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Reise

Text: Antigone_66

Ein Mensch ging vor einiger Zeit über eine Wiese.

Sein traurig trüber Blick fiel auf eine Stelle im Gras, die einem großen Fußabdruck glich. Das menschliche Herz erregte sich, es glaubte an die Hoffnung, an die Menschen. Doch jäh erzürnte sich sein ganzer Körper ob derartig unsinniger und schmerzhafter Gedanken. Alsbald zeigte sich denn auch, dass die Mulde im Gras kein Abdruck eines menschlichen oder gar göttlichen Fußes, sondern nur ein Fehler in der Erdbeschaffenheit dort war.
Die Beine des Menschen wurden noch schwerer, jeder Schritt eine Qual, seine Haltung war gebeugt und seltsam in sich gekrümmt. Er war hässlich anzusehen dieser Mensch, sein Körper war fast unmenschlich deformiert und alt, die Kleidung schmutzig und zerlumpt. Der Mensch war müde, so unendlich müde und erschöpft vom langen Gehen und vor Hunger. Er war durstig, sein Kopf schmerzte und er wollte schlafen, nur noch schlafen, ein wenig ausruhen, für eine kurze Zeit.
Der Körper legte sich hin, er beugte sich hinunter zur Erde, genau an diesem Fleck, der trügerische Hoffung gewesen war, in diese Mulde im Gras, an diese fehlerhaft bewachsenen Stelle und rollte sich zusammen, zum Schutz vor Kälte, vor Schmerzen, Kummer und Müdigkeit.
Es fing an zu regnen, erst ganz zart, dann immer heftiger. Dicke Wassertropfen platschten dicht gedrängt auf die Erde, auf das Gras und die Mulde dort. Der Regen begann die Erde aufzuweichen, sie in Schlamm und Sumpf zu verwandeln. Das Gesicht des Körpers war schon zur Hälfte im modrigen, angestauten Wasser eingesunken. Nase und Mund waren fast völlig bedeckt.
Er bewegte sich nicht, der Körper, schlief er denn? Es hörte nicht auf zu regnen und das schmutzige Wasser stieg stetig an. Der verkrümmte Körper rührte sich nicht.
Nach kurzer Zeit erhob sich der Mensch, leichter als er niedergesunken war und eilte hinüber zur anderen Seite der Wiese, hin zu einem kleinen Birkenhain. Während sein Körper fror, ergötzten sich seine Sinne an den wunderschönen herbstbunten Blättern der hochragenden Bäume, an dem wunderbaren Blick hinauf in deren Kronen und das darüber leuchtende Blau des Himmels.
Der Mensch erhob sich langsam vom Fuße einer der Birken und bewegte sich am Stamm entlang nach oben, an den Ästen und am Blattwerk vorbei, weiter hinauf, hinauf zur Spitze dieses wunderschönen, im Wind sich leicht wiegenden, raschelnden und vertraut säuselnden Gewächses. Wie leicht und frei, wie offen und schön. Immer näher zur Spitze des Baumes hinauf, höher. Die Sonne leuchtete hell und war so nahe. Jetzt war er schon fast über die Baumkrone hinaus gelangt. Es zog ihn weiter hinauf, näher ins Helle, weiter ins Himmelblaue, doch er zögerte noch ein wenig. Er blickte um sich und hinunter auf die Wiese.
Es hatte aufgehört zu regnen. Die Sonne schien nun glitzernd über die nasse Landschaft. Da unten bewegt sich etwas, ein paar kleine schwarze Punkte, wie Käfer so winzig von hier oben. Der Mensch konnte wohl erkennen, was da unten vor sich ging. Er wurde wohlig müde in den wärmenden Sonnenstrahlen und wiegte sich im lauen, leichten Wind, der ihn lockend begrüßte.
Einige Männer waren gekommen, es werden wohl Bauern oder Feldarbeiter gewesen sein. Sie trugen etwas und wateten dicht zusammengedrängt durch das sumpfige Gras. Die Last musste schwer sein, denn sie hielten immer wieder an, einer bückte sich ab und an ein wenig, als ob er einen geeigneteren Griff zum Tragen finden müsste oder das Gewicht besser verteilen wollte. Sie gingen in Richtung des kleinen Dorfes am Wiesenrand.
"Was machen wir damit?", fragte einer der Männer, während sich die kleine Gruppe schleppend weiterbewegte. Ein anderer stöhnte unter dem Gewicht: "Liegen lassen können wir es ja nicht. Stell Dir vor, die Kinder spielen da, das ist ja nicht auszudenken."
"Kennt ihr ihn?" fragte nach einer kleinen Pause ein anderer. "Ist das ein Mann oder eine Frau?" Der Mann, der sich immer wieder etwas bücken musste, antwortete: "Nie gesehen. Wird ein Fremder gewesen sein, ein Streuner, ein Vagabund. So wie der hier aussieht, ganz zerlumpt und entstellt. Da könnte es einem ja grausen." Er schüttelte den Kopf ein wenig hin und her, wie Leute es zu tun pflegen, die sich schaudern.
"Ja, wird ein Wanderer gewesen sein", sagte der Mann, der die Frage gestellt hatte, "oder eine Wanderin. Schlimme Sache!" und verzog sein Gesicht.

Ein welkes, herbstliches Blatt hatte sich von der hohen Birke gelöst und schaukelte in der leichten Brise ganz langsam zu Boden.

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