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Die Uhr

Text: SofiaKorksenzieher

Das Handy klingelt als sie noch schläft. Es ist spät geworden gestern, der Abend war komisch. Als ihr Klingelton sie weckt, fällt ihr vieles wieder ein, was sie vielleicht irgendwie vergessen wollte. Das fünfte Bier. Das Gefühl, jetzt alleine nach Hause zu gehen, käme einer Niederlage gleich. Der Mann, der schon im Club nicht gut küssen konnte und wie es daheim nur schlimmer wurde. Wie sie ihn bat zu gehen.



Die Sonne fällt unangenehm blendend in ihr Schlafzimmer, beleuchtet den Boden, das Kleid, die Kondome, die Wasserflasche. Sie will es nicht sehen, hat Angst sich zu bewegen, will nicht denken. Es war nicht schlimm, es war okay. Schließlich hat sie ihn hinausgeworfen, das traut sie sich sonst nicht. Aber irgendwie fühlt sie sich leer, beklommen.



Das Handy klingelt wieder. Sie öffnet die Augen und schaut auf den Wecker. 10.34. Vor vier Stunden ist sie eingeschlafen. Es ist zu früh, um der Welt zu begegnen. Sie tastet mit der Hand nach ihrem Telefon, das zwischen Matratze und Nachttisch eingekeilt ist, holt es hervor und betrachtet das Display. Zwei Anrufe, eine fremde Nummer. Das mag sie nicht, nicht zu wissen, wer sie da erreichen will, denn womöglich möchte sie für diese Person nicht erreichbar sein. Und sie mag es nicht, nicht zu wissen, wer da zweimal versucht hat, sie zu erreichen. Denn vielleicht verpasst sie etwas, eine tolle Gelegenheit, einen tollen Mann, eine tolle Geschichte.



Beinahe will sie zurückrufen. Vielleicht ist er es. Auch eine Geschichte aus einer dieser Nächte, eine Nacht wie die gestrige, nur besser, schöner, ohne vorzeitiges Ende. Vielmehr mit Verheißung auf eine Fortsetzung. Doch er hat sich nie gemeldet. Neun Tage ist es her. Er wird sich nicht mehr melden. Oder doch? Ihr Blick fällt auf die Kommode. Sie kann sie nicht sehen, doch sie weiß, dass sie dort liegt – seine Uhr. Er hat sie vergessen. Nachdem er gegangen war und sie sich aus dem Bett gequält hatte, ihre Jacke auf der Suche nach Zigaretten vom Boden aufhob, fand sie sie, seine Armbanduhr. Zuerst amüsierte es sie. Es war nicht das erste Mal, dass ein Mann ein unfreiwilliges Souvenir hinterließ und sie fand diesen Umstand immer wieder faszinierend. Dann wurde ihr bewusst, dass er nun auf jeden Fall zurückkommen müsse, um sie abzuholen. Und dann könnten sie wieder stundenlang reden und sich dann stundenlang küssen und da weitermachen, wo sie aufgehört hatten. Sie hielt sich das kühle Metall der Uhr an die Nase. Sie roch nicht nach ihm.



Neun Tage ist es her und seine Uhr liegt noch immer auf der Kommode.



Nach einer Woche wurde ihr klar, dass er sie nicht abholen würde. Sie wollte diese Uhr nicht als dauerhaftes Souvenir in ihrem Leben, sie erinnerte sie daran, dass sie manchmal so naiv war, zu leicht verletzlich und zu einsam. Sie würde sie verkaufen, noch eine Woche wollte sie ihm geben, das gebührt der Anstand. Dann würde sie in ein Pfandleihhaus gehen und sich für das Geld ein neues Kleid kaufen, es sollte eine feierliche Tat werden.



Sie ruft nicht zurück. Denn wenn er es ist, jetzt neun Tage später, ist klar, was er will. Sie nämlich nicht. Nur seine Uhr. Und die will sie ihm nicht mehr geben, zu groß ist der Groll. Und doch hofft sie den ganzen Tag, dass ihr Telefon noch einmal klingelt, dann würde sie rangehen, gewappnet. Doch nichts unterbricht an diesem Tag die Stille.

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