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Die Hecke

Text: goleri

Als ich klein war, schlich ich mich nachts oft in das Bett meines großen Bruders. Ich hatte dann keine Alpträume. Zudem gab es nichts Schöneres als neben meinem Bruder aufzuwachen und ihn von meinen Träumen zu erzählen. Und wenn ich gleich neben ihm aufgewacht bin, konnte ich ihm direkt davon erzählen und hatte nicht die Möglichkeit sie gleich wieder zu vergessen. Anfangs hat es ihn genervt, wenn ich ihn, immer gleich nachdem ich aufgewacht bin, ebenfalls aufgeweckt habe. Schließlich hatte er aber seinen Spaß daran und auch er erzählte mir von seinen Träumen. Am Frühstückstisch und auf dem Schulweg stritten wir dann immer darüber, wer den lustigeren oder skurrileren Traum gehabt hat. 



Mein Bruder war immer etwas anders. Und so hatte er wenig Freunde. Eines Tages kam er mit einer Menge Zweigen und Ästen von der Schule nach Hause. Er sagte, er fände es so schön, wie sie sich anfühlten. Sie finden das jetzt bestimmt ein bisschen merkwürdig. Mir ging es ähnlich. Ich bin auch eher der Bettdecken-Typ. Nicht aber mein Bruder. Auch sammelte er das Gestrüpp nicht etwa oder zündelte damit in unserem Garten. Nein, mein Bruder steckte es sich an den Körper. Zunächst nur vereinzelt, z.B. am Handgelenk mit einem aus Zweigen gebastelten Armreif. In der Folgezeit aber immer mehr. Bis er praktisch ganz davon bedeckt war. Schließlich sah er aus wie eine wandelnde Hecke, eine „Wanderhecke“ sozusagen.



In der Schule haben sie über meinen Bruder gelästert. Und nicht nur hinter seinem Rücken. Sie haben Sachen gesagt wie „Das ist ja wohl der allerletzte Scheiss“. Modedesigner hätten vielleicht gesagt „Das ist ja wohl der allerletzte Schrei“. Aber wahrscheinlich eher nicht. Keine Ahnung. Ich verstehe nichts von Mode. Das Merkwürdige war, dass es unsere Eltern kaum zu interessieren schien. Nur meine Mutter fragte mich ab und zu, ob denn mit meinem Bruder alles gut sei. Mein Vater hingegen hielt sich vollkommen raus.



In den folgenden Wochen und Monaten zog er sich dann immer mehr zurück und sprach mit niemandem ein Wort. Zudem verließ er immer seltener unsere Wohnung. Ab und an verließ er sie lediglich, um neue Zweige und Äste zu holen. Da er sein „Hecken-Gewand“ irgendwann selbst zum Schlafengehen nicht mehr ablegte, konnte ich mich auch nachts nicht mehr zu ihm ins Bett legen. Über unsere Träume sprachen wir folglich morgens auch nicht mehr. Selbst die Probleme, die sich durch das Anstecken des Gestrüpps am ganzen Körper ergaben, schreckten meinen Bruder nicht ab. Und das obwohl ihm die einfachsten Sachen Schwierigkeiten bereiteten. Z.B. sich die Schnürsenkel zuzubinden oder nach einer Kaffeetasse zu greifen, ohne dass sie vorher umfällt. Im Laufe der Zeit sind so einige Kaffeetassen kaputtgegangen, Bilder von der Wand gefallen und Kronleuchter von der Decke gekommen. Das kann ich Ihnen versichern.



Von seinen seltenen Ausflügen ins Freie brachte er schließlich immer mehr Äste und Zweige mit nach Hause. Irgendwann schien ihm auch das nicht mehr zu reichen, und er fuhr extra in ein nahe gelegenes Waldgebiet, um „Nachschub“ zu holen, wie er es ausdrückte. Schließlich war der Zeitpunkt erreicht, dass auch unsere Eltern nicht mehr drumherum kamen, meinen Bruder auf seine eigenartigen Vorlieben anzusprechen. Auf die Frage unserer Mutter, wo das noch alles hinführen solle, antwortete er jedoch nicht. Stattdessen ließ er lieber Taten für sich sprechen. Irgendwann war unsere ganze Wohnung voll mit dem Zeugs.



Dann hörte er zur großen Verwunderung aller von einem Tag auf den anderen einfach damit auf, Gestrüpp zu sammeln und sich damit einzudecken. Und welchen Zweck das alles hatte, „weiss nur der liebe Gott“, behauptete zumindest meine Großmutter.



Ich nehme an, er hatte einfach genügend Material für seine Kollektionen.



 



Eine Hecke (von althochdeutsch: hegga = hegen, einhegen, umzäunen, ae. hecg, engl. hedge, frz. haie, nndl. heg, all diesen Begriffen ist derselbe Wortstamm „hag“ zu eigen) ist ein linienförmiger Aufwuchs (ein- oder mehrreihig) dicht stehender, stark verzweigter Sträucher. Die Silbe heck bedeutet beschützen, behüten, Hecke und beschreibt die Abgrenzung eines Ortes im Allgemeinen oder durch eine Heckenumpflanzung im Speziellen.

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