die großen Medien des Landes berichteten. Ein mutiger Schritt: die Unterzeichner setzen ihre Zukunft aufs Spiel.

Der Staat Israel sieht die Wehrpflicht nach der Schulzeit vor, genauso wie das bis vor ein paar Jahren in Deutschland der Fall war. Jüdische Männer gehen mindestens drei Jahre zu den IDF, Frauen 20 Monate. Bis vor zwei Wochen waren vor allem religiöse Gründe noch eine Möglichkeit, den Dienst an der Waffe zu vermeiden. Ultraorthodoxe Juden gingen bisher normalerweise nicht zur Armee. Selbst das hat sich jetzt aber geändert. Die Regierung von Premierminister Netanjahu ruft in Zukunft auch sie verpflichtend zum Dienst, trotz anhaltender Proteste von Hunderttausenden Religiösen. Wer nicht direkt an der Waffe dienen will, muss trotzdem in anderen Bereichen der Armee arbeiten. Eine Art Zivildienst gibt es zwar, er kommt aber für jüdische Israelis nur in Frage, wenn die IDF sie ablehnt oder ausmustert, etwa wegen Krankheit oder Behinderung.

Sich den IDF anzuschließen ist Pflicht, bringt aber auch viele Vorteile. Das Militär ist beliebt im Land und wird gemeinhin als wichtiges Integrationsmittel für die israelische Gesellschaft angesehen. Es bietet Ausbildungsmöglichkeiten, überkommt soziale Unterschiede und dient als Karrieresprungbrett. Abgesehen davon betrachten viele die Soldaten als Sicherheitsgarant in einem Staat, der von Feinden wie der Hamas in Gaza oder der Hisbollah im Libanon umgeben ist. Nachvollziehbar: Erst in der vergangenen Woche gab es einen Angriff mit 70 Raketen auf den Süden und einen Anschlag an der syrischen Grenze im Norden Israels.

Eingesetzt werden die Rekruten aber eben auch in den Palästinensergebieten im Westjordanland. Sie bewachen die Checkpoints an der Sicherheitsmauer und patrouillieren an der inoffiziellen Grenze zwischen Westjordanland und Israel, der „Green Line“. Soldaten lösen Demonstrationen und Aufstände in den besetzten Gebieten auf und inhaftieren Menschen unter dem Mantel des Kriegsrechts. Vor allem bei liberalen Israelis setzt sich deshalb immer mehr das Bild von der Armee als Besetzer und Unterdrücker der Palästinenser durch. Auch Dafna sieht das so. Mit dieser Haltung wird sie zukünftig allerdings Probleme bekommen: Bei Arbeitgebern in Israel macht man sich unbeliebt, wenn man keinen Wehrdienst geleistet hat. Und die Verweigerer müssen Kritik aushalten, vor allem aus dem rechten Spektrum der Gesellschaft. Die steigert sich teilweise sogar zu Beleidigungen und Gewaltandrohungen: Der israelische Finanzminister Yair Lapid beschimpfte die Unterzeichner des offenen Briefes als „verdorbene, faule Drückeberger“, auch auf Facebook und in E-Mails habe es einen Shitstorm gegeben, erzählt Dafna. Sie würden immer wieder als Vaterlandsverräter oder als Aussätzige bezeichnet. „Wir haben aber auch viele Unterstützer, die uns dafür loben, dass wir den nationalen Diskurs über die Rolle der Armee in Israel vorantreiben“, sagt die Schülerin. Schließlich sei genau das ihr Ziel.

Großes Vorbild für die Gruppe sind frühere Verweigerer wie Shimri Zameret, der nach einem Verfahren wegen Verweigerung fast zwei Jahre im Gefängnis saß. Das ist eine Vorstellung, die viele abschrecken würde. „Aber nein, ich gehe nicht zur IDF. Nicht einmal wenn ich stattdessen in den Knast muss“, sagt Dafna ohne zu zögern. Gefängnis und Hassmails sind nicht die einzigen Probleme für die Refuseniks. Sie müssen mit der Entfremdung von der eigenen Familie, von Freunden und der Schule leben. „Viele meiner Lehrer haben versucht, mich zu überreden. Und meine Klasse hält mich sowieso nur noch für die linksliberale Anarchisten-Feministin“, erklärt Dafna. Im weiteren Familienkreis erntet sie Kritik für ihre Entscheidung, wenigstens ihre Eltern stehen fest hinter ihr. Auch eine gute Freundin, die mittlerweile im Westjordanland stationiert ist, hat den Kontakt abgebrochen. Die meisten Bekannten hat Dafna mittlerweile sowieso außerhalb der Schule. Die Verweigerer kapseln sich ab. Ein anderer Unterzeichner erzählt, dass er kaum noch vor die Tür gehe, weil er jeden Tag damit rechnet, dass die Polizei ihn abholt.

Dafna hat noch ein wenig Zeit, bis sie sich um das drohende Gefängnis Sorgen machen muss. Erst einmal stehen die Abschlussprüfungen in der Schule an. „Als ich vierzehn war, kam ein Offizier der IDF in unsere Klasse und hat mir empfohlen, einen Leistungskurs in arabisch zu belegen“, erzählt sie. Damit hätte sie nach der Schulzeit Teil des militärischen Nachrichtendiensts werden können. Sie entschied sich schon damals gegen die IDF: Sie wählte Literatur und Französisch.



Text: max-biederbeck - Foto: max-biederbeck

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