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Mädchen, ist euer Pulli euer Schneckenhaus?

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Die Jungsfrage:

Es war Sonntag, draußen hatte sich der Winter mal wieder an seine Kernkompetenzen erinnert: Minus vier Grad, Schneeflocken wie Wurfsterne. Drinnen war es warm, genauer gesagt war das Wohnzimmer von Freundin S. nach Klimaschutzgesichtspunkten völlig inakzeptabel überheizt. Ich saß also barfuß und im T-Shirt auf dem Sofa, sie daneben, vor sich auf dem Tischchen eine Tasse Tee, der in der Raumhitze schon langsam verdunstete. S. nahm ihre Sonntagsposition ein: Sie packte ein Sofakissen, legte es sich auf den Schoß und zog die Knie zum Bauch. In dieser Hockstellung, ohnehin schon sehr würfelhaft kompakt zusammengefaltet, wendete sie dann aber einen Move an, der mich rätseln ließ.

Sie zupfte sich mit der linken Hand den rechten Ärmel ihres Strickpullis über das rechte Handgelenk, bis die Hand gänzlich im Ärmel abgetaucht war. Einen spitzen Zeigefinger schob sie noch teleskopartig heraus, mit dem stülpte sie den linken Ärmel über die linke Hand. Dann verschwand auch der Finger im Kokon ihres gestrickten Zopfpullovers. Beide Hände waren weg. Die gute S. hatte sich soeben vor meinen Augen in ihr Gehäuse zurückgezogen, aus dem oben nur noch das Köpfchen und unten zwei wollbesockte Zehen herausstanden.

Und ich, auf meiner Seite des Sofas barfuß hockend, fragte mich: Warum? Den alten Installationsfehler, der Mädchenfüße und -hände vor allem abends grundlos von der Energieversorgung des Restmädchenkörpers abkoppelt, kennen wir ja. Aber an Wärme konnte es S. angesichts der aus allen Rohren feuernden Raumheizung kaum mangeln! Deshalb die Frage: Hat das Einziehen eurer Hände in Pullis noch einen anderen Zweck, von dem wir wissen sollten? Ist es, mal ganz groß gesagt, Weltflucht? Oder, mal grob biologisierend gesagt, eine weinbergschneckenähnliche Existenzangst, die euch solchermaßen die Extremitäten in euren gestrickten Panzer zurückziehen lässt? Sagt doch mal, ihr Gemütlichkeitsmonster!

Auf der nächsten Seite liest du die Antwort von merle-kolber



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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Die Mädchenantwort:

Mit vierzehn gab ich das erste Mal sehr viel Geld für ein Oberteil aus. Bestimmt 35 Euro kostete es, was bei acht Euro Taschengeld die Woche eine Rieseninvestition war. Es war türkis-hellblau-gelb gestreift. Und das beste an der Sache: Es hatte Trompetenärmel, die im normalen Zustand bis an die Fingerkuppen reichten. Ein Jahr lang rannte ich ständig in diesem Oberteil rum. Rieb auf Ewigkeit unentfernbare Gras- und Tomatensaucen-Flecken in die Ärmel und kombinierte es mit bunten Hosen, von denen mein Vater immer sagte, sie seien "so breit wie die Autobahn". Am Ende des Jahres waren es allerdings weder die unappetitlichen Flecken, noch mein verirrter Modegeschmack, der das Oberteil zur Strecke brachte. Es waren die komplett ausgeleierten Ärmel. Denn in jeder Situation der Unsicherheit (mit 14 sehr viele!), Kälte oder wenn ich einfach nur von den Jungs als "süß" empfunden werden wollte, zog ich die Ärmel über die Fäuste und überdehnte dabei das Material aufs Äußerste. Am Ende war der Pullover sogar zu oll für die Altkleidersammlung, meine Mutter schmiss ihn in einer Ausmistungsaktion weg.

Heute sind unsere Schneckenhaus-Pullover glücklicherweise nicht mehr türkis-gelb-gestreift. Stattdessen sind sie weiten Wollpullovern, Hoodies oder einfach euren Pullovern gewichen. Denn, und das ist die wichtige Beobachtung Nummer eins: Nicht jedes Kleidungsstück taugt es Schneckenhaus. Wir würden nie versuchen, die Ärmel eines Kleides oder eine Bluse über den Handballen zu ziehen. Dafür taugen nur besonders gemütliche Teile.

Die trägt man wiederum aber auch nur in Situationen, in denen man sich eigentlich wohlfühlt. In der von dir beschriebenen Situation - mit dem Freund im überheizten Wohnzimmer - beispielsweise. Oder in den Momenten, in denen die Welt untergeht und es somit auch völlig scheißegal ist, wie man dabei aussieht. Deine Beobachtung, dass es sich beim Zurückziehen in den Panzer um eine kleine Weltflucht handelt, kann ich somit nur bestätigen. Aber die muss halt nicht immer nur negativ sein. Stattdessen kann man auch vor der Welt fliehen wollen, weil man mit dem liebsten Menschen ganz allein sein will. Weil man in einer Liebesblase steckt und mal so überhaupt keinen Bock auf die kalte, schnelllebige und unromantische Außenwelt hat, die doch sonst immer an einem zerrt. Und die wörtlich genommene Flucht in den Pulloverpanzer unterstreicht das nochmal. In solchen Momenten ist das dann allerdings auch sehr okay, wenn ihr mit in den Panzer kriecht. Oder zumindest eure Hand. Denn eigentlich ist das Vergraben der Hände im Pullover auch ein Zeichen für: Ich bin sehr kuschelbedürftig. Und wenn du mich nicht in den Arm nimmst, dann mache ich das halt selbst. Meistens kapiert ihr das ja auch recht flott.

Eine Ausnahme gibt es allerdings bei all dem: Manchmal, wenn wir uns bei 30 Grad Zimmertemperatur in den Pullover vergraben, literweise Wasser trinken und schwer nuscheln, wollen wir zwar auch vor der Welt fliehen, aber nicht aus Liebe und Schmerz. Manchmal, da haben wir einfach nur einen Kater. Das sollte euch aber auch nicht abhalten, uns in den Arm zu nehmen.


Text: jan-stremmel - Coverfoto: earlysummer/photocase.com

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