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Wisch, wisch. Wortschatz in Bewegung.

Text: glitzerkugel
Es ist so. Sie kennen bestimmt noch „Was bin ich?“, das heitere Beruferaten mit der typischen Handbewegung. Das spielen wir hier. Nur anders – ich bin die Jukebox und der Zwack steht vor mir, sagt „Mama! Erde!“ und macht eine Handbewegung. Dann schaut er mich groß an und wartet, bis ich das richtige Lied ausspucke.

Ja, ich darf wieder, ich soll sogar singen. Der Zwack mag Musik. Letzten Sonntag rockte er beim Frühstück auf seinem Hochstuhl zu barocker Orgelmusik. Morgens um fünf. Aber auch sonst wird fast jeder Jingle mit Tanzbewegungen begleitet. Überhaupt, Bewegung. Es existiert eine Unzahl von Kinderbewegungsliedern. Und in der Kita lernen sie sie alle. Das hat eben zur Folge, dass der Zwack zu Hause am Tisch sitzt, mit dem Arm durch die Luft wischt und sagt: „Mama! Erde!“ Dann dieses großäugige Warten. Tja.

Einiges habe ich schon entschlüsselt. „Mama! Mond!“ bedeutet, ich soll „Der Mond ist aufgegangen“ singen. Wenn der Zwack „O-wak“ sagt und einen Kreis in die Luft zeichnet, meint er das Frösche-Lied. „U-u Drago“: Bruder Jakob. Hockt er zusammengekauert auf dem Boden, spielt er Häschen in der Grube, wankt er von einem Bein aufs andere: der Tanzbär. Und weil der einen Freund braucht, musste gestern Strizzi auch mittanzen. Und wenn etwas klingt wie „Schlange“, handelt es sich eigentlich um einen Schneemann, der bald geschmolzen sein wird. Hier kann ich nur den Text, nicht die Melodie, was mir regelmäßig kritische Blicke einbringt.

Nun aber „Mama! Erde!“ Ich kenne aber kein Lied mit „Erde“, beziehungsweise nur welche, die der Zwack nicht kennt – denke ich jedenfalls. Jetzt sitzt der Zwack vor seinem Müsli, kurz nach der barocken Orgel, wischt durch die Luft und ruft „Mama! Erde!“ und Jukebox Mama versagt. Ich singe ein anderes Erde-Lied, er schaut skeptisch und dann: „Nein! Mama! Erde! Mau!“ Wisch, wisch.

Später frage ich in der Kita nach. Ob es ein Lied mit „Erde“ gebe, bei dem man mit dem Arm durch die Luft wischen müsse. Wisch, wisch. Eventuell komme auch eine Katze vor. Die beiden Damen sehen mich genauso groß an wie der Zwack, wenn er auf ein Lied wartet. Außerdem sind sie verwundert, dass der Zwack zu Hause Lieder einfordere. Er sei doch sonst immer eher ruhig, beim Singen. Wenn sie Instrumente verteilten, bekäme er immer die Trommel, weil er sonst so ein ruhiges, zurückhaltendes Kind sei.

Das ist ohnehin interessant, dieser andere Zwack der Gruppendynamik. Schon im letzten Elterngespräch war ich kurz davor nachzufragen, von welchem Kind sie die ganze Zeit eigentlich spreche. Hier jedenfalls klopft er begeistert mit Löffeln auf Metallschüsseln und ruft gleichzeitig:“Waut! Waut! Mama! Waut! Papa! Waut!“ Und sie geben ihm die Trommel, weil er so ein zurückhaltendes Kind sei.

Wie dem auch sei. Mir wird das Geheimnis hinter „Mama! Erde!“ entschlüsselt und wisch, wisch, der Zwack ist froh. Schließlich trage Singen zur Wortschatzentwicklung bei, betont die Erzieherin. In meiner Erinnerung betont sie das an dem Tag, an dem sie zu Fasching ein neues Lied gelernt haben: „Rucki-Zucki“.

Heute Nacht habe ich auch den zwackschen Wortschatz entwickelt. „Mama! Mond! Nein! Mama! Erde!“ Wisch, wisch. Eineinhalb Stunden lang. Bis halb fünf. Dann wollte er lieber aufstehen. Ein bisschen zur Orgelmusik auf die Metallschüssel klopfen. Manchmal bin ich mir nicht sicher, was ich von musikalischer Früherziehung halten soll. Oder ob sich „früh“ auf die Uhrzeit bezieht. Aber ich tröste mich mit der Wortschatzentwicklung. Und einer typischen Handbewegung. Wisch, wisch.

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