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PULL THE TRIGGER

Text: PitAlbrecht

PULL THE TRIGGER



Eine Kurzgeschichte von pit albrecht
Aus dem Band „Asphaltblumen"
© 2013



Washington 10 Uhr 30:
Die Kugel, ein Stahlmantelgeschoss näherte sich meiner Schädeldecke, brach die Knochen auf, donnerte durch den Stirnlappen, vorbei am primär motorischen Bereich, zerkleinerte die somatosensorische Sektion, schoss durch den Scheitellappen, vorbei am Wernicke-Areal, zuständig für das Sprachverstehen und brach den Hinterkopf großflächig auf, sodass die graue Masse wie Pudding gegen die hässlichen Tapeten klatschte.



Washington 9 Uhr 30:
Der Radiosprecher leierte gewohnt die Nachrichten herunter. Waren es 5 oder 6 Kaugummis die er im Maul hatte? Die Stadt roch nach Abgasen und hatte was von Dantes Hölle. Aber wer zur Hölle ist Dante? Und was zum Teufel ist die Hölle?
Ein vertrauter Geruch! Mein Wagen tauchte in die Schlaglöcher ein und mein Gefährt verwandelte sich zu einem alten Kutter auf hoher See, der sich nach den Gestaden des Stillen Ozeans sehnte. Die „News" waren wie immer grausam und fremd:
- Irgendwo wurde ein Mörder und Vergewaltiger hingerichtet.
- In einem dieser afrikanischen Länder wurden Frauen und Kinder abgeschlachtet.
- Ein Politiker hatte mit Korruptionsanschuldigungen zu kämpfen.
- Ein „NEIN" zur Verschärfung der Waffengesetze.
- Rekord der Staatsverschuldung in den USA – keine Ahnung, ich hatte eine so hohe Zahl noch nie gehört. Mathematik hatte mich noch nie interessiert!
Und zum Schluss:
- Eine Schlechtwetterfront rollte vom Atlantik herüber...dieses verdammte Europa!
„What a Wonderful World", das war der Titel des nächsten Songs.
Irgendwo zwischen roten Ampeln und Streifenwagen dachte ich an meinen Sohn.
4 Jahre alt und hinten auf dem Rücksitz. In seinem Hightech-Kindersitz schlief er wie das Christuskind in der Krippe.
Du wirst das schon schaffen, dachte ich mir. Wir schaffen das schon! Ich bin immer bei dir! Auch wenn die Welt ein räuberisches Wesen war und die Zukunft ein alles-vernichtender Schlund sein würde...vielleicht auch nicht? Keine Ahnung. Wer Kinder hat, sollte die Menschheit, sollte die Zukunft nicht so sehen. Man sollte besser an eine friedliche, Ressourcen-teilende Gesellschaft denken. Oder...Oh ja...oder eine gesunde „Nach mir die Sintflut-Einstellung" haben. Ich hatte mir mittlerweile die zweite Version als traurige Wahrheit in mein „Zukunfts-Wahrheiten-Reparateur" abgelegt. Die Sintflut würde eh zuerst Afrika und die ganzen 3-Welt Länder verschlingen und nicht an der Ostküste der Vereinigten Staaten anbranden. Zuerst sterben die Armen! Die Hydra der Evolution: Die Schwachen werden von den Starken zerfleischt. Erst danach zerfleischen sich die Starken gegenseitig. Der Letzte wird solange von den Hunden gebissen, bis der Erste der Letzte ist!
Nein, nein, hier in den USA würde man die restliche Welt solange aussaugen, bis man wie ein genmutierter Moskito im Hochsommer des paradiesischen Garten Eden platzt. Wupps – ein gewaltiger Knall, und der Planet hätte Blutsspritzer auf seiner Oberfläche wie die Opfer in einem billigen „Splatter". Aber America ist nun mal eben deswegen Amerika!



Duke ist America. Ja, das ist er! Ein Jahr älter als ich und in meiner Rangliste „beste Freunde" unter den ersten fünf. Wir hatten zusammen eine wirklich beschissene Jugend hinter uns gebracht. Unsere Väter glichen Fliegen, die nur zu unseren Müttern kamen, als diese nach unwiderstehlichem Schmalz rochen, wenn ihr Testosteron spiegel einen galaktischen Wert annahm. Die sonstigen Männer, die ein und aus gingen, schrien, schlugen und prügelten auf „Mami" ein, bis ein Nachbar die Bullen rief und jungen Sanitäter Eisbeutel auf ihre blauen Augen drückten.
Was für eine wundervolle Welt, dachte ich mir damals. Und wir beide hatten diesen gleichen Film hinter uns, den gleichen „Shit" – Ich und Duke. Duke hieß eigentlich Daniel, aber so wie das mit Spitznamen üblich ist, bekommt man diesen von Freunden liebevoll auferlegt.
Als wir Teenager waren und Pickel in unseren Gesichtern wie die Sterne in einer mondlosen Sahara-Nacht leuchteten, begann eine neue Ära:
Partys, Mädchen und Drogen – die übliche heilige Dreifaltigkeit im Erwachsen werden eines Mannes.
Hoffentlich treibt es mein Sohn später nicht mal so bunt wie wir, kam es mir sofort in den Sinn. Hoffentlich kriegt er die Kurve rechtzeitig. Ich hab's ja noch geschafft, aber Duke?
Damals wurden von Jahr zu Jahr unsere Partys heftiger, die Mädchen geiler und die Drogen donnerten mit unbarmherziger Sinnlosigkeit durch alle Sinne unseres Verstandes. Im letzten Jahr, der Abschluss sollte uns eigentlich die ganze Aufmerksamkeit abverlangen, hingen wir im Nirwana verschiedenster Rauschzustände fest. Ich lernte sporadisch, falls ich in der Lage war zu lesen. Ich hatte die Absicht den Abschluss zu schaffen. Irgendwie musste es klappen. Duke gab damals bereits auf. Er begann mit Speed, Kokain und Gras zu dealen, was ihm ein sehr lukratives Einkommen verschaffte. Allerdings lag das Zeug in rauen Unmengen immer in greifbarer Nähe und sein Konsum verwandelte sich dadurch in ein tägliches Ritual. Ich erinnerte mich noch an meine Abschlussprüfung. Duke gab mir am Vorabend zwei Gramm Speed und meinte, ich solle es mir vorher hindonnern. Ich hatte ein Gramm am Vorabend geschnupft und blieb die ganze Nacht wach – aber ich lernte. Morgens um sechs Uhr wäre ich fast über den Mathebüchern eingeschlafen. Dann nahm ich nochmals eine Line und „Juhu", die Müdigkeit verschwand wie die Nacht vor meinem Fenster. Wie auf Rollschuhen glitt ich in den Prüfungssaal und kritzelte dummes Zeug auf schwarze Linien. Schweiß kroch aus all meinen Poren und meine Augen brannten wie Feuer. Ich schrieb und schrieb und bestand.
Das nächste halbe Jahr machten wir die übelsten Partys auf Gottes Erden. Selbst der Herr dort oben, dort wo der Wind die Wolken wie eine hungrige Bestie zerreißt, hätte sein ehrwürdiges Haupt fassungslos geschüttelt.



Ein rotes Licht, eine Ampel und die dazugehörige Vollbremsung machte meinen Erinnerungen ein jähes Ende. Ich warf einen Blick nach hinten, aber mein Sohn schlief nach wie vor, als sei er in einer Achterbahn zur Welt gekommen.
Doch diese Welt glich mehr einer Geisterbahn!
Nur langsam lösten sich meine verkrampften Finger und gaben das Lenkrad wieder frei.
„Nichts passiert...nichts passiert!", mein Singsang.
Ich bog in die 57 Avenue ein. Diese Straße kannte ich gut. Erinnerungen rollten wieder heran und übermalten meine Gedanken an den abrupten Zwischenstopp:
Mit unseren verrosteten Vans rauschten wir damals nachts über diesen Asphalt. Duke saß am Steuer und Curt Cobain schrie „Rape me" aus den Boxen. Ein Aufruf? Ein verzweifelter Hilfeschrei? Ich ging vom Gas und betrachtete die hässlichen Wohnhäuser. Grau und versifft – nichts hatte sich verändert. Die gleiche Scheiße klebte an diesen Wänden wie früher und die gleichen, seelenlosen Zombies liefen über die Gehsteige. Die Zeit wurde hier von einem schwarzen Loch aufgesaugt, oder hatte die Stadt keine Gelder das geschundene Gesicht dieses Viertels zu renovieren. Als ich vor so ca. 6 Jahren das letzte Mal hier entlang fuhr, war ich gewiss auf dem Weg zu Duke. Er wohnte damals, wie auch jetzt wieder im West Side.
„The West is the best"
Welcher Sänger hatte das Gesungen? Die Stones oder waren es die Doors?
Ich glaube Jim Morrison. Ach, egal – ist lange her.
Das mit Duke nahm etwa ein halbes Jahr nach meinem Highschool-Abschluß ein plötzliches Ende. Ein oder zwei Tage vor dem „Big-Bang" besuchte ich ihn. Ich klopfte an seiner Tür und er lugte vorsichtig durch den Türspalt heraus:



„Du bist's Chris. Komm rein!"
Er öffnete die Tür und ich sah in seiner rechten Hand einen Revolver. Silbern wie Chromfelgen.
„Hi John Wayne", sagte ich damals.
„Wen willst du damit erschießen?"
Unter seinem Cowboyhut donnerten schwarze Pupillen auf mich zu. Ein neues Tattoo kroch aus dem Muskelshirt über seine Schulter. Duke ist America!
„Dich gewiss nicht! Ist nur ein Spielzeug. Nicht geladen...aber zum Einschüchtern nicht schlecht. Du glaubst ja nicht wie beschissen die Zahlungsmoral meiner Kundschaft ist...und mit so einem Ding verleiht man seinen Forderungen Nachdruck!"
Danach fielen wir auf die Sofas. Duke gab mir seinen Spiegel mit Kokain. Parallel dazu drückte er mir einen Joint in die andere Hand. Ich zog erst Rauch, dann weißes Pulver in mich hinein. Wie es sich damals anfühlte? Geil!
Manche Forscher sagen, dass der Rausch ein Leben lang in einem schlummert und nur der Gedanke daran ein gewisses Verlangen hervor bringen kann. Bereits nicht wahrnehmbare Bilder von Kokain mit der Zeitspanne einer 33 tausendstel Sekunde genügten, um das limbische System im Gehirn bei ehemals Abhängigen zu aktivieren, berichteten die Mediziner im Journal „PloS ONE".
Dem musste ich beistimmen. Dieses Gefühl hatte sich in mir bereits verankert, war ein Teil meines Organismus und würde in allen Lebensphasen meiner noch wer weiß wie langen Zukunft zu mir sprechen.
Dann ertönte ein Klopfsignal an der Tür. Ein billiges, dreimaliges „Poch, Poch, Poch". Dukes Freundin Linda begrüßte uns. Sie hatte ein Sixpack Budweiser im Arm und bot mir eines an. Alkohol hatte schon immer seine Daseinsberechtigung. Linda schmiss sich zu mir auf das Sofa. Aus ihrer Handtasche zog sie eine Crackpfeife hervor und nachdem sie das Teil geladen hatte, zog sie daran und war weg. Duke nahm sie ihr ab und machte erst mir und dann für sich eine neue Ladung. Ich zog, inhalierte den Rauch bis ins Zwerchfell, und plötzlich rauschte ein Schnellzug durch meinen Kopf.
Oh Jesus, glaube ich, hatte ich damals gesagt. Keine Ahnung. Viele Erinnerungen waren vergraben unter einem grauen Schleier und durften nur als vage Vermutung weiter existieren. Dann waren wir alle weg und nur noch die Musik tanzte einsam in unseren Köpfen ihren Tango.
Am nächsten Tag verlief unser Leben nicht mehr so parallel und geradlinig wie die Schienen der Transsibirischen Eisenbahn. Seine Schiene führte direkt nach Phoenix, in die „Madison-Street" Haftanstalt. Dort quälte ein sadistischer Sheriff die bis zu 8000 Insassen. Die Schäferhunde der Wachleute hörten auf deutsche Kommandos und jedes Fehlverhalten wurde mit Isolationshaft bestraft. Denn anstatt eines vertrauten Klopfsignals, donnerte am Morgen danach die Drogenbehörde durch Dukes Wohnungstür. Holz berstete und Staub wirbelte auf, als seien die Taliban höchst persönlich gekommen. Mehrere Waffen auf seinen Kopf gerichtet, ließen ihn auf dem Sofa erstarren. Auf dem Tisch türmte sich Geld, abgepacktes, verkaufsfertiges Kokain und eine duftende Sporttasche mit Marihuana. Dukes Ende:
Hände pressten ihn auf den Boden und hinter seinem Rücken klickten die Handschellen.
Meine Schiene führte mich unverzüglich „straight" aus dieser Stadt hinaus.
Good-Bye Washington! Nach einem Anruf von Linda verließ ich meine Heimat wie eine Kugel das Gewehr. Noch während der Fahrt nach New York, blickte ich immer wieder paranoid in den Rückspiegel. Verfolgungswahn pur!
Dort schrieb ich mich an der Universität ein und begann ein Studium in Betriebswirtschaftslehre. Seit diesem Abend bei Duke rührte ich keine Drogen mehr an, sondern berauschte mich an den Wochenenden lediglich mit der legalen Volksdroge Alkohol. An einem dieser Freitage, oder war es ein Samstag, lernte ich meine jetzige Frau kennen. Nach einem Gespräch folgte eine Berührung. Finger umschlangen sich. Sie kam näher und näher und wurde schöner und schöner und es folgte ein Kuss. Wir landeten im Bett und lernten uns lieben. Ja, sie war und ist meine große Liebe. Was für ein Glück! Zwei Jahre später gaben wir uns dann das „Ja"-Wort und ihr Bauch kündigte bereits unseren Nachwuchs an. Nach meinem Studium zogen wir zurück nach Washington. In einen dieser Vororte, die man zu gut aus den vielen unsäglichen Hollywoodstreifen kannte: Ein weißes Haus von der Stange, davor ein getrimmter Rasen und der geleaste Neuwagen in der Einfahrt, waren stumme Zeugen der gut konsumierenden Mittelschicht in der ich mich nun befand. Meine Vergangenheit hatte ich begraben. Begraben unter einem bürgerlichen Leben, einer gut bezahlten Anstellung und einer perfekt funktionierenden Familie. Und Duke? Jedes Jahr besuchte ich ihn im Gefängnis und fuhr nach Arizona. Im ersten Jahr nach seiner Verhaftung stand ich mit einem mulmigen Gefühl am „Visitors"-Eingang. Sheriffs führten die Besucher herein und durchsuchten uns. Taschen leeren und ein Griff zwischen die Beine. Das Standartformular war schlecht kopiert aber lesbar. Ich füllte es aus und platzierte darunter gekonnt meine Unterschrift. Dann wurde Duke in einem blauen Overall an meinen Tisch geführt. Hand- und Fußfesseln klapperten bei jeder Bewegung. Er setzte sich und legte die Hände auf den Tisch. Seine Finger zitterten, das Haupt neigte sich dem Boden entgegen und die Augen verweigerten jeglichen Blickkontakt. Wir sprachen damals nicht viel. Nur solche profanen Dinge wie: Hi, wie geht's – wie ist das Essen – wie lange habt ihr Ausgang...bla, bla, bla. Er sprach außer gut, ja und nein, eigentlich nichts, aber ich wusste, dass er in den Schlund der Hölle gefallen war. 6 Jahre in diesem Loch, von denen er schließlich 5 absaß, da er wegen guter Führung ein Jahr früher entlassen wurde. Als ich ihn das Jahr darauf besuchte, sah er schon besser aus. Sein Bizeps glich sich dem der anderen Häftlinge an und er sprach viel über seine neuen „Freunde". Voriges Jahr hatte ich ihn das letzte Mal besucht. Er redete von seiner Entlassung und von einer Autowerkstatt, in der er arbeiten könnte.
„Duke", sagte ich.
„Das ist gut zu hören. Wenn du wieder draußen bist komme ich dich besuchen. Ich und mein Sohnemann. Falls du irgendetwas brauchst..."
Dann wachte hinten Kevin, mein Sohn, auf und meine Erinnerungen verwandelten sich in Realität – wenn es so etwas überhaupt gibt!
Durch den Rückspiegel sah ich ihn an: Kleine, wunderbare und neugierige Augen beobachteten die vorbeiziehende Welt.
„Papa, wohnt da dein Freund?"
Ein kleiner Finger zeigte aus dem Fenster.
„Gleich da vorne"
Ich parkte den Wagen und nahm meinen Sohn an die Hand. Im dritten Stock angekommen, klingelte ich und wer stand da vor mir: Duke!
„Hi, kommt rein!"
Unsere Hände klatschen einander und die Begrüßung war herzlich.
„Und das muss wohl Kevin sein? Hallo!"
Duke beugte sich hinab und schüttelte meinem Sohn die Hand.
Dann saßen wir in der Küche am Tisch. Duke brachte zwei Tassen Kaffee und ein Glas mit Limonade.
„Und, wie läufts?", warf ich unbeholfen in den Raum.
„Passt...ganz gut. Ich hab einen Job im Einkaufszentrum. Ist zwar nur ein Küchendienst, aber es ist mal ein Anfang"
Ich blickte mich um und in seiner überschaubaren Wohnung brach sich das Morgenlicht auf seltsame Weise. Auf der Küchenzeile lag eine Schachtel Marlboro, ungefähr ein halbes Dutzend leere Bierflaschen und einige benutzte Teller. Vor mir auf dem Tisch stand ein Aschenbecher mit ausgedrückten Joint-Stummeln. Ja, Duke ist noch immer voll bei der Sache. Duke ist eben Duke. Duke ist America! Seine langen Haare hingen christusähnlich von den Schultern und das weiße T-Shirt, verdeckte einen Teil der fast vollständig tätowierten Arme. In seinen Augen hatte das Weiß eine gelbrötliche Farbe angenommen – er sah definitiv nicht gut aus!
„Dein Sohn sieht dir ähnlich", zerbrach er meine niederschmetternde Erkenntnis.
Ich lachte kurz auf und strich Kevin durch das strohblonde Haar.
„Ja, das sagen alle!"
Duke hob die Kaffetasse und trank einen Schluck. Der weiße Tassenrand schmiegte sich um seinen Schnauzbart und Tattos am Hals waberten bedrohlich hin und her.
„Du wohnst wieder in der Gegend?"
Diese Frage hatte er mir doch schon mal gestellt. War es gestern, als ich ihn nach mehreren Versuchen endlich am Handy erreicht hatte? Oder ein Déjà-vu?
„Ja Duke, ja, unten in Nähe von Gainsville. Das bürgerliche Leben hat mich dort verschlungen. Familie, Job und Haus und der ganze Kram was dazugehört"
Ich bemerkte wie meine Hand in Zeitlupe auf den Tisch klopfte.
„Ist doch in Ordnung. Hauptsache du bist glücklich!"
„Ja Duke, das bin ich...und wie ist es mit deinem Glück"
„Ach Chris, wenn du 5 Jahre in dieser Scheiße..."
Mein Sohn lachte laut auf und wiederholte zwei, dreimal „Shit, Shit;..."
Wir lächelten mit ihm und Duke korrigierte sich.
„Wenn du 5 Jahre in diesem Gefängnis warst, dann ist ein Teil von dir hinüber"
Sein Blick glitt hinaus aus dem Fenster. Dorthin, wo die Morgensonne die tanzenden Staubpartikel in der Luft wie auf einer billigen Kleinkunstbühne erleuchtete.
In Dukes „Kopfkino" lief nun ein Film aus dem Knast:
Im ersten Jahr seiner Haftstrafe lauerten ihm drei Latinos beim Freigang auf. Hinter der schweren Eisentür, die zum staubigen Freigelände führte, zerrten sie ihn in den dunkeln Korridor zur Wäscherei. Als er zu Boden ging, war das letzte Bild eine Faust mit den tätowierten Buchstaben H-A-T-E auf den Fingern. Diese vier Buchstaben brannten sich in sein Gedächtnis wie das Brandzeichen in die Haut von Schlachtvieh. Der Schriftzug näherte sich mit unglaublichem Hass und donnerte in Dukes Gesicht. Dann wurde es dunkel vor seinen Augen. Als er wieder erwachte, lag er im Bett der Krankenstation. Zwei Zahnlücken fühlte er mit seiner Zunge und der Schmerz des gebrochenen Nasenbeins zog sich weit bis in den Hinterkopf. Die Nähte der Platzwunden strafften stechend die Haut und blaue Flecken wucherten am ganzen Körper.
Dann hielt er den Horrorfilm wieder an und Worte der Verzweiflung verließen seinen Mund:
„Das war die Hölle! Da wirst du verrückt, Chris...und dann kommst du wieder raus und die Welt ist eine andere geworden. Alles ist dir fremd...sogar deine Heimatstadt. In der Gesellschaft hast du keine Chance mehr. Als „Ex-Knacki" bekommst du wenn überhaupt nur miese Jobs"
Kevin wurde unruhig und zerrte an meinem Unterarm. Während Duke sprach spielte ich mit ihm.
„Ich meine damit, ich habe meine Strafe abgesessen...ist OK, ist OK ...aber dass sie einen Amerikaner, einen amerikanischen Staatsbürger so fallen lassen. Jedem anderen Einwanderer wird das Geld in den A.... geschoben. Aber für mich, amerikanischer Staatsbürger, haben sie keinen Cent übrig. Dieses Land ist sowas von durch..."
Dukes Ansichten haben sich im Gefängnis zweifellos geändert. Er hat sich komplett geändert. Seine tätowierte Amerikaflagge auf dem Unterarm passte zu seinen Ansichten. Dieses nationale Gedankengut musste er sich im Knast wie einen Virus eingefangen haben. Duke pass auf was du sagst!
„Duke, das ist Amerika...das ist unser Land...wir alle sind von irgendwo hierher gezogen. Deine Urgroßmutter, mein Großvater", erwiderte ich ihm.
„Ja, das war das alte Land. Aber jetzt...aber jetzt...ach, du warst ja nicht im Bau"
Dukes Stimme bekam für einen kurzen Moment einen bedrohlichen Tonfall. Dann fing er sich wieder. Er strich sich mit beiden Händen von der Stirn bis in die Bartspitzen und atmete tief aus. Kevin zerrte an meinem Arm. Ich war die Krake, er der Fisch. Sein kindisches Toben übertönte jeden Kummer. Kevins Lachen übertönte jeden Schmerz. Ich ließ meinen Sohn kurz los und beugte mich zu Duke hinüber. Für einen kurzen Moment verweilte meine Hand auf einer aus Muskeln geschmiedeten Schulter. Dann fuhr ich wieder zurück und der Krake versuchte erneut einen Fisch zu fangen.
„Chris...Cheers, ich weiß es ist nur Kaffee!"
Dann stießen wir unsere Tassen aneinander, als hätten wir zwei Budweiser in der Hand. Er sah mich etwas verächtlich an, so als wollte er sagen:
Was willst du Arsch eigentlich, während ich 5 Jahre hinter Gittern saß und mich mit Schwarzen und Latinos bekriegt habe, hast du studiert und einen astreinen Job samt Familie bekommen. Schicksal?
Dann kniff ich die Arschbacken zusammen und sagte ihm:
„Duke, ich habe das getan, weil ich es wollte und du hast dein Ding getan!"
Er nickte nur stumm und blickte an die Wand.
„Da hast du vielleicht recht...ja, da hast du verdammt recht!"
Stille hing wie ein schwarzer Schleier im Zimmer. Nochmals schwang ich meine Tentakel in die Luft, fing meinen Sohn und zog ihn ganz nahe heran. Dann konnte er sich wieder befreien oder besser gesagt, ich ließ ihn wieder los und die Jagd begann erneut.
„Was ist mit der Autowerkstatt? Das war doch dein Plan gewesen?"
„Ach Chris, im Bau reden die Leute verdammt viel Bullshit. Gerade die Gringos"
Ich nickte, ohne ihm recht zu geben.
Kevin inspizierte nun neugierig das Zimmer: Die hässlichen Vorhänge, eine alte Armeetruhe und ein paar Hanteln.
Dann blickte mir Duke scharf in die Augen. Er begann leise, so als wollte er mir ein Geheimnis verraten:
„Ich werde morgen einen Job erledigen. Ein Ding, was wirklich was einbringt. Als Kurierdienst..."
„Drogen?", fuhr ich ihm leise ins Wort.
Er ließ sich für die Antwort verdammt lange Zeit. Er musste nicht Antworten. Ich kannte seine Replik. Anstatt eines „yeah" oder „yes" oder dergleichen nickte er nur.
Als bester Freund hätte ich nun normaler Weise mit einer Moralpredigt beginnen müssen. So in der Art: Hey Duke, was soll dieser „Bullshit"? Was soll das Ding mit den Drogen? Du kommst gerade aus dem Bau und bist wieder voll dabei?
Geht's noch? Waren die fünf Jahre Hölle nicht genug? Wenn sie dich jetzt „busten", gehst du wieder in den Bau – aber diesmal für unbestimmte Zeit.
Aber ich sagte nichts dergleichen. Stattdessen dachte ich über die Sinnlosigkeit jeglicher Strafvollzugsmaßnahmen nach. Die Gesellschaft sperrt Kriminelle weg, in der Hoffnung sie irgendwann wieder „geheilt" in die „gesunde" Welt zu entlassen. Wie soll das funktionieren? Es ist so, als zöge man in den Krieg, um Frieden einzufordern. Als würden die unmenschlichen Haftbedingungen die Insassen läutern. Man sperrt Kriminelle in Löcher, man züchtigt sie mit grausamen Methoden und lässt sie schmoren in einer Hölle aus Angst. Aber wie kann Angst diese Menschen zu liebevolle Lebewesen machen? Angst ist doch das Gegenteil von Liebe!
Es ist auf der ganzen Welt wie in Amerika...and Duke is America!
Das harte und unbeholfene Knacken einer Türklinke ließ mich um 180 Grad herumwirbeln. Kevin?
Die Schlafzimmertür öffnete sich und mein Sohn verschwand hinter der weißen Wand. Ich blickte Duke fragend an. Dann viel die Tür wieder ins Schloss
„Ist in Ordnung, Chris!", er lächelte mich an.
„Dein Sohn geht in dieser Wohnung nicht verloren. In diesen zwei Zimmern gewiss nicht...aber Chris, aber hol ihn doch besser dort raus!"
Eine Art schauriger Zweifel lag in seinen letzten Worten...aber hol ihn doch besser dort raus!
Seine Augen wurden groß und seine Unterlippe klaffte herab. Was meinte Duke damit? ...aber hol ihn doch besser dort raus!
Hatte er Drogen im Schlafzimmer versteckt? Würde mein Sohn gerade seinen Finger in Kokain tunken und genüsslich davon probieren, als sei es Zucker?
„Logo, klar...ich hol den Bengel da raus!"
Ich sprang vom Stuhl auf wie von einer Feder getrieben.
Mein Sohn, dachte ich mir, und dieser Gedanke hatte sich in den letzten 4 Jahren an konditioniert. Meine ganze Aufmerksamkeit galt diesem wunderbaren Wesen. Mein Lebensinhalt hatte sich mit der Geburt meines Sohnes ins Reich der Glückseeligen geleert. Mein bester Gedanke seit es mich gab!
Ich stand auf und eilte in Richtung Schlafzimmer.
Ich öffnete vorsichtig die Tür. Kevin saß am Boden. Sofort donnerte ein Blitz durch meinen Körper. Eine gnadenlose Ohnmacht! Ein eiskalter Schauer ließ mich an Ort und Stelle gefrieren:
Die silbrig, glänzende Pistole!
Kleine Kinderhände hielten sie hoch über den Kopf und der Lauf hing schwer vornüber herab. Ich sah direkt in den dunkeln Lauf – ein dunkles, bodenloses Loch.
„Papa, was ist das?", fragte mein Sohn.
Eine Antwort meinerseits gab es nicht mehr. Der Knall sauste mir um die Ohren...und wir wären wieder am Anfang der Geschichte!



Good-bye America – what a wonderful world!
written by pit albrecht



ZUR GESCHICHTE:
Diese kurze Erzählung entstand, nachdem ich beim Frühstück einen Artikel in der Zeitung gelesen hatte. Die Überschrift: „4 Jähriger erschoss seinen Vater...seine letzten Worte waren: „Papa was ist das?"



(What a wonderful world and Merry Christmas Smith and Wesson)



Wie der Waffenhersteller Smith & Wesson am Donnerstagabend nach US-Börsenschluss verkündete, lag der Umsatz im Berichtszeitraum(nur 1. Jahresquartal!!!) mit 136,0 Mio. US-Dollar um 48 Prozent über dem Vorjahreswert.



Die NRA (Waffenlobby der Staaten) führt einen ihrer größten Kämpfe seit Bestehen gegen strengere Waffengesetze, die Präsident Barack Obama durchsetzen will. Der Appell der Lobby an die Bürger: Kauft Gewehre und Pistolen, solange es noch geht! 



 






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