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Hin und Weg

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Am liebsten habe ich immer in die Wohnungen geschaut. Wenn der Schulbus an einem Wintermorgen um kurz nach sieben durch die Dörfer fuhr, dann saß ich müde drin und schaute nach draußen. An manchen Stellen waren die Straßen so eng, dass der Bus den Häusern ganz nah kam, und ich sah hell erleuchtete Küchen und Kinderzimmer, ich sah Menschen, die in den Tag starteten, und das war schön. Ich mochte diese Zeit des Tages, diese stille Dreiviertelstunde zwischen dem Schließen der Haustür und dem Öffnen der Schultür. Eine Dreiviertelstunde, in der ich nichts anderes machen musste, als meinen Körper von zu Hause in die Schule transportieren zu lassen, in der ich mit gutem Gewissen die Augen schließen und dösen oder aus dem Fenster sehen konnte.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Abwesenheit aller Autoritäten - Der Schulweg als Ort der tausend Möglichkeiten

Wie alle Wege ist auch der Schulweg (und genauso der Heimweg von der Schule) ein Ort zwischen zwei Orten. Man hat ein Ziel, an dem etwas auf einen wartet (die Mitschüler, das Mittagessen) oder von einem erwartet wird (Lesen, Schreiben, Rechnen, Hausaufgaben, Zimmer aufräumen) – aber solange man das Ziel noch nicht erreicht hat, sich nur darauf zubewegt, ist es völlig in Ordnung, wenn man nichts tut. Darum ist der Schulweg die freiste Zeit des Schultages. Ich habe ihn geliebt.

Ich war immer ein schlimmer Morgenmuffel. Um sechs in der Früh duschen, anziehen, das Bad mit dem Rest der Familie teilen, in Gesellschaft frühstücken – das alles strengte mich an. Draußen dann die kühle Morgenluft, ein Tag noch ohne Gebrauchsspuren. Die Straße runter, über den Dorfplatz am Brunnen vorbei, zwischen den getorften Beeten hindurch und über den Supermarktparkplatz, dort den Geruch frischer Brötchen aus der Bäckerei mitnehmen, durch die Unterführung und dem Hall der eigenen Schritte nachhören, die Hauptstraße entlang bis zur Haltestelle. Wie erholsam nach dem ganzen morgendlichen Familienstress! Und dann hinein in den weichen Bussitz, Kopfhörer aufsetzen und alles egal sein lassen, alles abschalten. Selbst wenn die schlimmste Mathearbeit der Welt anstand – jetzt war es auch zu spät. Also resignieren, entspannen, nicht nachdenken, Sorgen machen kann man sich ja noch zwischen acht und eins. Ich nahm jeden Morgen extra den früheren Bus, der länger fuhr und weniger voll war, um diese Zeit ganz auskosten zu können.

Auf dem Rückweg war es ähnlich, der war die Verschnaufpause vor den Hausaufgaben und diesen tristen Schultag-Nachmittagen und -Abenden, die für nichts so richtig gut waren. Im Gegensatz zum Hinweg konnte man die Freiheit aber für mehr als nur fürs Treibenlassen nutzen. Ich bin mir sicher: Auf Heimwegen sind Freundschaften fürs Leben entstanden. Schon in der Grundschule boten sie die besten Gelegenheiten, sich zu verabreden. Und auch später blieb der Heimweg ein Ort sozialer Kontakte, an dem man Bekannte aus anderen Stufen und Schulen traf. Vor allem für die, die mit dem Bus fahren mussten, war das ein Ereignis: all diese vielen Schüler auf einem Haufen, versammelt am Busbahnhof. Man entdeckte, wer alles aus dem eigenen Dorf oder der Umgebung kam, wer auf die anderen Schulen ging, man entdeckte die Älteren und den, in den man sich ein bisschen verliebte. Und dann gab es jede Woche den einen wichtigsten Heimweg am Freitag: Das war die Zeit, in der man Pläne schmiedete, sich vorfreute, sich lose oder fest verabredete, bevor man zu Hause noch mal vom Alltag verschluckt wurde, der einen erst eine gefühlte Ewigkeit später ins wohlverdiente Wochenende spuckte.

Aber das Schönste an den Wegen hin zur Schule und zurück, das, was über allem liegt und den Zauber dieses Ortes zwischen zwei Orten im Wesentlichen ausmacht, ist die Abwesenheit aller Autoritäten. Als Schüler verbringt man viel Zeit mit Eltern (daheim) und Lehrern (in der Schule). Auf dem Weg zwischen dem Zuhause und der Schule ist man auf sich gestellt. Jeden Tag hat man die Gelegenheit, anders abzubiegen als geplant, nicht in den Bus zu steigen, Umwege zu gehen, nicht anzukommen. Jemand würde sich Sorgen machen, jemand würde sich auf die Suche machen, nachher gäbe es wohl Ärger. Aber es wäre trotzdem möglich. Im Vergleich zum Vorher und zum Nachher hat man auf dem Schulweg tausend Möglichkeiten. Man muss sie nicht nutzen, es reicht, dass sie da sind. Dass man sie überdenkt, sich vorstellt, wie es wäre, sie zu nutzen, dass man sich freut, dass es sie gibt. Und dann kann man sie in Ruhe vorbeiziehen lassen, während man in fremde Fenster schaut, und noch ein bisschen schlafen, ehe man die Schultür öffnet und die Freiheit und die Möglichkeiten draußen bleiben müssen. Bis nachher, wenn man sich auf den Rückweg macht.

Und irgendwann macht man sich auf den letzten Rückweg, mit dem Abiturzeugnis unterm Arm. Dann gibt es nicht mehr das tägliche Hin und Her, dann muss man umziehen, neue Wege finden, an der Uni womöglich jeden Tag einen anderen gehen. Die Möglichkeiten, die sich so lange hauptsächlich zwischen zwei Türen abgespielt haben, sind jetzt die ganze Zeit da, und irgendwie geht damit etwas von ihrem Zauber verloren. Sie werden plötzlich fast ein bisschen anstrengend, weil man sich entscheiden muss, welche davon man nutzen will. Anstatt sie nur vorbeiziehen zu lassen.


Die schönen Seiten des Schulwegs bemerkt man erst, wenn man ihn nicht mehr jeden Tag zurücklegt. Drei Weg-Geschichten.

Johanna, 26
Meine Geschwister und ich sind morgens immer die Zufahrt von unserem Bauernhof zur Hauptstraße runtergeradelt. Da stand das Haus meiner Großeltern, direkt daneben war die Bushaltestelle. Es gab diese Bushaltestelle nur für uns, denn außer uns wohnte niemand in der näheren Umgebung. Wir sollten trotzdem lieber bei den Großeltern auf den Bus warten, denn in der nahen Kurve passierten oft Unfälle, und ein paarmal ist dabei schon die Bushaltestelle umgefahren worden. Wir haben mit Oma und Opa im Wohnzimmer gesessen und aus dem Verandafenster nach den Lichtern des Busses Ausschau gehalten, die ja immer etwas höher sind als die von Autos. Manchmal haben wir sie mit den Lichtern eines Lkw verwechselt und sind zu früh rausgerannt. Oft sind wir aber auch erst so spät bei Oma und Opa angekommen, dass wir nur noch schnell unsere Räder auf den Bürgersteig schmeißen konnten und Opa sie dann hinter uns wegräumte, sobald wir eingestiegen waren. Manchmal hatten wir im Bus noch nasse Haare, und im Winter haben wir uns darüber gefreut, dass sie steif gefroren waren. Ich habe es immer geliebt, dass die Großeltern so in unseren Schulweg integriert waren.

Edgar, 19
Ich wohne in einer kleinen Stadt in der Eifel und gehe jeden Tag zu Fuß. Ich brauche nur fünfzehn Minuten – aber komme trotzdem oft zu spät. Morgens verlasse ich das Hochhaus, meinen kleinen gelben Elfenbeinturm, und laufe bis zur Fußgängerzone, in einer Seitengasse ist meine Schule. Morgens ist da kein Mensch, in letzter Zeit waren aber ein paar Straßenmusiker da, die haben ihr Bestes gegeben, und ich bekam ein Privatkonzert. Ich gehe den Weg gern, und ich habe Zeit zum Nachdenken – das werde
ich vermissen. Mich stört aber, dass ich immer dieselben Leute sehe – sie mich jedoch nicht. Die haben alle Kopf-hörer drin und sind wie Pferde mit Scheuklappen. Ich treffe gern Leute auf dem Weg, man hat das gleiche Ziel und kann ein bisschen reden, aber um die meisten muss man herumspringen, damit sie einen überhaupt bemerken.

Roberta, 17
Ich fahre mit dem Fahrrad zur Schule, hauptsächlich durch Wohngebiet. Ich bin erst seit August wieder in Hamburg – vorher habe ich mit meiner Familie eineinhalb Jahre in Rom gewohnt und war dort auf der internationalen Schweizer Schule. Morgens bin ich mit einer Freundin zum Bus gegangen. Uns kam immer dieselbe Frau mit ihrem Hund entgegen, und wir wussten: Wenn wir sie ganz früh treffen, dann kriegen wir den Bus nicht mehr. Die Busse kommen aber sowieso, wann sie wollen, und oft sind sie
so überfüllt, dass sie gar nicht anhalten. Wir standen immer mitten auf der Kreuzung, weil wir vier verschiedene Busse nehmen konnten, und sind hingerannt, sobald einer kam. Nach dem Aussteigen mussten wir durch eine schöne kleine Straße mit vielen Cafés, in denen oft andere Schüler saßen. Und die Leute auf dem Weg zur Arbeit waren alle total schick. Es gab sogar 70-Jährige auf High Heels! Ich vermisse den Schulweg in Rom, die Wärme, den Park mit Palmen, an dem wir vorbeikamen, den Verkehr, das Gehupe, die überfüllten Busse – alles war viel lebendiger als hier.

Text: Nadja-Schlueter - Illustration: Jeong Hwa Min

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