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Weltkarte.

Text: wallaby

Ich hätte eigentlich schon längst losfahren sollen. Trotzdem stehe ich wie so oft schon in der winzigen Küche und kann meine Augen nicht von der riesigen Weltkarte lösen, die du hier aufgehängt hast.

Es ist eine dieser weicheren, bunten Karten, die die Länder als farbenfrohe Splitter aneinanderreiht und einem nicht das Gefühl gibt, irgendwo könnten Zerstörung und Leid herrschen. Die Karte wirkt wie das Spielbrett eines an einem vielversprechenden Familienspieleabend ausgepackten Brettspiels, eines jener Sorte, die einem Verantwortung und Gestaltungsmöglichkeiten übertragen, von denen wir im Alltag meist weit entfernt sind. Man fühlt sich wie der Wächter eines großen, komplexen Kosmos, den nur man selbst zu überlicken vermag.

Jedes Land erscheint mir beim Betrachten ganz natürlich in seine Umgebung gebettet worden zu sein, obwohl ich weiß, dass wir Menschen diese Grenzen gezogen haben und weiter ziehen. Ich probiere diese Konturen der Kontinente ohne die Unterteilung in Länder vorzustellen, aber es ist schwer möglich; zu verflochten ist das Selbstverständnis dieser Aufteilung unseres Planeten in meinem Kopf. Merkwürdig, sich selbst zu beobachten, wie sich hinter jedem Namen eine mehr oder weniger konkrete Vorstellung davon verbirgt, wie das Leben und die Menschen dort wohl sind, oder die Wunschvorstellung, wie es dort sein möge. Je länger ich hier stehen bleibe, desto weiter fliegen die Gedanken.

Der prägenste Moment beim Reisen ist für mich der Moment der wirklichen Ankunft. Nicht das Abgeworfen-werden durch ein Flugzeug an einem der zahlreichen Flughäfen, die sich auf aller Welt gleichen und uns vielleicht gerade deshalb das Gefühl von Sicherheit geben, das wir beim Reisen verlieren. Wir werden einer neuen Welt ausgeliefert, aber die Flughäfen fangen uns zunächst auf. Hier spricht bestimmt jemand eine Sprache, die ich auch kann. Hier gibt es Shops mit derselben Art von duftenden Parfümwolken wie sie im Einkaufszentrum zu Hause zu durchqueren sind. Hier spiegelt sich der lifestyle eines flexiblen Weltbürgers, der keinen Anker zu werfen braucht. Hier ist alles modern und sauber. Hier scheinen mir tausend Wege offen zu stehen, selbst wenn mein Ticket mir präzise vorgibt, wann ich wo zu sein habe um zu einem konkreten Ort x zu reisen. Nein, ich spreche von der Wahrnehmung, nachdem man diese merkwürdige Zwischenwelt der Flugzeuge und Wartehallen hinter sich gelassen hat, sich nicht mehr darauf fixieren muss, welchem Weg man als nächstes zu folgen hat, um pünktlich anzukommen; vom Moment, an dem man spürt, dass es nicht mehr um das große "WEITER" geht, sondern ums DA sein, da bleiben, mit beiden Füßen, im Hier und Jetzt.

Ich wandere mit meinen Fingern die Linien entlang und probiere mir vorzustellen, wie es wäre, in diesem Augenblick irgendwo anzukommen. Die Augen schließen. Ich hole meinen Koffer vom Band. Durch die elektronische Schiebetür vorbei an den wartenden Menschen, die Schilder mit fremden Namen hochhalten und mir ihre Blicke zuwerfen, die von Ungeduld und Neugier zugleich sprechen. Ich bin heute nicht die Person, auf die sie warten. Schnell wenden sie ihre Blicke ab. Und ich kann einen Schritt weiter gehen, meine Füße nach draußen setzen, in die Luft, die mir warm und drückend entgegenschlägt. Oder so kalt ist, dass die winzigen Häarchen an meinen Unterarmen sich aufstellen. Vielleicht riecht es nach Benzin oder nach McDonalds, vielleicht zirpen Grillen oder das ferne Tuten des Stadtverkehrs begrüßt uns wie einen alten Freund. Und obwohl unsere Augen nach vertrauten Punkten suchen umschließt uns: Das wohlige Gefühl der Fremde, die uns wieder zu einem unbeschriebenen Blatt macht. Uns das Gefühl gibt, das Leben für einen Moment fester halten zu können. Das Gesamte, abseits von unseren kleinen Punkten auf der Weltkarte, die wir zu Hause nennen, wahrzunehmen. Und wieder gestalten zu können, wie in einem Spiel, in dem wir als Gewinner hervorgehen könnten.

Vor einer bunten Weltkarte stehe ich in dieser engen Küche wie amputiert, wie defekt. Viel zu klein erscheint mir dieser winzige rote Punkt der symbolisch dort steht für die Häuserschluchten, Verkehrsknotenpunkte, Brücken, Winkel und Monumente meiner Stadt, an der ich mich verbrauche, an die ich nur noch wenige Erwartungen stelle, seit ich hier spiele. Ich kenne die Realität. Dem Schild Richtung Flughafen folge ich nicht. Irgendwo auf dieser Weltkarte bin ich. Unter Milliarden anderen, die in einer kleinen Küche oder sonst wo vor einer Weltkarte stehen und sich diese Frage stellen, ob es nicht anderswo leichter sein könnte, sich am Leben zu fühlen, eine neue Chance gäbe, um wieder anders zu atmen, anders zu sehen, zu hören. Die Uhr tickt unaufhörlich, die Zeit prallt an mir ab. Ich wäre frei zu gehen, aber fühle mich gefangen. Noch eine Sekunde länger möchte ich auf die bunten Umrisse schauen und einfach diese Sehnsucht nicht loslassen müssen, das Gefühl, dass irgendwo etwas auf mich warten könnte.

Doch auch ich ahne, dass ich mich selbst belüge. Ich wende mich ab und schließe das Fenster. Es zieht von draußen rein.

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