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Das 15-Punkte-Tiefkühlhuhn

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Noch ein Tag bis zur Abgabe und ich hatte einfach überhaupt keine Idee. Es war Sommer, es war die zwölfte Klasse und so ziemlich alles schien interessanter als der Kunstunterricht. Dabei war der Kunstlehrer niemand, der Wert auf feine Radierungen oder Ölpinselein legte. Eher der Typ Dadaist, der unkommentiert in Klausuren zum Rauchen nach draußen ging, um dann 90 Minuten nicht mehr gesehen zu werden. Somit war die Aufgabe auch keine Standard-"Malt ein Ensemble aus Brötchen mit Marmelade"-Aufgabe. Stattdessen sollten wir ihm etwas zum Oberthema "Kommunikation" per Post schicken. Das war's.

Während meine Freundinnen also aufwändige Brieftauben auf Origami-Art falteten oder Videobotschaften aufnahmen, vegetierte ich lustlos in der Hitze am Küchentisch vor mich hin. Es wurde Abend, die letzte Briefkastenleerung bei uns im Dorf nahte. Meine Mutter fragte besorgt, was ich denn nun abgeben werde - ich zuckte lustlos mit den Schultern und holte mir das dritte Snickers-Eis aus der Tiefkühltruhe.

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Illustration: Julia Schubert

Über die Ästhetik von Tiefkühlhühnern lässt sich streiten. Kunst sind sie trotzdem.

Und dort, zwischen Eiscreme und Fischstäbchen, fand ich die künstlerische Erleuchtung: ein Tiefkühlhuhn. Mit leichtem Gefrierbrand lag es da, die Flügelchen in Plastikfolie gequetscht. Euphorisch rannte ich mit dem Huhn in die Küche, schrieb vor den Augen meiner ver­dutzten Mutter "Brieftaube" auf einen Paketaufkleber und brachte es zur Post.

Wenige Tage darauf stand im Kunstunterricht die Notenvergabe an. Als der Lehrer bei meinem Namen ankam, sagte er mit angemessenem Ernst "15 Punkte". Später sagte er noch etwas von "Memento Mori" und stellte das Huhn vier Wochen lang in einer Glasvitrine in der Schule aus, wo es langsam und stetig die Origami-Hühnchen aufweichte. Insbesondere die anderen Kunstlehrer verzogen bei dem Anblick nur angewidert das Gesicht.

Für mich zog ich aus meinem 15-Punkte-Huhn die Lehre, dass die besten Ideen nicht besonders aufwändig sein müssen. Welche Idee hat dir in der Schulzeit mal den Hintern gerettet?


Text: charlotte-haunhorst - Bild: dpa

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