Süddeutsche Zeitung

Unsere Kernprodukte

Im Fokus

Partnerangebote

Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?

Anzeige inserieren

Möchten Sie unsere Texte nach­drucken, ver­vielfältigen oder öffent­lich zugänglich machen?

Nutzungsrechte erwerben
Aus der ehemaligen jetzt-Community: Du liest einen Nutzertext aus unserem Archiv.

Von den Geistern/ von Schwabing.

Text: misinform_the_uninformed
Also, sagte Serhij unter teurem Gewölbe,
zwischen den weiß beschürzten Kellnerinnen,
er sei zwar
einige Male hier gewesen, aber
die Geister dieser Stadt habe er nicht gesprochen
und drehte kurz ratlos am Weißbierglas auf der weißen Tischdecke.

Drüben in den morastigen Feldern des Donbass grüße er die Ahnen am Fluss, und die Selbstmörder in den Treppenhäusern
aber hier nun sehe er nur Äußerlichkeiten.
Man müsse
von hier kommen um sie zu verstehen?


Ich hätte überlegen müssen
und forschte erst später:
Wo die Selbstmörder hier abblieben?
Wahrscheinlich
schlichen sie auch hier durch die Treppenhäuser. Bis die aufmerksamen Hauswirtinnen oder, nun, die müden Putztrupps ihre Schuhabdrücke auf den Stufen fanden und dienstbeflissen wienerten, dass die dunklen Fliesen glänzten und neue Schichten immergleichen Materials freigaben. Und wenn dann die Geister mit den bleichen Gesichtern nachts wieder herauskamen, um mit glimmenden Zigarettenstummeln ins kalte Licht der letzten Neonlaternen zu blicken und aus zweitem Stock den Stand der Limousinen auf den Parkplätzen zu prüfen, kamen sie mit kalten Füßen ins Rutschen,
brachen sich auf Absätzen mit den struppigen Fußabstreifern das Genick. Wunderten sich, packten verwirrt ihren kühlen Skalp unter den Arm, den Haaransatz kratzend, und verschwanden dorthin, wo man enthauptete Geistern wärmer grüßt:
Öffneten die blank polierten Haustüren aus den 60er-Jahren mit den rilligen schwarzen Plastikknaufen und stiegen langsam tiefer hinab in den Bürgersteig aus Münchner Platte – 35 mal 35 Zentimeter, immer – wie die Wasserleichen an der Mecklenburger Platte in den See. Kamen in einem vorigen Jahrhundert an; früher war hier der Hauptbahnhof der Galgenhügel. Alles was blieb, ist eine fast verrauchte Kippe, wie vom letzten Rausch, mit spitzen Fingern aufgepickt. Für das convenient home living.

Dort, Serhij, sind unsere Geister hin. Wenn du lauschst, hörst du sie unter den Gleisen träumen.
Oder aber, mit ein bisschen Glück, begegnet dir vielleicht noch ein fluchender Arbeiter unter der Tribüne des Grünwalder Stadions, der seine Stimme in das heisere „Müüün-hen!“ der 60er-Fans mischt, der ausspuckt und an seinen Röhrenfernseher denkt, der vergessen hat, von was er träumte, außer einem Bier aus bauchiger Flasche. Oder, vielleicht, war das auch alles. Wer will schon von Freiheit träumen, wenn sie (einem) schon längst verkauft wurde.
Die Geister haben es nicht leicht mit uns, hier im Süden. Und wir nicht mit ihnen. Müssen im Herbstwind die Ohren an den letzten rissigen Putz legen um so etwas wie ein Wispern zu hören,
den Rest
ausdenken.
Wir bräuchten ein wenig Morast. Aber unter der Ebene liegt nur Schotter. Und von den Fenstersimsen der Giesinger Neubauten tropft schon der Novemberregen für die nächsten 50 Jahre.

Mehr lesen — Aktuelles aus der jetzt-Redaktion: