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I was here before you, drinking Coca Cola

Text: sokratine

Berlin hat große Räume, weite Flächen und ein enges Herz. Es gibt wohl nichts heraus, was es schon nicht hat.
Ich stehe zu Anfang des Jahres im Grimm-Zentrum, dem modernen Abklatsch eines Orwell'schen Big-Brother-Baus, und halte mein Laptop 90 Grad senkrecht, während das Wasser aus den USB-Anschlüssen tropft. Meine Diplomarbeit, mühevoll dem leidenden Kopf abgerungene Seiten, Lettern mit aufgesetzter Bedeutung, alles rinnt hinfort auf den Boden der Tatsachen. Ein pummeliges Mädchen im Sessel gegenüber, die in einem russischen Kioskblättchen schmökert, lächelt mich müde an. Ich möchte ihr aus Mitleid einen Muffin schenken.
Etwas beklemmt setze ich mich in die Vorhalle, zwischen fade Essengerüche und gestriegelte Juristen. Es ist der Tag, an dem ich glaube, was das Leben so meint. Vorsprung ist eine Illusion, die an irgendetwas gemessen werden muss. Ich schaue mich um. Hier sollen sich ja Ideen zusammenballen, dabei tun es nur Pulks an Hipstern, die sich bei der leisesten Gefahr eines Sozialkontakts mit der Außenwelt verkabeln.
"Du, dieser Platz ist besetzt.", bedeutet mir mein Nebensitzer, dessen Frisur sich mit den Stilen einer sehr dunklen Periode deutscher Geschichte deckt. Wie gut, dass man das heute völlig unvoreingenommen betrachten kann. "Da kommt immer so ein komischer Mensch, der isst und trinkt, und dann geht er wieder." Aha, sage ich mir. Dann warte ich auf einen komischen Menschen. Den habe ich dringend nötig.
Ich wende also den Blick auf diesen einen, leeren Platz. Vor ihm liegen etliche Pamphlete von Antifa und Montechristo, Scientology und Kabbala. Ein abgewetztes Buch über "Irgendwas Nachkriegsgeschichte" thront auf dem Broschürenhaufen. Der halb aufgegessener Mensa-Kartoffelsalat krönt das Ensemble, neben Kuchenkrümeln und Kaffeeflecken. Es könnte ein ganz normaler Tisch sein. Für einen ganz normalen Menschen. Doch Freiheit ist der Fantasien Fläche...
Was etwa, wenn sich plötzlich ein Verschnitt Shahid Kapoors, oder, gereifterer Jahrgang, Iran Khans dorthin säße? Vielleicht würden sie so abtrünnig und weltfremd schauen, wie ich es an Männern mag, in einem Buch versinken und nur ganz leise, misstrauisch, mit ihren Blicken meine Augen streifen. Um dann, bevor ich alle Hoffnung aufgegeben habe, je wieder ein gutes Leben zu führen, in der Vorhalle des Grimm Zentrums, mit allen düsteren Gestalten einen schrecklich kitschigen Bollywood-Dance hinlegen, der mich vom Gegenteil überzeugt? Ich kenne schon den Text:



Liebling, oh gerundeter Augenstern, wie sehr sehnt sich die Frucht meines Leibes nach dir,
oh Sajna, geheiligt sei dein Name, einem Engel gleich, sag ich dir: jetzt und hier... (proudly presented by Elena Rybakova)



Wahlweise kommt aber auch die hornbebrillte verzogene Kreuzbergerin um die Ecke, lässt sich nieder und schaut dich an, als würde sie am liebsten eine Isolierungskabine bestellen. Krampfhaft werden wir versuchen, in unterschiedliche Richtungen zu schauen, und sollten sich unsere Blicke oder Worte doch einmal kreuzen, so wird sie mir ihren (für sie) nichtswagenden Deko-Nietzsche-Reclam vors Gesicht knallen und in jedem einzelnen Schlag deklamieren: "Du-sollst-nicht-reden!"
Was wäre aber wiederum, wenn sich ein vielbeschäftigter Harvard-Professor für Neuzeitgeschichte dort hingesetzt hätte, und ich es nicht wüsste und ihn ohne Umschweife ansprechen könnte? Oder die Putzfrau? Eine Kulturtouristin? Nein, halt, es muss ein komischer Mensch sein...
Und während ich so darüber nachdenke, meine Stereotype am Daumen abzähle und meine Projektionen ausleiere, da setzt sich ein ausgemergelter, grauhaariger, lumpenbekleideter Mensch mir gegenüber. Mir schwant Böses. Doch kommt Gutes. Die Pseudo-BWLerin im Hintergrund sprüht vorsorglich 5 Pumpstöße Armani Code.
Der Mann sagt nichts, und während er sich über sein Essen hermacht, schaut er immer wieder wagemutig nach links und rechts, in angewiderte Gesichter. Um uns herrscht hektisches Treiben, Fressalien und Fachausdrücke werden durcheinander geworfen. Doch ihm dabei zuzusehen, was er tut, beruhigt. Mehr als alles andere.
"Wissen Sie", murmelt er, "Sie tun mir leid." Ein Blick auf mein Laptop hatte die Lage erklärt.
"Ach, warum?"
"Sie sitzen hier, sie sehnen sich scheinbar nach nichts und niemandem. Und Sie freuen sich nicht einmal darüber. Und jetzt haben Sie nicht einmal mehr eine Ablenkung davon."
Damit verschwand er wieder in den Untiefen von Lektüre und Kartoffelsalat. Und ich wusste auf einmal, was zu tun war...

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