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Nudelsalat.

Text: TextTrulla

500 Gramm Spiralnudeln kochen, kalt abspülen, beiseite stellen. Ein Glas Mayonnaise und einen Schuss Saure-Gurken-Wasser mischen, mit Salz und Pfeffer abschmecken. Ein Paket Schweinebratenaufschnitt, 15 saure Gurken und einen halben Apfel klein schneiden. In die Soße geben. Alles mit den Nudeln vermengen, ziehen lassen.



Wedding. Freitagabend. Ringbahn. Auf dem Schoß eine große Schüssel Nudelsalat. Sie ist kalt, war bis eben im Kühlschrank. Tau läuft über meine nackten Beine, die Innenschenkel hinab auf den Sitz. Ich hab mich schick gemacht. Mich aufgehübscht. Frisiert. Geschminkt. Den kurzen Rock, das neue Oberteil, die hohen Schuhe angezogen. Eine Jacke braucht man heute Nacht nicht, sagt wetter.com. Mama wäre sicher anderer Meinung.



Gesundbrunnen. Im Fenster kann ich sehen, dass ich schön bin. Oder schön aussehe. Den Unterschied kenne nur ich. Ein bisschen Lächeln. Das darf man nicht vergessen, wegen der Ausstrahlung, sagt Mama. Viele denken da nicht dran. Denken an ganz was anders, ans Essen, ans Wetter, an Sex, Geld, Arbeit, Liebe oder wann der Bus kommt. Ob er kommt. Oft kommt er ja nicht. Aber was soll man machen. Da kann man nix machen.



Schönhauser Allee. „Entschuldigen Sie bitte die kurze Störung, ich bin einer von vielen....“ Ja, ja. Ich auch. Sind wir alle, irgendwie, gewissermaßen. Wenigstens singt er nicht. Ich finde gut, wenn sie nicht singen. Und nicht stinken. Drei Zehner, einen zwanziger, hab ich noch in der Tasche, geb ich ihm. Cent, versteht sich. Hab doch selbst kaum was. „Danke, schönen Abend noch.“ Ja, das wär was.



Prenzlauer Allee. Gegenüber ein Typ, so alt wie ich, Kopfhörer. Er nickt mit dem Kopf, starrt aus dem Fenster oder spiegelt sich, kann man nicht so genau sagen. Seine Musik ist laut, ich kann sie hören, irgendein Rap, war doch klar. Sieht man doch schon an der Mütze. Er hat den Rucksack auf dem Schoß und wenn die S-Bahn bremst, schlagen die Flaschen darin gegeneinander. Ich starre ihn an, er merkt nichts, bemerkt mich nicht.



Greifswalder Straße. Fünf Mädchen, vier Sitze, eins auf dem Schoß ihrer Freundin. Macht nichts, alle haben sich lieb. Lachen, Kopf in den Nacken, Haare hinter die Schulter. Fotos. Ich zupfe an meiner Nagelhaut, drehe sie ein, ziehe, bis sie ab ist. Es blutet. Kein Taschentuch. Ich stille die Wunde mit meiner Zunge, es dauert lange. Das offene Fleisch ist rot, der Finger pocht. Die Mädchen steigen aus.



Landsberger Allee. Ich hab in die Hose gemacht, Mama zieht sie mir runter, zieht sie aus, stellt mich in die Badewanne, spült mich ab. Eiskaltes Wasser. Seltsam, woran man manchmal denkt, ganz plötzlich. Vielleicht, weil es hier nach Pisse stinkt. Bestimmt der Typ da drüben. Der kann ja kaum noch stehen. Der Nudelsalat ist Luftdicht verschlossen, zum Glück. Was da sonst alles reinziehen würde, ekelhaft. Könnte keiner mehr essen. Kann man keinem mehr anbieten. Müsste man alles wegschmeißen. Wär doch schade drum. Wirklich schade.



Storkower Straße. Jemand hat das Fenster geöffnet. Ich hab’s nicht mitgekriegt, aber jetzt zieht es. Ich hab doch keine Jacke an. Ich kann es nicht zu machen, ich hab den Nudelsalat. Und ich hab Angst. Wenn ich aufstehe, dann gucken alle. Wenn ich es zumache, dann knallt es und dann gucken alle. Sie sollen nicht alle so gucken. Ich friere. Feine Härchen auf pickliger Haut. Keiner sieht mich an. Keiner sieht, dass ich friere.



Frankfurter Allee. Aussteigen, einsteigen, Plätze suchen. Peng. Das Fenster ist wieder zu. Ein Mann in Anzug, ohne zu fragen, einmal aufgestanden, wieder hingesetzt, fertig. So kann’s gehen. So einfach. Ich schlage die Beine übereinander. Die Schüssel verrutscht ein Stück, aber ich halte sie fest, halte mich fest. Der Mann schaut in sein Smartphone, informiert sich über die Welt, nicht, weil sie ihn interessiert, nur, damit er mitreden kann. Mitreden ist wichtig, reden ist wichtig. Wer nicht redet, gehört nicht dazu. Wer nicht dazu gehört, ist nicht da.



Ostkreuz. „Wir wollen heute nicht mit dir spielen.“ Manche Sätze vergisst man nicht. Da kann man nix machen, das hat man nicht zu entscheiden. Das ist irgendwie automatisch geregelt, von oben, vom Kopf, da kann man nix machen, wie gesagt. „Wir wollen heute nicht mit dir spielen." Kindersprache, Kinderspiel, lange her, egal. Nur, dass man sich manchmal erinnert und fragt, ob das damals angefangen hat oder schon früher, ob der Satz schuld war oder man selbst. Ich selbst.



Treptower Park. Das Rezept für den Nudelsalat ist von Mama. Die hat den immer so gemacht, genau so. So einfach, so lecker. Die Anderen mochten Kartoffelsalat, ich mochte Nudelsalat. An Neujahr, die Reste. Direkt aus der Schüssel, vorm Fernseher. Auf Klassenfeiern, wenn der Gang zum Buffet Ablenkung war, vom Alleinstehen, Alleinsein. Füllt den Magen, füllt das Herz.



Sonnenallee. „Nossa, nossa, a sing de sent do mata. Ei serscho prego, ei, ei, serscho prego“. Jetzt singt doch einer. Nein, drei und ein CD-Player. Und Rasseln. Halbe Strecke, dann abkassieren. Ich schaue aus dem Fenster, habe nichts gehört, nichts gesehen. Danke, aber nein Danke. Die können ja auch nichts dafür. Niemand sucht sich das aus, das weiß man ja, aber ich mag es trotzdem nicht. Es ist zu laut, es kommt zu plötzlich. Ein bisschen Geld kriegen sie trotzdem, immer, von irgendwem. Weil jemand nicht schnell genug weggeschaut hat, weil jemand nicht nein sagen kann, weil jemand Mitleid hat.



Neukölln. Man merkt die Kurven gar nicht. Es ist ein Ring, aber man merkt die Kurven gar nicht. Ich jedenfalls nicht. Vielleicht, weil ich nicht gut genug aufpasse. Hab ich nie. In der Schule auch nicht, da ging’s nicht, wirklich nicht. Ich hatte immer den Mantel an. Weil, wenn man aufstehen muss und an die Tafel, darf niemand den dicken Hintern sehen. Man musste fast nie aufstehen. Aber wenn. Dann hatte ich den Mantel an. Sommer oder Winter. Ich hatte den Mantel an.



Hermannstraße. Das lila Sweatshirt mit dem großen, neongelben „Fila“ Schriftzug, quer über der Brust. Ein Geschenk von Papa aus dem Türkeiurlaub. Da war er mit ihr und den Kindern. Ohne uns, ohne mich, nächstes Mal. Nächstes Mal war kein Geld da, sei nicht böse. War ich nicht, war ich nie. Aber dass Herr Stolte mich „Fila“ gerufen hat, vor allen und alle haben gelacht, wirklich alle, und ich bin rot geworden, das war schon doof, irgendwie.



Tempelhof. Die alte Frau und ihr Pudel passen hier nicht rein. Also schon, vom Platz her geht’s, aber warum sind die so spät unterwegs? Wo kommen die denn her? Vielleicht ist es ja irgendwann egal, wie spät es ist, ich meine wenn man alt ist. Dann ist ja eh vieles egal und dann kann man auch mal nachts mit seinem Pudel S-Bahn fahren, das wundert keinen, außer mich und das ist ja auch schon wieder egal. Ich wäre gerne alt.



Papestraße. Unten ist der Nudelsalat schon warm. Den muss man noch mal gut umrühren. Dann verteilen sich die Wärme und die Kälte, die mischen sich dann und dann schmeckt er wieder wie immer. Dann schmeckt er so, wie ihn alle mögen, die ihn kennen. Manche Menschen essen ja kein Fleisch, die können dann nichts davon nehmen. Oder sie sammeln den Schweinebraten raus, das ginge, ja, aber schade wär’s. Wirklich schade.



Schöneberg. Brühe, immer nur Brühe, morgens ein Knäckebrot, das reicht, musste reichen. Und wenn doch mal was dazwischen kam, zwischen die Zähne, was da nicht hingehörte, dann einfach einen Löffel Salz, der macht alles rückgängig, dann ist alles gar nicht so schlimm, kann doch mal passieren. Aber das war nur so ne Phase, das war schnell vorbei, ein paar Monate, ein Jahr vielleicht, hat doch jedes Mädchen mal. Für echte Magersucht hat’s nicht gereicht, muss ja auch nicht sein, weiß man doch, dass das nicht gut ist.



Innsbrucker Platz. Betrunkene. Lautes Gegröle. Rumgeturne an den Stangen. Nicht hinschauen. Aber auch nicht zu doll weg, sonst merken sie, dass man Angst hat und dann machen sie sich lustig, sprechen dich an und wenn du nicht antwortest, dann lachen sie noch mehr. Alles schon gehabt. Einfach geradeaus gucken. Auf die Uhr. Den Nudelsalat.



Bundesplatz. Wenn man im Krankenhaus liegt, machen sich alle Sorgen um einen. Und alle kommen einen besuchen und bringen Geschenke mit und man muss nicht zur Schule gehen. Ich lag nie im Krankenhaus. Hab’s nicht geschafft. Immer nur Prellungen, Schürfwunden, heile-heile Segen, drei Tage Regen, drei Tage Sonnenschein, wenn du heiratest, wird alles schon vergessen sein. Wenn.



Heidelberger Platz. Was für manche Leute ganz einfach ist, ist für andere das Schwierigste überhaupt. Reden jetzt mal so zum Beispiel. Viele Leute machen das ja einfach. So, als wäre es das gleiche wie atmen. Die reden einfach, als wären sie gefragt worden und es ist ihnen gar nicht so sehr wichtig, wie die Andern das finden, was sie sagen. Die machen das einfach. Kann ich nicht verstehen. Ist mir unerklärlich, wie man das macht. Einfach den Mund aufmachen und reden, oder was? Aber was? Was denn bloß?



Hohenzollerndamm. Wenn es dunkel ist, kann man fast gar nicht raus sehen. Man sieht immer nur sich selbst, wie man versucht rauszusehen. Außer an der Haltestelle, da geht’s. Da kann man gucken, wie die Leute stehen und warten und einsteigen und aussteigen, nachhause fahren, irgendwohin fahren, zu Freunden, wahrscheinlich. Viele Menschen haben ja Freunde, das ist ganz normal, das ist ganz natürlich, das passiert von alleine. Man lernt sich kennen, redet, freundet sich an. Ganz einfach. Jeder hat Freunde.



Halensee. Der Finger blutet wieder. Ich muss da wieder dran gezupft haben, hab’s nicht gemerkt, war in Gedanken, passiert. Passiert oft. Sieht nicht schön aus. Gar nicht schön. Wenn Mama das wüsste.



Westkreuz. Rote Lampen, Warnsignal. Zurück bleiben, bitte. Wenn man nicht zurückbleibt, kann man stecken bleiben, mit der Tasche oder dem Ärmel, hab ich alles schon gesehen. Man sollte dann lieber warten, auf die nächste Bahn. Aber viele warten nicht gerne, sind das nicht gewohnt und die schummeln sich dann immer noch irgendwie rein und fahren doch noch mit und kommen dann eher an, als die, die warten. Ich warte immer.



Messe Nord/ICC. Ich glaub Papa hat den Nudelsalat von Mama nicht so gern gemocht Generell mag der ja keine Fertigprodukte und die Mayonnaise kommt ja aus dem Glas. Aber wie macht man Mayonnaise selber? Mit Ei glaub ich. Und noch? Keine Ahnung. Weiß Papa vielleicht. Oder auch nicht. Heute isst der auch manchmal Tütensuppen, aber nur, weil sie billig sind und schnell gehen, das kann man schon verstehen. Aber Maggi-Fix kommt ihm nicht ins Haus. Da hungert er lieber.



Westend. Der Typ riecht nach Alkohol und sitzt ein bisschen dicht. Er kratzt an seinem Knie und streicht dabei über meines. Ob aus Versehen oder mit Absicht, kann ich nicht sagen. Da kann man nix sagen. Was soll man da sagen? Hören sie auf, sich zu kratzen? Das kann man nicht machen. Dann gucken alle. Mein Rock ist zu kurz, da muss ich mich nicht wundern, um diese Uhrzeit. Der steigt bestimmt gleich wieder aus. Hoffentlich.



Jungfernheide. Er steht auf, schwankt, hält sich an meiner Schulter fest. Seine Finger streifen leicht meine Brust. Er lächelt, schwankt raus. Ich atme wieder. Frische Luft kommt durch die Tür, zieht kalt um meine Beine. Ich werde müde. Mama hat immer mit uns gebetet. Erst eine Geschichte, dann ein Lied, dann gebetet und dann einen Gute-Nacht-Kuss. Jeden Abend. Das muss man ihr lassen.



Beusselstraße. Ich lehne meinen Kopf ans Fenster. Ich hab vorher geguckt, ob Fettflecken dran sind. Manchmal sind ja runde Flecken von den fettigen Haaren anderer Leute an den Fenstern, das ist immer so eklig, da wird mir schlecht von. Aber hier ist nichts, darum kann ich mich anlehnen und das tut gut, sich irgendwo anlehnen, dann muss man den vollen Kopf nicht immer selber halten.



Westhafen. Die Augen zu, nur kurz, muss ja gleich raus. Die Leute sind entweder hellwach oder so müde wie ich, dazwischen gibt es nichts. Ein Mann schläft, schnarcht, verschluckt sich, wacht auf. Man muss immer aufpassen, dass man die Haltestelle nicht verpasst. Sonst muss man wieder zurück fahren. Oder noch mal ganz rum, wenn man’s nicht früh genug merkt. Das ist mir schon mal passiert. Da war der ganze Nudelsalat warm danach, da hat auch umrühren nix mehr gebracht. Wirklich schade.



Wedding. Ich steh erst auf, wenn die Bahn hält, sonst ist das mit den hohen Schuhen zu wackelig. Dann fällt man um und dann gucken natürlich alle, klar, würd ich auch machen. Der Rock ist ein bisschen hoch gerutscht, aber ich kann ihn nicht runter ziehen, ich hab doch den Nudelsalat. Den muss man noch mal umrühren, aber dann schmeckt er wirklich gut. Der reicht für alle, würde reichen, und morgen kann ich noch die Reste essen, direkt aus der Schüssel, vorm Fernseher.



 



 



 

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