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ZEN IM ALLTAG

Text: blindtexter
Für alle, die wissen wollen, was ZEN-Meditation mit Enten-Fahren, Wasserkochen, tiefgefrorenem Spinat und einem unentdeckten Supermodel zu tun hat.







Es muss ungefähr fünfzehn Jahre her sein. Auf der A661. Ein sonniger Tag und  das übliche Kuddelmuddel im Kopf. 1000 Gedanken. Das ganz normale Wirrwarr des Lebens. Der Job als Werbetexter in der Agentur. Die Träume als Musiker. Irgendwas mit Liebe. Das nie aufhören wollende Fernweh. Unzählige unrealisierte Lebenskonzepte und Ideen im Kopf, bei denen selbst heute, fünfzehn Jahre später, die Ich-male-mir-mein-Leben-Dampfplauderer in den Cafés am Prenzlauer Berg einpacken könnten.

Ich also auf der Autobahn. Die Boxen unter dem Sitz auf voller Lautstärke. Fuhr im Autopilot. Für alles einen Kopf, nur nicht für die Straße. Das Gaspedal durchgedrückt. Der Tacho zeigte fast volle 120 km/h. Mehr packte die rote Ente nicht.

Dann die Erinnerung. An das Buch. Ein kleines Taschenbuch. Hardcover. Wenige Seiten. “Die Kunst des Bogenschießens”. Eine Einführung in den ZEN-Buddhismus. Die Kernbotschaft: Tue nur das, was Du gerade tust. Nichts anderes. Der Alltag als endlose Meditation. Jeden Moment bewusst wahrnehmen. Möglichst keine Ablenkung. Hatte das Buch gerade Tage vorher verschlungen. Mein erster Kontakt mit dem ZEN-Buddhismus. Und jetzt war es an der Zeit das erlangte Wissen anzuwenden.

Stellte die Musik aus. Kam zurück zu mir. Schaltete nacheinander auch alle Monitore im Kontrollraum des Kopfkino-Centers aus. Schaute nur noch auf die Straße vor mir. Voll fokussiert. Jede meiner Lenkbewegungen war bewusst und kontrolliert. Keine Gedanken mehr an die To-Do-Listen in der Agentur. Keine Gedanken mehr an die Chancen als Nachwuchs-Songwriter für ehemals erfolgreiche Euro-Dance-Produzenten. Keine Gedanken mehr an diese Frau, die nicht zu mir passte. Keine Gedanken mehr an die Weltreisen-Pläne. Nichts. Nur das röchelnde Rasseln des Enten-Motors, die auf dem Asphalt surrenden Reifen, der durchs Stoffdach ziehende Wind, die Sommersonne, meine Hände am Lenkrad. War bereit. Bereit ein Buch zu schreiben. Sein Titel: “Die Kunst des Entenfahrens.”

Ab diesem durch und durch bewusstseinserweiternden Moment waren Meditation und Buddhismus immer mal wieder im Hinterkopf, mehr noch: ich spürte die Sehnsucht in mir, mich mehr damit zu beschäftigen. Aber der Alltag, diese Hydra, schob sie konsequent zur Seite.

Bis ungefähr zwei Jahre nach dem Enten-ZEN-Moment auf der 661. Hatte erfahren, dass es im ZEN-Zentrum in Sachsenhausen einen Einführungsabend gab. “Bequeme Kleidung” wurde empfohlen. Darüber hinaus gab es keine Grundvoraussetzung. Packte mir also meinen besten Trainingsanzug ein und machte mich auf den Weg.

Das verständnisvoll lächelnde Empfangskommitee bestand aus einer bunten Mischung: der beim Handshake aus Mund und Achsel duftende Herr Ende vierzig, alleinstehend, Kontakt mit Mann und Frau suchend, Typ Gymnasiallehrer. Dann eine Augenkontakt vermeidende, deutlich übergewichtige Dame, Typ Hausfrau, schmuckvoll in Pastellschattierungen gekleidet. Dann ein sehr sehr entspannter, durchtrainierter und frisch rasierter Sandalettenträger in meinem Alter, der direkt vom Free-Climbing zum ZEN-Schnuppern gekommen schien (Seine Fingernägel waren noch ganz schwarz, wahrscheinlich vom in-den-Fels-krallen). Und ein unentdecktes Supermodel, Typ blassfales Fabelwesen mit weißblonden langen Haaren, blauen Augen, blonden Wimpern, die vor der Tür noch eine Zigarette rauchte und am Rest ihrer Fingernägel kaute. Neben den eben Geschilderten gab es noch eine handvoll Gestalten, die sich über die Jahre in Erinnerungslücken verwandelt haben.

Der Zeremonienmeister begrüßte uns alle ganz herzlichst. Und als wir uns in die bequemen Klamotten geworfen hatten (ab diesem Moment hoffte ich, dass die Meditation durchweg mit geschlossenen Augen stattfinden würde. Nicht wegen dem mit Tank-Top und ohne BH gekleideten, bisher unentdeckten, Supermodel, sonden wegen den anderen Gestalten), erklärte er uns die Basics des Buddhismus. Wenn ich richtig verstanden habe, gibt es so etwas wie eine Wiedergeburt und wenn es schlecht läuft wird man als Kukaracha in einem vom Veterinäramt geschlossenen Motel irgendwo am Ende der Welt wiedergeboren. Oder als süßes Äffchen, dessen Hirn bei lebendigem Leibe von irgendwelchen Chinesen ausgelöffelt wird. Und wenn es gut läuft, wirst Du als Ryan Gosling wiedergeboren oder als vergöttertes Schoßhündchen von Scarlett Johansson.

Die Grundzüge der ZEN-Meditation sind dabei im Wesentlichen ganz einfach. Auf dem Weg zur Erleuchtung geht es Tage, Monate, Jahre und mitunter mehrere Inkarnationsstufen darum, zu lernen an nichts zu denken.

Wir setzten uns in den Schneidersitz und versuchten so gerade wie möglich zu sitzen ohne einen Rückenkrampf zu bekommen, auf unseren Atem zu hören und unseren Körper zu spüren. Das blasse, bisher noch unentdeckte Supermodel atmete so laut, dass in mir die Frage aufkam, ob sie wohl wegen ihres Atmens schon mal Ärger mit den Nachbarn in ihrer WG bekommen hatte, besonders im Falle von nicht auszuschließendem gelegentlichen Herrenbesuch.

Was mir aber tatsächlich bis heute noch durch und durch positiv in Erinnerung geblieben ist, ist die Abschluss-Meditation: Wir saßen mit dem Gesicht zur Wand und der Zeremonienmeister wies uns darauf hin, dass wir jetzt fünfzehn Minuten versuchen würden an rein gar nichts zu denken. Zur Erleichterung der Übung sollten wir einen Punkt am Boden vor uns oder an der Wand fixieren.

Mit den schlimmsten Befürchtungen begann ich die Meditation. EINE VIERTEL STUNDE!!!!??? Habt Ihr schon mal eine viertel Stunde auf einen Bus gewartet? Eine viertel Stunde ist beim Nichtstun eine halbe Ewigkeit. Oder? Wenn einem eine viertel Stunde an der Bushaltestelle, wo Autos, Passanten, Mobiltelefone und andere Dinge zur Ablenkung einladen, schon wie eine Ewigkeit vorkommt, wie würde es dann sein, wenn man dabei in einem Hinterhof in Sachsenhausen sitzt und an die Wand starrt?

Die Wirkung dieser kleinen ZEN-Übung war ebenso überraschend wie beeindruckend: Mir ging es großartig! Auch, oder gerade weil ich einen schier aussichtslosen Kampf gegen kommen- und gehende Gedanken austrug, piepste die weiße Küchenuhr des Zeremonienmeisters nach gefühlten fünf Minuten und als ich mich im Anschluss direkt mit dem Hinweis auf eine Verabredung davon schlich, taten mir zwar meine Gebeine vom langen Sitzen weh und ich lief etwas ungelenk, aber mein Geist war von einem Anflug neuer Leichtigkeit beflügelt, einer gewissen Sortiertheit, die ich in den Tagen zuvor noch vergeblich gesucht hatte.

Warum ich es bis vor Kurzem nicht schaffte, an die ersten Schritte auf dem Weg zur Erleuchtung anzuknüpfen, ist mir bis heute schleierhaft. Vielleicht die Angst, als Schoßhündchen wiedergeboren zu werden?

Es dauerte bis in den Sommer 2013, als mir das Buch “Die Kunst ein kreatives Leben zu führen” in die Hände fiel, bis mir klar wurde, dass ich der buddhistischen Meditation endlich wieder mal eine Chance geben würde.

Eine der vielen guten Kernbotschaften des Buches ist, dass wir uns - ähnlich wie bei einer Zigarettenpause, nur viel gesünder - immer wieder Zeit nehmen sollten, um durchzuatmen und zu entspannen. Zum Beispiel mit einer Tee-Pause. Dabei sollte man dann keinesfalls noch zig andere Dinge erledigen oder gleichzeitig noch den Facebook-Account checken, sondern vom Wasserkochen bis zum Tee-Schlürfen einfach nur seiner eigenen privaten kleinen Tee-Zeremonie beiwohnen. So weit so gut.

Während ich mit dem 1,7 Liter Büro-Wasserkocher mein Wasser kochte, stand ich daneben und starrte ihn an. Hilflos und gefangen. Die Stimme des Buches im Hinterkopf. Mir nahezu bewusstseinserweiternd bewusst, dass ich während das Wasser von null auf hundert Grad erhitzt wurde auf keinen Fall mein Mobiltelefon in die Hand nehmen dürfte, sonst wäre der ganze meditative Effekt der Tee-Zeremonie von Beginn an für die Katz.

Stand also vor dem riesen Wasserkocher und schaffte es ungefähr zehn Sekunden bis ich es einfach nicht mehr aushielt sinnlos rumzustehen und mich Spiegel.de, Bild.de und Facebook widmete. So eine schändliche Niederlage!  Lieber Buddha, nimm es mir nicht übel, aber ich glaube Deine Lehren sind nicht für Plastikwasserkocher gedacht!

Auch bei Phase zwei der Tee-Zeremonie stieß ich bald auf Hindernisse.

Stellte mich mit einer frischen Tasse ans einfach verglaste Altbaufenster, genoss die Ruhe, schaute den frisch gebackenen Muttis hinterher, wie sie in Horden fröhlich und vergnügt ihre Kinderwägen durchs Nordend schoben und verbrannte mir gedankenverloren die Lippen, weil der Tee noch viel viel zu heiß zum Trinken war.

Stellte die Tasse neben den Rechner und genoß es, mich bei der Arbeit von der Tee-Zeremonie zu erholen, während ich mir eine Packung tiefgefrorenen Spinat (was anderes war in der Tiefkühltruhe nicht zu finden) zur Abkühlung an die Lippen hielt.

Doch der ewig Suchende lässt sich nicht aufhalten. Ein jetzt in Afghanistan für die GIZ arbeitender ehemaliger freier Mitarbeiter (Was hatte ich ich ihm nur angetan, dass er in den Bombenterror flüchtete?) empfahl mir vor einiger Zeit, mir mal zwei Mediations-Apps für das iPhone anzuschauen. Sein Link zu einem Artikel pries vor allem zwei digitale Zeremonienmeister an: “Headspace” und …. “Buddhify”.

Buddhify hört sich so bekloppt an, dass es schon fast wieder gut ist, und verspricht dem sich ständig in Bewegung befindenden urbanen Hipster die Meditation im Alltag, die “Meditation to go”.  Nach “Coffee to go” sind wir also jetzt bereits dort angekommen, wo wir - statt wirklich zur Ruhe zu kommen - die Meditation dann einschalten, wenn wir in Bewegung sind, im Zug sitzend, laufend, im Gym auf der Hantelbank hängend oder ausnahmsweise mal: zu Hause. Den Gedanken an sich fand ich nicht unbedingt schlecht, schließlich hatte ich bereits gelernt, dass das ganze Leben Meditation sein kann.

Ich gab Buddhify eine Chance und startete ganz konservativ auf der Couch liegend: Nach dem üblichen Ein- und Ausatmen führte die Meditation wieder zu diesem “an gar nichts denken”-Ding mit einer entscheidenden Variante: immer wenn einem auffällt, dass man den Faden verloren hat, soll man laut “I’m back” sagen und sich wieder auf das “an gar nichts denken” konzentrieren. Um einem das “I’m back”-sagen zu erleichtern, machte es der Zeremonienmeister vor und sagte in unregelmäßigen Abständen: “I’m back!”.

Ist ja ein netter Zug. Brachte mich nur jedes mal wieder raus, weil ich darüber nachdenken musste, woher er denn zurück sei und mir dann einfiel, dass ich ja an nichts denken sollte und dann selber immer wieder “I’m back” sagte, so lange, bis meine Freundin irgendwann in der Tür stand und fragte, ob alles ok sei. Da ich aber Kopfhörer auf hatte und selber wohl gleichzeitig “I’m back!” sagte, hörte ich sie nicht, so dass sie sich tierische Sorgen um meinen Geisteszustand machte und mich an den Schultern rüttelte, während ich noch auf dem Sofa lag und versuchte an nichts zu denken. Ihr könnt Euch vorstellen, dass es eine ganze Weile dauerte, bis ich ihr das gesamte Ausmaß der Situation erklärt hatte.

In den folgenden Tagen versuchte ich die Meditation, die Fokussierung auf den Augenblick, das Anti-Multitasking im Alltag umzusetzen und jeden einzelnen kostbaren Moment hochleben zu lassen. Konzentrierte mich zum Beispiel voll und ganz auf das Spülwasser, das wie von Gott geschaffen aus dem Spülschwamm floss. Auf die unzähligen vielen bunten Socken, die von der Wäscheleine in den Wäschekorb wanderten. Auf die kostbaren Momente der Stille und des Innehaltens im zermürbenden Stop-and-Go-Verkehr.  

Möchte Dich einladen es mir gleich zutun. Lass uns ein Bündnis schließen und wenn dieser Text endet einen Moment der Ruhe einlegen, dieses “an gar nichts denken”-Ding einfach versuchen. Und sollten wir dabei von irgendeinem Gedanken gestört werden, werden wir uns zurück begeben an diesen persönlichen Ort der Inspiration, der Stille, des “an gar nichts Denkens” und laut sagen:  

I’m back!

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