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Eine Klasse für sich

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Die 7b ist zwar nur einen Raum entfernt, aber es sind doch Lichtjahre bis dahin. Ein ganz anderer Planet ist sie, mit anderen Bewohnern, die anders aussehen und andere Sitten haben. Sie lachen über andere Witze. Hier in der 7a ist man natürlich cooler, ganz anders, ganz einzigartig. Die beste Klasse von allen.
Und die 7b?
Denkt dasselbe über die 7a.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert


 Hat eine Schulklasse wirklich ihren eigenen Charakter? Eine ganz einzigartige Atmosphäre, die sie von allen anderen unterscheidet? Eine eigene Farbe?

Immer zum Ende des Schuljahres muss Thomas Rau sich überlegen, wie sie tickt, diese Klasse, die all die Monate vor ihm saß. Für die Zeugniskonferenz verfasst er dann Kurzcharakterisierungen. „Die Klasse ist freundlich und wissbegierig“, könnte da zum Beispiel stehen. „Dominiert wird sie von den Mädchen. Auf den ersten Blick wirkt sie homogen, es gibt aber Spannungen und Außenseiter.“
Rau ist Lehrer für Englisch, Deutsch und Informatik an einem Gymnasium in Bayern, er bloggt über seinen Alltag, über seine Beobachtungen zwischen der Unter- und der Oberstufe; vor ein paar Jahren wurde sein Internettagebuch von einer Jury zum besten Lehrerblog Deutschlands gekürt. Er kennt sich aus mit den feinen Unterschieden zwischen 7a und 7b. Er findet: Sie sind gewaltig.

Lebhaft oder leise. Neugierig oder am Altbewährten hängend. Empfindlich oder offen. Viele Cliquen oder wenige. Stark oder wenig mit sich selbst beschäftigt. „Jede Klasse hat definitiv ihren Charakter“, sagt Rau. Einmal kam er geradezu erschrocken aus einer Vertretungsstunde. „Die Klasse war unheimlich still, ohne unfreundlich zu sein. Nicht still zum Lehrer, auch untereinander.“

Annekatrin Wächter hat noch mehr Vergleichsmöglichkeiten. Sie ist Redakteurin beim Kika und betreut die Sendung „Die beste Klasse Deutschlands“, eine Quizshow, in der Schulklassen gegeneinander spielen. 1500 Bewerbungsvideos schauen Wächter und ihr Team im Jahr an, kurze Filme, in denen Klassen demonstrativ ihre Einzigartigkeit beweisen wollen. Einige spielen Nachrichtensendungen nach, andere Castingshows, in denen sich die Schüler vorstellen. „Man kann recht gut erkennen, ob die Klasse das selbstständig macht“, sagt Wächter. „Ob die Schüler Spaß beim Videodreh und Lust auf die Sendung haben und ob wirklich alle involviert sind. Oder ob die Kinder vor die Kamera gestellt wurden und einen Text aufsagen, mit dem sie sich nicht so richtig identifizieren können.“

Auch in der Sendung ist keine Klasse wie die andere. Manche werden schlagartig ruhig, wenn die Scheinwerfer und die Kameras angehen, so als erfasse sie kollektives Lampenfieber. Andere drehen dann erst richtig auf. Wächter glaubt, dass vieles dabei auch am Lehrer liegt: wie er die Klasse motiviert, auffängt, anstachelt, besänftigt. Wenn er ehrgeizig ist, ist es oft auch die Klasse. Wenn der Lehrer nicht verlieren kann, feilschen oft auch die Schüler nach Drehschluss noch um Punkte.

An Schulen gehört es mittlerweile sogar dazu, den Klassencharakter zu inszenieren. Abschlussjahrgänge versuchen heute mehr denn je, ihre Einzigartigkeit als Gruppe herauszustellen, meint Gabriele Dafft, Volkskundlerin am Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte beim Landschaftsverband Rheinland in Bonn. Sie hat die Verewigungsversuche von Abiturienten erforscht, hat Abi-Bälle besucht, die Abi-Scherze am letzten Schultag, die Sitzungen der Komitees, die während der Monate vor den letzten Prüfungen das große Finale vorbereiten. „Die Abiturienten wollen sich als Gemeinschaft würdigen und haben oft den Anspruch, den Vorgängerjahrgang zu toppen“, sagt sie. „Es geht um den ultimativen Abi-Gag.“

Interessanterweise hat der Aufwand enorm zugenommen, mit dem Abschlussjahrgänge sich selbst an ihrer Schule inszenieren. In den Siebzigerjahren haben Klassen einen Misthaufen auf dem Schulhof entladen, um die Lehrer noch einmal zu ärgern. Dann ging man einfach und sah sich vielleicht Jahre später beim Klassentreffen wieder. „Bei meinem Abi 1989 gab es noch nicht einmal einen Abschlussball“, sagt Dafft.

Heute undenkbar. Die Abi-Feierlichkeiten sind zur Management-aufgabe geworden. Ein Motto wird bestimmt. Geld gesammelt. Das Schulgebäude geschmückt, es gibt professionell gelayoutete Abi-Zeitungen. Die Abiturientia inszeniert sich nicht mehr mit einem Misthaufen, sondern mit Shows in der Pausenhalle. An einer Wand im Stufenraum verewigen sich alle mit ihren Handabdrücken. Zum Ball wird teures Buffet bestellt und Tanzmusik. Das ist bemerkenswert, denn eigentlich ist die Bedeutung des Abiturs gesunken. Gut die Hälfte eines Jahrgangs verlässt die Schule heute mit dem Abi oder Fach-Abi. Anfang der Achtzigerjahre waren es gerade einmal etwas mehr als zwanzig Prozent. „Das Abitur als Übergang in das Berufsleben ist unsicherer geworden“, meint Dafft. „Deswegen wird es mit immer mehr Ritualen aufgewertet. Man beschwört noch einmal die Gemeinschaft, man will das Erreichte feiern und etwas schaffen, um sich daran zu erinnern. Und das umso mehr, je unsicherer die Zukunft danach ist.“ Einmal noch ist man etwas ganz Besonderes, einzigartig als Klasse. Bevor es sie nicht mehr gibt.

Text: Bernd-kramer - Illustration: Katharina Bitzl

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