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Die Schönheit der Mitte

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Es war bei einem Weihnachtsessen mit meiner Familie, als mir meine Mittelmäßigkeit zum ersten Mal so richtig bewusst wurde. Die Weihnachtszeit erscheint mir immer wie eine Parallelwelt, verglichen mit dem Leben in der Stadt, in der ich studiere: Ich muss weder arbeiten, noch zur Uni gehen, ich schlafe wieder im Kinderzimmer und treffe lauter alte Freunde. Vor allem aber sitze ich endlich mal wieder mit meiner ganzen Familie an einem Tisch. Früher oder später sprechen wir dabei über unsere allgemeinen und aktuellen Lebenspläne. In genau so einer Situation sind sie aus mir herausgerutscht, die Worte „Ich kann ja irgendwie alles....“.

Noch bevor ich den Satz beenden konnte, sah ich erst ein großes Fragezeichen in den Gesichtern meiner Eltern und dann ein großes Grinsen. „Neeein! So habe ich das doch gar nicht gemeint, also ich meinte doch nur...“, versuchte ich die Situation noch zu retten. Zwecklos, wie immer, wenn meine Familie erst mal angefangen hat zu lachen, lachen irgendwann alle, mich eingeschlossen. Sämtliche Erklärungsversuche machten es nur schlimmer. Was ich mit meinem so selbstzufriedenen Ausspruch gemeint hatte, war nur, dass ich eben denke, vieles gut zu können, nur eben leider auch, und an diesem Punkt wurde ich unterbrochen: Nichts richtig.
  

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Sollte ich zufriedener mit mir selber sein? Ich strenge mich wirklich an und gehöre dennoch nur zum Mittelmaß

Ich denke mir: So kann das nicht ewig weitergehen. Ich bin gefangen zwischen der Identität eines Allrounders und der eines Nichtskönners. Immer öfter überfällt mich das Gefühl, dass etwas fehlt, dass mir etwas fehlt. Dass es nicht reicht, zum Durchschnitt zu gehören. Dass es mir nicht reicht und dass es der Welt nicht reicht.

Die Menschen brechen Weltrekorde, schreiben Bestseller, werden befördert oder um Rat gebeten, in Gebieten, in denen sie sich besonders gut auskennen. Auf ihr Urteil kann man sich offenbar verlassen. Werde ich jemals so eine Person sein? Oder habe ich schon jetzt den Moment verpasst, in dem man nach dem ewigen Ausprobieren bei einer Sache bleibt und merkt, dass es genau das ist, was man kann oder können möchte? Und dann denke ich wieder: So ein Quatsch. Eigentlich mache ich meine Sachen doch gut und ernte auch mal ein Lob. Ich hatte ein gutes Abi, das Studium verlief ohne weitere Zwischenfälle und Nebenjobs zu bekommen war auch nie ein großes Problem. Also wo liegt mein Problem?  

Würde ich heute in den Poesie-Alben meiner Schulfreunde aus der Grundschule blättern, würde sich schnell abzeichnen, wie schnell ich zwischen dem Wunsch Prinzessin zu werden auf den Wunsch Malerin zu werden, umschalten konnte. Als Kind ist das okay. Als Teenager ist es einem dann meistens egal. Und dann kommt so eine Phase, in der man sich nicht mehr zu den Teenagern zählen möchte, aber auch auf gar keinen Fall erwachsen ist. Und in dieser Phase sollte man sich wohl langsam mal Gedanken machen, wer man eigentlich sein möchte und was dieser Jemand aus seinem Leben macht.  

Meine Rettung war die Entscheidung zu einem Studienfach, das mir möglichst viele Optionen offen hält. Bloß noch nicht festlegen und erst einmal etwas machen, was mich interessiert. Aber die Tatsachen holen mich ein. Schneller, weiter, besser, neuer: Wo man auch hinschaut – überall ist die Rede von Begabten, von einer Elite oder Menschen mit herausragenden Fähigkeiten. Wir messen uns jeden Tag international. Entweder wird darüber berichtet, dass jemand besser ist als jemand anderes, oder aber es wird darüber diskutiert, warum man unbedingt danach streben sollte, besser zu sein als der Durchschnitt. Sich abzuheben von der Masse. Was bleibt, ist das ungute Gefühl nicht zu genügen. Zu langsam, zu klein und überhaupt unsichtbar zu sein.

Definitiv hat es auch mit dem Wort selbst zu tun. Durchschnitt, Mittelmäßigkeit, da denke ich an: „so lala“, ein Schulterzucken und mit dem Kopf von links nach rechts wackeln. Eine fünf auf der Skala eins bis zehn. Irgendjemand unter Tausenden. Hat der Begriff nicht eigentlich ein wenig mehr Wertschätzung verdient? Dass wir eine Elite brauchen ist unbestreitbar, sei es zum Ansporn, für Entwicklungen oder neue Denkweisen, die nicht jeder entwickeln könnte. Es steht aber doch auch fest, dass sie alles eines brauchen, das sie stützt und zu etwas besonderem macht: das Mittelmaß.  

Auf der nächsten Seite erfährst du, was Jule von Markus Reiter erfährt, dem Schreibtrainer und Autoren des Buches "Lob des Mittelmaß".




Davon ist auch Markus Reiter überzeugt. Anlässlich zu meinem Hilfe-ich-bin-nur-Mittelmaß-Disaster, habe ich mit dem Schreibtrainer und Autor des Buches „Lob des Mittelmaßes“ gesprochen. Als ich ihm schildere, wie ich mich immer wieder im Kreis drehe, wenn ich mich mit der Frage beschäftige, ob meine Leistungen mir oder jemand anderem genügen, antwortet er: „Es wird immer Menschen geben, die zum Mittelmaß gehören, schon allein aus statistischen Gründen. Wenn diese Menschen gesellschaftlich anerkannt werden, könnte es uns gelingen, sie zu motivieren, sich so weit wie möglich anzustrengen. Dazu müssen wir aber auch erkennen, dass jeder von uns seine Grenzen hat“. 

Natürlich ist es unangenehm, sich zum Durchschnitt zu zählen. Jeder will ja irgendwie besonders sein und anerkannt werden. Das Mittelmaß, und alles was man unter solchem versteht, ist ein sich immer weiter formender Prozess. „Es ist in der Tat so, dass die Ansprüche, die wir an den Einzelnen stellen insgesamt gewachsen sind. Das kann man übrigens auch an dem Intelligenzquotienten erkennen. Menschen, die um 1920 zu den intelligentesten ihres Jahrgangs gehörten, würden mit dem gleichen Ergebnis heute unteres Mittelmaß sein“, erklärt Reiter. Ganz schön hart, was mittlerweile so dazu gehört, um sich zum Mittelmaß zählen zu können. Ist ja nicht so, als würde ich nur auf der faulen Haut liegen und glauben alles käme von alleine.  

Viele verbinden Mittelmaß aber tatsächlich mit Faulheit, was nach Reiter ein Trugschluss ist. Er trifft eine Unterscheidung zwischen den Begriffen Mittelmaß und Mittelmäßigkeit: „Mittelmaß ist das, was du erreichen kannst, wenn du dich sehr anstrengst und bemühst, aber irgendwann an deine natürlichen Grenzen stößt.“ Gesamtgesellschaftlich ist das nicht unbedingt eine Spitzenleistung aber für den einzelnen Menschen eine persönliche Bestleistung. „Mittelmäßigkeit hingegen ist, wenn es dir ziemlich egal ist, welche Leistung du erbringst und du nicht motiviert bist, deine Sache so gut wie möglich zu machen.“

Reiter sieht Mittelmäßigkeit als ein Resultat von Trägheit und mangelndem Leistungswillen. Einerseits ist es natürlich tröstlich zu hören, dass ich nicht einfach nur faul bin und deswegen zum Durchschnitt gehöre. Andererseits ändert die Tatsache, dass ich persönlich zwar das Maximum des mir Möglichen erreicht habe, mich aber dennoch gesellschaftlich im guten Mittelfeld bewege, nichts an dem Gefühl der Ungenügsamkeit. Was mir fehlt, ist eine gewisse Anerkennung. „Das Mittelmaß wird von der Gesellschaft zu wenig anerkannt, insbesondere, wenn es um die persönlichen Leistungen geht“, sagt Reiter.  

Alleine bin ich mit diesen Gedanken sicherlich nicht. Da es sich aber nicht gerade um ein angenehmes Gesprächsthema handelt, kommt es unter Freunden und der Familie nicht oft zur Sprache. Vielen macht es wahrscheinlich Angst sich zum Mittelmaß zu zählen und gleichzeitig schämt man sich, wenn man sich über so ein Luxusproblem den Kopf zerbricht.  

Als ich dennoch mit meiner guten Freundin L. darüber sprach, fühlte es sich erstaunlich gut an, ihre Meinung zu der ganzen Sache zu hören. Schon im Teenageralter hat sie für sich erkannt, dass es immer Menschen geben wird, die es besser machen und sie erzählt, dass es doch irgendwie auch immer darauf ankomme, mit wem man sich messe. Im Vergleich zu Freundin A, kocht sie zum Beispiel fantastisch. Vergleicht man ihre Kochkünste jedoch mit denen von Freundin B, sieht das Ganze schon wieder anders aus. Im Gegensatz zu Freundin B. kennt sich L. dafür vergleichsweise gut mit Musik aus. Auch Markus Reiter hat mir gesagt, dass es wichtig ist, darauf zu achten mit wem man sich misst und dass man seine Motivation am besten daraus schöpfen sollte, sich vor Augen zu führen, welche Steigerung man dank seiner persönlichen Anstrengung geschafft hat.  

Mit anderen Worten: Ich muss endlich aufhören, mich mit dem Rest der Welt zu vergleichen. Ich habe nicht den Anspruch mein Leben umzukrempeln und nur noch eine Sache starr zu verfolgen, damit ich endlich in irgendetwas ein Experte bin. Ich finde gut, was und wie ich es mache. Sicherlich geht da noch mehr, aber in meinem Fall sollte dieses „mehr“ wahrscheinlich erst mal die Gewissheit darüber sein, dass meine Leistungen genügen. Nicht die absoluten Ergebnisse zählen, sondern das, was ich mit meinen Möglichkeiten erreicht habe. Das klingt nach einem guten Vorsatz für das neue Jahr von einem Glückscoach. Einen Orden wird mir dafür wohl niemand verleihen. Das muss ich schon selbst erledigen. Vielleicht ein guter Anfang.


Text: jule-lange - Illustration: Yinfinity

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