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Der Blick des Lebens

Text: april_fool

Ich sitze am Bahnhof. Auf einer von diesen harten, unbequemen Bänken, die einen nur verkrampft warten lassen. Meine Ellbogen sind auf meine Knie gestützt und mein Kopf liegt in meinen Händen. Meine Augen sehen gerade aus, sehen Leute gehen, Leute rennen, Mütter, die ihre Kinder hinter sich herziehen, Pärchen-Hand in Hand-, Frauen mit großen Shoppingtüten, lange, große Schritte von Männern in Anzügen und mit Laptoptaschen und meine eigenen Füße in den trostlosen, ausgelatschten Chucks.
In dem Buch, was ich letztens las, ging es um einen Fotografen, der Füße in der S-Bahn fotografierte. Ein riesengroßes Bild, aufgehängt in seinem Wohnzimmer. Lauter fremde Menschen, von denen er nur die Füße sah und ihnen doch in die Seele sehen konnte. Was ihn daran faszinierte, konnte er nicht sagen,
Meine Augen waren müde, meine Lider wurden schwer und ich hatte Angst auf der Stelle einzuschlafen, auf einer harten, unbequemen Bank auf dem Bahnhof. Der Tag war anstrengend gewesen, es war einer von diesen Tagen, die einem die Luft zum Atmen nahmen, die einen irgendwann nur noch erschöpft schnaufen ließen. Doch es war nicht nur der Tag, der mir den Atem raubte, es war das Leben, das grau vor mir lag und mich spöttisch von oben herab ansah. Mit eisblauen Augen, die mir Angst machten und mich verletzten, ohne mich zu berühren.
Ich sah wieder die Menschen vorbeigehen, vorbeirennen, die dem Leben folgten. Sie führten kein Leben, das Leben führte sie.
Doch auf einmal gab es einen Fehler, wie ein flimmerndes Bild im Fernsehen, ein Sprung in einem Glas, so bemerkte ich die nackten Füße, über die eine lange, graue Hose fiel.
Ich starrte diese Füße an, folgte ihnen mit meinem Blick und spürte auf einmal etwas. Ein dumpfes Gefühl, was sich über mein Herz legte und es begrub, wie eine Schneedecke eine Blume.
Ich sprang auf, schnappte nach Luft. Ich rannte, rannte hinter diesen nackten Füßen her, die langsam aber bestimmt immer weiter gingen, ohne stehen zu bleiben. Treppen hoch, Treppen runter , über die Straße, immer weiter. Zeit und Ort rauschten an mir vorbei, es war, wie als könnte ich den Atemzug des Lebens spüren und ich ging trotzdem weiter, ohne Furcht vor dem Ende.
Auf einmal stoppten die Füße, sie blieben einfach stehen. Sie drehten sich um zu mir. "Verfolgst du mich?", sagten sie.
"Nein", stammelte ich, "Ich werde verfolgt..." Ich redete Schwachsinn, Schwachsinn, der aus meinem Herzen sprang und sich vergnügte. "...vom Leben. Und ich folge ihm, ohne es anzusehen und fliehe, ohne mich umzusehen." Blödsinn, vor Lachen kreischend und auf und ab hüpfend, war es, was aus meinem Mund kam. Ich sprach mit einem Paar Füße über mein Leben – Smalltalk für Anfänger.
Einige Augenblicke lang war es ganz ruhig, eine verblüffende Sille. Wo waren die Autos, die Menschen, der Lärm?
"Na, dann reiß dich mal zusammen und sieh ihm in die Augen."
Die Stimme klang tief und geduldig, etwas gelangweilt und ohne Angst und ohne Hast. Sie formte einen Ball aus dem Schnee auf meinem Herzen, um ihn mir mit voller Wucht an den Kopf zu knallen.
Und ich hob meinen Blick und sah in zwei blitzende, eisblaue Augen. 

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