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Der Roadtrip

Text: SofiaKorksenzieher

Eine Mission für die Liebe, mit offenem Herzen ins Abenteuer!
Er hat mich sitzenlassen, ist nicht erschienen, nicht einmal in den Zug gestiegen auf dem Weg zu unserem großen Date, das seit vier Wochen schon fast überfällig ist. Der Bogen sei für ihn überspannt, es wird ihm alles zu viel. Er hat Probleme, traut sich nicht, zu viel Angst, dass die Seifenblase zerplatzt.
Was er dabei völlig vergessen hat? Mich! Ich bin auch ein Teil dieser sonderbaren Beziehung, fester Bestandteil unseres unzulänglichen Zweiergespanns. Seine Entscheidungsunfähigkeit macht mich handlungsunfähig, lähmt mich. Ich kann nichts tun, er ist zu weit weg, emotional wie räumlich.
Nach ein paar Stunden psychischer Pflege und Wiederaufbauarbeit durch meine liebste Ina ist die Entscheidung gefallen. Ich will raus aus der Passivität, rein in die Aktivität. Will wissen, was hinter allem steckt, ein Ende oder einen Anfang forcieren, ihn konfrontieren. Wir fahren zu ihm.
Bewaffnet mit Enthusiasmus, Bier, Zigaretten, Hoffnung, Angst und Wahnsinn rasen wir die 100 Kilometer auf ihn zu. Wir fühlen uns stark, stolz, verrückt und gut, wir haben eine Mission. Meine Gefühle fahren Schlangenlinien, mein Bauch schlägt Purzelbäume. Was soll ich sagen, wenn wir uns treffen? Werde ich wütend sein, mir meinen Frust und Kummer von der Seele schimpfen oder wird ein Blick in seine blauen Augen mich besänftigen, in mir vielleicht die so erhoffte Filmmusik abspielen? Kann es nach so großen Turbulenzen überhaupt noch ein Happy End geben oder sind wir schon zu sehr eingespeist in die Spirale des Nicht-Erscheinens?
Kurz bevor wir ankommen, rufe ich ihn an, höre zum ersten Mal seine Stimme, verängstigt und schüchtern, frängisch, beichte ihm, dass wir gerade auf dem Weg zu ihm sind. Er findet es mutig, aber gut. Erleichterung!
Schon von weitem erkenne ich ihn an seiner Mütze. Er ist, wie ich, heute nicht in seinem besten Outfit erschienen, kommt von einer Besprechung. Ich habe mir, um meine eigene drängende Dynamik unter keinen Umständen aufzuhalten, zuhause auch nur irgendein T-Shirt angezogen, bin ungeduscht und fast ungeschminkt. Keine idealen Voraussetzungen, aber er hat es nicht anders gewollt. Er sieht gut aus, ist groß, hat tolle Augen, ein verschmitztes und gleichzeitig schüchternes Lächeln. Selbst die große Nase sieht in der Realität zauberhaft aus und passt zu ihm. Er ist aufgeregt, das merkt man sofort. Ich bin von meiner eigenen Spontanität so überwältigt, dass ich zwar aufgedreht und hektisch, aber kaum nervös bin. Das erste Gespräch findet draußen unter dem überdachten Bahnhofsvorplatz statt, zwischen Alkis, Teenis und Reisenden, nicht wie eigentlich geplant in der schützenden Dämmrigkeit einer Kneipe mit lauter Indiemusik und Fassbier. Ich stelle ihn zur Rede, er merkt in der Konfrontation wohl selbst relativ schnell, dass er keinen Grund hatte, Angst zu haben. Ich bin ein Mensch aus Fleisch und Blut und keine virtuelle Sagengestalt. Ich finde, ich schlage mich wacker, trete stark auf, verständnisvoll, lache viel. Wir beschließen, noch ein Bier trinken zu gehen. Während meine Mitfahrer sich die Zeit vertrödeln, sitzen wir in einem gemütlichen Cafe zum ersten Mal an einem Tisch und bestellen Bier. Er setzt sich auf den Stuhl, der näher bei mir steht, das finde ich schön. Und wir reden. Reden über Themen, die bisher aufgrund der virtuellen Plattform unter Verschluss gehalten werden mussten, über seine Probleme, seine psychische Vergangenheit, über meine Stolpersteine und immer mal wieder auch über sein Nicht-Erscheinen. Es läuft eigentlich ganz gut. Der Blick in die großen, strahlend blauen Augen und der fränkische Dialekt gefallen mir.
Doch recht schnell wird mir klar, dass das Gefallen wohl eher eine einseitige Kiste ist. Ich wäre wirklich ziemlich weiblich, bemerkt er. Und auf meine Frage, ob das nun positiv oder negativ sei, erwidert er nur ein verkrampftes „Weder noch“. Nicht gut. Aber ich übergehe es, will nicht darauf reagieren, finde ich es doch eigentlich ganz schön dreist, das einer anderen Person unverblümt entgegen zu werfen. Und dass ich nicht der Typ wäre, nach dem er sich auf der Straße umdrehen würde. Danke? Wie bitte?



Irgendwann sind meine Begleiter es leid zu warten. Der Moment, die Entscheidung, Tor 1 oder Tor 2. „Jetzt bist du dran. Soll ich mit Ina wieder nach Hause fahren oder machen wir noch was und schauen, wo es uns hinführt?“ Entscheidungen mag er gar nicht, und noch viel weniger, wenn er sie eigentlich schon getroffen hat, nur noch nicht weiß, wie er sie so nett wie möglich artikulieren soll. Er würde sich gerne stundenlang mit mir unterhalten, aber er weiß nicht, ob daraus etwas werden kann. Daraus, damit meint er uns. Er sagt das zweimal. Er will mich nicht verlieren, aber er weiß eben nicht.
Ich habe zwar eine eher schlechte Menschenkenntnis, aber ganz auf den Kopf gefallen bin ich auch nicht. Damit mir nicht noch vor ihm die Tränen kommen, nehme ich ihm die Entscheidung ab, sage, dass ich dann wohl besser fahre. Wir wissen beide, was das bedeutet. Es bedeutet: Nein, Sofia, aus uns wird nichts. Du bist nett, aber nicht mein Typ. Zu weiblich. Die Illusion ist zerstört.
Zehn grausame Minuten später, in denen wir alle gemeinsam den Weg zur U-Bahn einschlagen und ein paar Stationen zusammen fahren, muss er raus. Man umarmt sich brav. Ich ermahne ihn, dass er jetzt dran ist. Warum ich das tue, weiß ich selbst nicht genau, ist mir doch bereits klar, wie es weitergeht oder eher nicht weitergeht. Aber ich muss irgendetwas sagen. Stark wirken, nicht verletzt.
Ich heule die ganze Autofahrt zurück. Das altbekannte Muster ist zurück: Ich bin fett, ich bin hässlich und niemand will mich. Dass in dieser Situation vielleicht viel eher er derjenige ist, den man aufgrund seines wiederholt schlechten Verhaltens nicht wollen sollte, blende ich an diesem Abend aus, zu groß ist die Kerbe im Selbstbewusstsein. Am Abend heule ich mich in den Schlaf. Und doch wache ich am nächsten Morgen mit zwei neu gewonnenen und zugleich altbekannten Erkenntnissen auf: Erstens, ich hab ein Faible für Idioten! Und zweitens: Es war trotz allem richtig hinzufahren, dem ganzen so ein Ende zu bereiten und nicht ewig in der Illusion festzuhängen, was geworden wäre, was hätte sein können.
Keine Mission für die Liebe, aber eine Mission zurück ins Leben.



 

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