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Das Unbehagen des Sommers

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Es fängt mit dem Gefühl an, nicht angemessen vorbereitet zu sein. Zack, von 10 Grad auf 35 Grad, und alle haben es kapiert. Sie sind mittendrin: In der Isar, im Eisbach, in Röcken, in Bädern, in Gräsern liegend in den Himmel glotzend und daneben ein kühles Radler, und zwar um 14 Uhr 23. Als hätten sie alle plötzlich keine Terminkalender mehr, als würde das Wetter allein ihnen Atteste schreiben und im Sekretariat oder zumindest beim eigenen Gewissen anrufen: Der Sommer als wochenlanges urbanes Ausnahmefestival, zu dem alle rechtzeitig eingeladen wurden. Alle, außer mir.

Dass es vielleicht jeden Tag andere Leute sind, an denen ich auf dem Weg von hier nach da vorbeiradle und dass auch sie vielleicht gerade nur fünf Minuten Pause haben und dann irgendwohin zurückmüssen, wo nicht alles ganz so goldstaubig ist, kommt mir dabei nicht in den Sinn. Dass vielleicht überhaupt die Menschen, die in Büros oder hinter Cafétheken schwitzen, zahlreicher sind als die sechzehnjährigen Schule-aus-Kandidaten, das hat in meiner Wahrnehmung keinen Platz. Und so sind meine Sommer von einer ewig unerfüllt bleibenden Sehnsucht nach Sommer geprägt, von dem Gefühl, immer zu wenig abzukriegen und hinter all den Möglichkeiten zurückzubleiben, die alle anderen da draußen scheinbar im Überfluss wahrnehmen.

Natürlich haben alle vier Jahreszeiten diese Aktivitätsmöglichkeiten und -ansprüche, die sie auszeichnen und die man, je nach Interessenslage, abhaken muss, um das Gefühl zu kriegen, dabei gewesen zu sein. Im Herbst hat das mit großen Teetassen, Gummistiefeln, Laub und Nebel zu tun, Wolldecken und Kürbissuppen, im Winter mit Schneebällen und Wintersport, im Frühjahr mit Spargel, Tulpen und Übergangsjacken.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Und schon wieder verpasst: Der Sommer.

Was den Sommer aber so von den anderen Jahreszeiten unterscheidet und so kompliziert macht, ist die Tatsache, dass er so penibel wetterabhängig ist. Es muss zwangsweise alles genossen werden, was einigermaßen sonnig rüberkommt, weil man nie weiß, wie lange das hält. Eine sonnige Sekunde ungenutzt zu lassen fühlt sich an wie ein Versäumnis, das eventuell nie wieder gut zu machen ist. Denn im nächsten Jahr ist man ja vielleicht schon alt und schrumpelig, hat plötzlich ein Kind, wird vielleicht von der Eiszeit überrascht und dann zieht wieder ein Jahr ins Land und dann noch eins und noch eins und zack, so schnell wie einst der Sommer kam, den man versäumte, droht nun der Herbst der Lebens, dann der Winter, dann der Tod und der einzige perfekte Sommer, den man je erlebt hat, war der mit 12 in den Sommerferien.

Der Sommer ist die Kirsche auf der Torte des Lebens, der Sommer ist das ultimative Ziel, ich kenne niemanden, der sich jemals über den Sommer beschwert, es sei denn, er gebärdet sich winterlich. In keiner Jahreszeit gibt es soviel zu verpassen, wie im Sommer und das ist es, was ihn so schmerzhaft macht. Jedes kurze auf dem Rad von-hier-nach-da Fahren im Sommer ist eine Aussicht auf das, was man gerade nicht hat, aber auch gern hätte. Es ist wie ein Scrollen durch ein thegoodlife-Tumblrblog: Es beschleicht einen der Eindruck, alle anderen würden etwas Ganzes leben, während man selbst es nur hastig streift.

Das Schlimmste ist: Selbst wenn ich es dann endlich mal an den See oder in den Park schaffe, habe ich etwas vergessen oder ich habe plötzlich Durst oder muss aufs Klo, das nicht in der Nähe ist. Frage mich, ob ich nicht doch lieber hätte dahin fahren sollen, wo die Isar aussieht wie ein kanadischer Wasserfall oder lieber auf die Dachterrasse einer Freundin. Kann mich nicht für eine Lektüre entscheiden, habe doch keine Lust mehr rumzuliegen oder habe sonst irgendein Problem, das immer darauf basiert, dass sich das Hier und Jetzt nicht ansatzweise so groß anfühlt, wie meine Vorstellungen es mir versprochen hatten.

Ich bin dann traurig und denke: Das kommt davon, wenn ich alle meine Sommersehnsüchte auf diesen einen Ausnahme-Dienstag legen muss. Ich kann ihm gar nicht gerecht werden. Denn zum Sommer gehört Zeithaben, Tage im Sande verlaufen lassen, viel liegen, sonnenträge sein dürfen, die eigene Haut braun werden sehen, sich die Füße auf dem Asphalt verbrennen, Sonnenbrände einschmieren, nachglühen lassen und all das wirken zu lassen.

Nur im Sommer findet das richtige Leben statt, über das man sonst nur spricht, weil man es ersehnt oder sich daran erinnert. Und es ist nicht nur diese hochanspruchsvolle Genießersache, es ist auch das vermeintliche, fast schon medizinische Wissen, dass wer im Sommer nicht genug Wärme, Vitamin-D und schöne Erinnerungen sammelt, auch seelisch arm bleibt und im Winter schneller krank wird. Wie bei diesem Buch von Leo Lionni mit der Maus, die Farben für den Winter sammelt. Der Sommer ist der Ausgangspunkt allen Lebens, der Inbegriff des Lebens, die schlimmsten Horrorgeschichten handeln von Eiszeiten, lichtlosen Tagen. Den Sommer verpassen, das ist ein Gefühl, wie das ganze Leben zu verpassen. 

Text: mercedes-lauenstein - Foto: photocase.com / livepiccs.de

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