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In der ersten Klasse hatte ich ein grünes Heft, das war mein Lieblingsheft. Jedes Mal, wenn wir einen neuen Buchstaben lernten, bekamen wir die gleiche Aufgabe: Wir sollten Dinge malen, die mit diesem crazy neuen Buchstaben beginnen. Als wir das A lernten, malte mein Mitschüler Toni Enten. Bei ihm zu Hause in unserem oberbayerischen Kaff sprach man „Enten“ eben so aus: „Antn“. Er war völlig fassungslos, dass er etwas Falsches gemalt hatte, und den Tränen nahe. Dieser Vorfall hat mich damals so gerührt, dass ich ihn heute noch bildlich vor Augen habe. Das dazu passende grüne Heft liegt in einem Karton auf dem Speicher meiner Eltern. Es musste unbedingt aufgehoben werden! Die Antn!

Ich habe es seit 24 Jahren nicht mehr angefasst, meine Mutter dafür umso öfter. Regelmäßig fragte sie nach meinem Auszug: „Du sag mal, ich hab da auf dem Speicher dies und das gefunden. Kann das eigentlich weg?“ Immer verneinte ich, obwohl völlig klar war, dass ich weder das Barbie-Campingmobil brauchte noch jemals diese quietschgelbe Schlagjeans wieder anziehen würde. Ziemlich wahrscheinlich würde ich auch nie mehr meine ganzen Abi-Lernunterlagen brauchen. Sicher war ich mir da aber nicht. Man weiß ja nie! Vielleicht würde ich mich irgendwann in der Uni darüber freuen. Man hat ja direkt nach der Schule keine Ahnung, wie lächerlich einem schon im ersten Unisemester Dinge vorkommen, die man in der Schule für unüberwindbare Aufgaben hielt. Facharbeit? Abi-Kolloquium? Pah! Trotzdem hängt man ein bisschen an den Unterlagen - die Ordner symbolisieren den Wissensberg, den man sich erarbeitet hat. Sie sind die greifbaren Beweise, dass man sich das Ticket in die weite Welt rechtmäßig verdient hat.

Ich bin auf dem Land groß geworden. Da war Platz für all das, was ich zwar nicht in mein neues Leben mitnehmen, aber auch nicht wegschmeißen wollte. Stadtkinder haben diese Wahl seltener. Wenn sie aus der Wohnung ihrer Eltern ausziehen, erobern die schon aus Kostengründen schneller den Lebensraum zurück und machen aus dem alten Kinderzimmer ein „Büro“. Was nicht in das kleine Kellerabteil passt, wird an Verwandte verschenkt oder zu einer karitativen Einrichtung gebracht. Mit einiger Zeitverzögerung erobern aber auch in der Provinz die Eltern ihre fast abbezahlten Quadratmeter zurück. Schließlich hinterlassen die ausgezogenen Kinder eine Lücke, die auch sie irgendwie füllen müssen. Zur Not eben mit einem Bügelbrett, das sie vor die Pressspan-Schreibtisch-Regal-Konstruktion mit den Hanuta-Aufklebern stellen. Die Eltern kommen natürlich nicht auf die Idee, etwas falsch gemacht zu haben. Sie haben ja auch recht: Das Mitochondrien-Referat aus der neunten Klasse wird niemand mehr in die Hände nehmen. Wir schauen doch eh alles im Internet nach.
Das Kinderherz quetscht es trotzdem ein bisschen. Obwohl man selbst beschlossen hat auszuziehen, fühlt es sich fast wie ein Rausschmiss an. Die eigene Leistung und auch die eigene Vergangenheit wirken plötzlich so unwichtig, fast negiert. Und wenn die alten Sachen im Kinderzimmer bleiben, hat das ja auch was Beruhigendes. Man weiß, dass man im Notfall, wenn wirklich etwas Schlimmes passiert, zurück nach Hause kann. Unsere zurückgelassenen Sachen sind eine Art Rückversicherung, die man jedes Mal sehen kann, wenn man bei den Eltern zu Besuch ist.

Trotzdem: Fairerweise müsste man vernünftig ausmisten beim Auszug. Objektiv betrachtet, benutzt man sonst die elterliche Wohnung als Schrottplatz und verhält sich wie die berühmten drei Affen: Nichts hören, nichts sagen, nichts sehen. Das ist nicht fair. Außerdem hat es etwas Kathartisches, den alten Mist loszuwerden. Sich von den alten Schulsachen zu trennen ist befreiend - wie das Ausziehen selbst: sich endlich nicht mehr rechtfertigen müssen, wenn man mittags noch im Bett liegt. Morgens Chips essen können, ohne missbilligende Blicke. Selbst entscheiden! Überhaupt: neue Möbel, neue Wände, neue Leute. Der alte Scheiß? Den hat man achtzehn Jahre ertragen, aus den Augen damit!

Aufräumexperten raten allerdings, jeden Gegenstand in die Hand zu nehmen und so herauszufinden, welche Emotionen er hervorruft - nur Glücklichmacher dürfen bleiben. Das Stochastik-Buch ist bestimmt kein Glücklichmacher, oder? Am besten kramt man zusammen mit den Eltern. Was einem selbst unwichtig erscheint, ist für sie möglicherweise mit einer schönen Erinnerung besetzt. Außerdem tut es vielleicht auch gut, gemeinsam alte Zeiten Revue passieren zu lassen. Dann kann man wirklich leichtfüßig in das neue Leben starten. Und merkt zum Beispiel: Ich muss dieses grüne Heft gar nicht aufheben, ich denke auch so jedes Mal an Toni aus der Fensterreihe, wenn ich Enten sehe. Entschuldigung, ich meine natürlich: Antn.

Text: michele-loetzner - Foto: testfight / photocase.com

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