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Hose an und ab ins Rathaus

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Am Wahlabend im Rathaus trägt Tobias Hemd und eine Trachtenjacke. Seine Dreads hängen lose über die Schultern, oben sind sie schon rausgewachsen. Anzugträger kommen vorbei, gratulieren, schütteln ihm die Hand. Tobias lacht viel. Und immer wieder blickt er auf die Leinwand: 34,4 Prozent steht da beim Bürgermeisterkandidaten der SPD, 22,3 bei dem der CSU. Und 28,8 bei ihm. Es kommt zur Stichwahl zwischen ihm und dem Kandidaten der SPD. Und das in einer Kommune mit CSU Stadtrats-Mehrheit – im ehemaligen Wahlkreis von Franz-Josef Strauß.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert


Schongau im Fasching 2013: Der Traum vom Bürgermeister ohne Hosen wurde publik

Vor einem Jahr hätte das niemand gedacht. Der damals 26-Jährige lief mit einer Horde Jugendlicher beim Schongauer Faschingsumzug mit. Sie trugen Sonnenbrillen, Trainigsjacken, Sackos, Hemden, Schuhe. Und Unterhosen. Auf ihren Schildern stand: "Keine Hose, kein Problem!" Der größte Witz: Die Gruppe machte Tobias Kalbitzer, oder "Kalle", wie ihn alle nennen, zu ihrem Kandidaten für das Bürgermeisteramt.

Doch Tobias machte sich wirklich Sorgen um seine Stadt: "Ich habe gemerkt, wenn es noch zehn Jahre so weiter geht mit Schongau, sind alle jungen Leute weg – und auch ich. Es muss etwas passieren." Und keiner änderte was. Also entschied er sich, selbst etwas zu tun.

Er kandidierte für die Bürgermeisterwahl. Den Wahlkampf finanzierte er selbst, Kostenpunkt: 500 Euro. Ein Freund machte das Plakat, ein anderer den Film "Kalle for President – the movie". Wichtig waren ihm Themen wie Kultur, Sport und Jugend aber auch bessere Lebensbedingungen im Asylbewerberheim. Allerdings blieb er vage. Er wollte einen Wahlkampf "ganz ohne Versprechungen". Man kann ja auch nichts versprechen, wenn man nicht besonders viel Ahnung hat. Laut ihm ist aber nicht Planlosigkeit der Ursprung dieser Philosophie. Er erklärt, er wolle alle zusammen entscheiden lassen, in Bürgerversammlungen. Der Heilerziehungspfleger glaubt, dass sich immer Kompromisse finden lassen. Und dass die Schongauer engagiert sind und den Willen haben, Dinge zu ändern. Man muss sie nur unterstützten und fördern.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert


Tobias Kalbitzer alias "Kalle" meint's ernst: Er will Bürgermeister werden

Tobias spricht den typisch Schongauer-Dialekt, redet ruhig und mit fester Stimme. Dabei schaut er sein Gegenüber immer direkt an. Wenn er von seinen Stärken spricht, fällt oft das Wort "Empathie". "Kompetenz" sagt er selten. Was, wenn er tatsächlich gewählt wird und als Bürgermeister etwas nicht versteht? "Dann frag ich nach."

"Ich will den Leuten nicht sagen, was richtig oder falsch ist, so wie es die Parteien tun. Ich will ihnen zeigen, dass ich sie verstehe. Weil ich einer von Ihnen bin", sagt Tobias. Eines seiner ersten Ziele: Frieden im Rathaus. Seit Jahren zoffen und blockieren sich die Stadtrats-Fraktionen. Tobias will unabhängig vermitteln, er will ein Bürgermeister sein, der moderiert. Mit seinen zwei Mitbewohnern und seiner Freundin, hat er eine Wählergruppe gegründet. "Unorganisierte Wählergruppe Karl-Heinz-Rumgedisse" heißt die, basierend auf seinem anderen Spitznamen. Die Freunde, gibt er zu, haben da eher zweckmäßig mitgemacht, weil er ja Mitglieder für die Wählergruppe brauchte. Hauptsächlich geht es um ihn. Auf seinen Wahlkampfplakaten steht "Geh wählen!" In Nahaufnahme sieht man sein Gesicht. Er blickt seine Betrachter ernst an.

Aber wann wurde das eigentlich so ernst? Genau kann Tobias das nicht sagen. Entscheidend war sicherlich die Zeit ab November 2013, da sammelte er Unterschriften, stellte die Gruppe auf, brachte seinen Antrag ins Rathaus. "Das kostet Geld, Kraft und Zeit, das wollte ich nicht umsonst machen. Spätestens da war klar: Ich zieh das durch". Neben seiner Entscheidung sind es auch die Rückmeldung der Leute gewesen, die ihn befeuert haben. Unternehmer haben sich für ihn begeistert, junge Leute, aber auch alte. "Wir haben so getan, als könnte ich das gut, das Bürgermeistersein", sagt er. Und die Leute haben das geglaubt und gewollt. Also wurde der Plan immer realistischer.

Aber auch, als es Tobias längst ernst war, verhielt er sich nicht übertrieben seriös. Er hat sich zum Beispiel dabei gefilmt, wie er für das Social-Beer-Game in Boxershorts einen halben Liter Bier ext – und die anderen Kandidaten auffordert, es ihm gleich zu tun. Die machten nicht mit. Dafür kamen Sat1, die Bild-Zeitung und die Bunte.

Wirklich geschadet hat das Tobias aber nicht. In den Stadtrat wurde er schon gewählt, denn für den Fall, dass er es nicht zum Bürgermeister schafft, hat er sich auf die Stadtratsliste der "Alternativen Liste Schongau" setzen lassen. Bei der Stichwahl am 30. März könnte er jetzt Bürgermeister werden. Woher der Erfolg kommt? Der CSU-Fraktionsvorsitzende Michael Eberle sagt: "Keine Ahnung".

"Kalle ist cool", sagt eine Einzelhandelskauffrau, die Tobias wählte, obwohl sie sonst die CSU bevorzugt. Eine Krankenschwester sagt, ihr gefalle, dass er nicht studiert hat. Ein Akademiker spricht von einer "frischen Alternative". Tobias selbst glaubt, dass er gut ankommt, weil er offen und ehrlich ist. Beim Wahlkampf sei einmal eine Oma im Rollator an ihm vorbeigerollt und habe gesagt "Di wähl i, du bisch a guader".

Wahlparty im North-End, einer Punk-Kneipe: Von der Decke hängen FC-St.Pauli-Wimpel, an der Wand eine Dartscheibe, im Hintergrund läuft Rock und Punkmusik. "So einen Wahlkampf gab es noch nie!", sagt ein junger Mann mit Piercings. "Kalle hat den so interessant gemacht, dass ich alle Zeitungsartikel gelesen habe, auch die ohne ihn." Zwei Frauen sagen, sie wären ohne Tobias nicht wählen gegangen, eine andere, ihr Kalle-Kreuz, das sei schon auch Protest gewesen.

http://www.youtube.com/watch?v=SiYn21AS73s

Das Promo-Video "Kalle for president"

Auch wenn er Nichtwähler motiviert hat, die gesamte Wahlbeteiligung konnte Tobias nicht erhöhen. Sie lag mit 57,4 Prozent sogar unter der der letzten Wahlen. Womöglich ist sein Erfolg auch darin begründet, dass die anderen Kandidaten "unwählbar sind", wie viele Bürger sagen. Der Kandidat von der CSU sei "ein fader Lehrer, den niemand mag". Der der SPD gilt zwar als kompetent, doch er lebt erst seit kurzer Zeit in der Region. Tobias hingegen ist ein gebürtiger Schongauer, der an seiner Heimat hängt.

Dass der Schongauer mit seiner Empathie gegen den SPDler mit Erfahrung gewinnt, glaubt kaum jemand an diesem Abend. Mittlerweile sitzen die beiden Kandidaten in der derselben Kneipe und beide trinken Bier; der eine mit Kurzhaarschnitt, der andere mit Dreads. Tobias schüttelt den Kopf, die Haare hüpfen ein bisschen auf und ab. Mit entschlossenem Blick klärt er ein letztes Mysterium auf: Statt eine Gesinnung zu vermitteln, verstecke er mit den Dreadlocks nur seine "komische Kopfform". "Die Frisur ist für die Politik egal!"

Text: anne-kratzer - Fotos: privat

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